Nach der Darstellung der dynamischen und kontaktmechanischen Grundlagen und der ausführlichen Untersuchung des Stoßproblems unter verschiedenen Bedingungen stehen im folgenden Kapitel Anwendungsbereiche aus Physik, Technik und Medizin im Mittelpunkt, für die die in den früheren Kapiteln gezeigten Ergebnisse von Bedeutung sind.
Die Gebiete, in denen die gezeigten kontaktmechanischen Grundlagen und Lösungen von Stoßproblemen Relevanz haben, sind teilweise selbst riesige Forschungszweige, die in jeweils kurzen Unterkapiteln natürlich nicht annähernd erschöpfend dargestellt werden können. Der Stil des folgenden Kapitels unterscheidet sich daher von dem der früheren Teile dieses Buches: Die behandelten Themen werden nicht mehr umfassend und mathematisch detailliert entwickelt; stattdessen wird „nur“ beschrieben, welche Fragestellungen in welchen Anwendungsgebieten auftreten und wie man eventuell die in den früheren Kapiteln hergeleiteten Ergebnisse zur Behandlung dieser Fragen verwenden kann.
Die ersten beiden Teile des Kapitels sind der Schädigung von Systemen durch stoßartige Belastungen und stoßbasierten Testverfahren, z. B. zur Bestimmung von Materialeigenschaften, gewidmet. Der anschließende Block der Abschn. 8.3 und 8.4 beschäftigt sich mit granularen Medien – deren Dynamik durch eine Vielzahl einzelner Kollisionen bestimmt wird – und ihren astrophysikalischen Anwendungen. Zwei Unterkapitel zu den Themen Sport und Medizin beschließen den Hauptteil dieses Buches.
Diese Klassifikation möglicher Anwendungen der Mechanik von Kollisionen ist nicht immer eindeutig; Überschneidungen existieren unter anderem zwischen den Bereichen Sport und Medizin oder zwischen der theoretischen Beschreibung und den Anwendungen granularer Medien. Auch Testverfahren haben in der Regel einen bestimmten praktischen Hintergrund; so könnten Prüfverfahren zur Bestimmung der viskoelastischen Eigenschaften von Gelenkknorpel ebenso gut in dem Unterkapitel beschrieben werden, das sich medizinischen Anwendungen widmet.
Wer an mögliche Anwendungen von Stoßproblemen denkt, wird früher oder später bei der Auslegung von Schutzsystemen landen. Öffentliche, frei verfügbare Forschungsergebnisse zur Verbesserung von Schutzsystemen führen allerdings sehr wahrscheinlich in erheblichem Maße auch zur Verbesserung von Mitteln, diese Schutzsysteme zu durchbrechen. Forschung auf diesem Gebiet widerspricht daher der Zivilklausel der Hochschule, an der dieses Buch entstanden ist, der Technischen Universität Berlin, und wird entsprechend nicht in dem folgenden Kapitel behandelt.
8.1 Schlagverschleiß
Schlagverschleiß1 durch die fortgesetzte stoßartige Einwirkung mit Festkörper-Teilchen ist eine wesentliche Quelle der Schädigung von festen Oberflächen, beispielsweise im Bergbau [1]. Häufig sind dabei die erodierenden Partikel aus einem härteren Material als die Oberfläche und daher abrasive Verschleißmechanismen, wie Mikroschneiden und -pflügen, dominant. Es kommt aber auch zu plastischer Deformation, Ermüdung [2] und bei spröden Oberflächen zu verschiedenen Formen des Bruches. Bei sehr großen Stoßgeschwindigkeiten treten darüber hinaus hohe Blitztemperaturen im Kontakt auf [3], die die Festigkeit herabsetzen und chemo-mechanische Verschleißformen initiieren können.
Neben der umfangreichen Literatur zum Schlagverschleiß von Metallen und Keramiken gibt es mehrere Arbeiten zur entsprechenden Schädigung von Polymeren [4], Elastomeren [5], Faserverbundwerkstoffen [6] oder Thermoplasten [7]. Diese Materialklassen haben teilweise eigene Schadensmechanismen, die die Abhängigkeiten der Verschleißintensität von den Stoßparametern beeinflussen; in Faserverbundwerkstoffen spielt beispielsweise der Stoßwinkel relativ zur Orientierung der Fasern eine wesentliche Rolle [6].
Wegen der vergleichsweise einfachen Mechanismen des abrasiven Verschleißes gibt es mehrere theoretische Modelle für die Erosion einer festen Oberfläche durch einen Strahl harter Partikel, die gut mit experimentellen Ergebnissen in Einklang stehen2. Finnie [9] fasste den Verschleiß als reines Mikroschneiden auf. Beckmann und Goltzmann [10] verfeinerten diesen Ansatz, indem sie annahmen, dass für den Verschleiß neben der starken plastischen Deformation eine Scherbelastung der Oberflächenschicht vorliegen muss. Ellermaa [2] verglich verschiedene Theorien zum Schlagverschleiß mit experimentellen Versuchen und kam zu dem Schluss, dass die Vorhersagen der Theorie von Beckmann & Goltzmann – in leicht empirisch modifizierter Form – am besten mit den experimentellen Ergebnissen übereinstimmten. Molinari und Ortiz [3] führten FEM-basierte Simulationen des elasto-plastischen ebenen Stoßes von Stahlkugeln auf eine weichere Stahlplatte durch, verglichen ihre Ergebnisse mit den Beobachtungen von Hutchings et al. [11] der entsprechenden Stoß-„Krater“ und erzielten eine gute Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment.
Alle genannten Arbeiten beruhen (direkt oder indirekt) auf kontaktmechanisch mehr oder weniger rigorosen Beschreibungen des einzelnen Stoßproblems. Die Schwierigkeit liegt an dieser Stelle darin, dass man in der Regel das elasto-plastische Problem mit Reibung lösen muss, für das keine einfachen Modelle zur Verfügung stehen.
Grundsätzlich muss man zwischen dem Verschleiß duktiler und dem spröder Oberflächen unterscheiden. Bei spröden Körpern kommt es zu Beginn der Kollision nach der kurzen plastischen Phase zur Bildung radialer Risse, die die Festigkeit reduzieren [12]. In der Restitutionsphase bilden sich vermehrt laterale Risse, durch die das Material letztlich abgetragen wird [12]. Bei spröden Materialien tritt das Maximum der Verschleißintensität durch die Erosion bei vorgegebener Kollisionsgeschwindigkeit für den reinen Normalstoß auf, während das Maximum bei duktilen Werkstoffen in der Regel bei einem bestimmten schiefen Winkel liegt [8, S. 21].
Verbindet man das klassische Gesetz von Khrushchov und Babichev [13] für den abrasiven Verschleiß – nach dem die Verschleißintensität proportional zur Normalkraft und zur Gleitgeschwindigkeit ist – mit dem Reibgesetz von Amontons und Coulomb, ergibt sich ein energiebasiertes Verschleißgesetz, das für den abrasiven Verschleiß zuerst von Honda und Yamada [14] vorgeschlagen wurde und nach dem die Verschleißintensität proportional zur dissipierenden Reibleistung ist. Energiebasierte Verschleißgesetze sind bei der Untersuchung des Schlagverschleißes bereits erfolgreich eingesetzt worden [15, 16]; auch das Konzept der konstanten spezifischen Energie [8, S. 67] steht mit dieser Idee in Einklang. Dieses bezieht sich zwar auf die Energie der Partikel vor der Kollision, ist aber im Zusammenhang mit hoch-plastischen Stößen entstanden, für die die gesamte Energie während der Kollision dissipiert.
Das Elegante der energiebasierten Betrachtung besteht darin, dass zur Bestimmung des gesamten Verschleißvolumens nach der Kollision wegen Gl. (2.56) nur die beiden Stoßzahlen bekannt sein müssen; diese können für viele Konfigurationen in den vorangegangenen Teilen diese Buches nachgeschlagen werden. Die Form des Stoß-„Kraters“ ergibt sich in der energiebasierten Betrachtung aus der Verteilung der dissipierten Energie über das Kontaktgebiet während der Kollision. Für den elastischen Stoß mit Reibung wurde dieses Problem im Abschn. 6.3.1 bereits diskutiert.
8.2 Stoßbasierte Testverfahren
Rückprall- oder Fallgewichtsversuche sind einfache und schnelle Methoden, um die mechanischen Charakteristika von Probenkörpern zu ermitteln. Die zu untersuchenden Materialeigenschaften können dabei (aber müssen nicht unbedingt) mit dynamischen Lastkonfigurationen (z. B. hohen Deformationsgeschwindigkeiten) assoziert sein. Eine gute Übersicht zu experimentellen Verfahren für Untersuchungen mit hohen Deformationsgeschwindigkeiten bietet die Arbeit von Field et al. [17].
Außerdem kommen stoßbasierte Testverfahren zum Einsatz, wenn tatsächliche Kollisionen simuliert werden sollen, beispielsweise bei der Auslegung und Prüfung von Schutzhelmen.
8.2.1 Materialprüfung durch Rückprallversuche
Rückprall-Elastizität von Elastomeren
Rückpralltests verwendet man unter anderem als einfache Möglichkeit, Informationen über die rheologischen Eigenschaften von Elastomeren unter dynamischer Belastung zu erhalten. Die Stoßzahl – oder eine direkt daraus ableitbare äquivalente Größe wie die Rückprallhöhe – bezeichnet man in diesem Zusammenhang als Maß der „Rückprall-Elastizität“.
Es stellt sich die Frage, wie der einzelne im Rückpralltest bestimmte Wert – die Stoßzahl – im Allgemeinen von der ganzen komplizierten Rheologie des Elastomers abhängt. Ist es, mit anderen Worten, möglich, die gemessene Stoßzahl mit einer konkreten rheologischen Information in Verbindung zu bringen3?
Wie im Abschn. 5.4 gezeigt wurde, ist das tatsächlich der Fall: (Weitgehend) unabhängig von der konkreten weiteren Rheologie und dem Profil des Rückprallkörpers ist die Stoßzahl eine bestimmte Funktion des Verhältnisses zwischen Verlust- und Speichermodul bei der charakteristischen Zeitskala des Stoßes. Mithilfe der Gl. (5.56) und (5.61) lässt sich außerdem aus der Stoßdauer eine weitere Information über die beiden Moduln extrahieren. Deswegen ist durch den Rückpralltest der elastische Modul und die Viskosität des Elastomers auf der Zeitskala der Stoßdauer bestimmbar.
Man muss dabei allerdings bedenken, dass die im Abschn. 5.4 erhaltenen Ergebnisse unter vereinfachenden Annahmen zustande gekommen sind. Nicht berücksichtigt wurden beispielsweise die Wellenausbreitung (die gerade für weiche Materialien wie Elastomere sehr relevant sein kann) oder der Mullins-Effekt, also die Entfestigung einer Elastomer-Probe durch wiederholte Belastung.
Härteprüfung nach Leeb
Auch für metallische Proben kommen Rückpralltests zum Einsatz, in denen aus der Stoßzahl eines harten Rückprallkörpers auf plastische Eigenschaften – Fließgrenze oder Härte – der Probe geschlossen wird. Diese „Härteprüfung nach Leeb“ ist in den Normen DIN EN ISO 16859-1 bis DIN EN ISO 16859-3 geregelt.
Im Unterkapitel zum elasto-plastischen Normalstoß wurde dabei gezeigt, dass die Stoßzahl hauptsächlich von dem Verhältnis zwischen der Stoßgeschwindigkeit und der kritischen Geschwindigkeit – die zur Erzeugung plastischer Deformationen nötig ist – bestimmt ist. Allerdings spielt auch die Poissonzahl des indentierten Mediums eine (geringe) Rolle. Das Profil des Eindruckkörpers wurde in seinem Einfluss nicht genauer untersucht, ist aber vermutlich ebenfalls von Bedeutung, zumindest wenn der Körper scharfe Kanten aufweist, die wegen der auftretenden Spannungsspitzen das Fließverhalten verändern.
Dynamische Härtemessung nach Taylor
Taylor nahm an, dass sich die Probe starr-plastisch deformiert und untersuchte die Massen- und Impulserhaltung für den plastisch deformierten und den undeformierten Teil der Probe. Zur Schließung des entstehenden Gleichungssystems benötigt man allerdings eine Aussage über die Ausbreitungsgeschwindigkeit der plastischen Wellenfront. Jones et al. [20] vervollständigten diese elementare Theorie des Verfahrens durch die Annahme, dass diese Geschwindigkeit proportional zu der Geschwindigkeit des undeformierten Teils der Probe ist. Lu et al. [21] erweiterten die Theorie um die Berücksichtigung der Kompressibilität des Materials. Sarva et al. [22] führten vollständige FEM-basierte Simulationen des Tests mit einer Probe aus Polycarbonat durch.
Fallgewichtstests an Gelenkknorpel
Stoßartige Belastungen sind eine bedeutende Quelle der Schädigung von Knorpelgewebe4. Zum vertieften Verständnis der biomechanischen Reaktion des Gewebes auf die Belastung ist die Kenntnis der elastischen und viskoelastischen Eigenschaften des Gewebes eine unabdingbare Voraussetzung.
Zur Bestimmung dieser Eigenschaften kommen häufig Fallgewichtstests zum Einsatz. Die besondere Schwierigkeit besteht dabei in der empfindlichen Natur der Versuchsproben. Burgin und Aspden [23] publizierten daher einen speziellen Fallturm, um die Kontaktkräfte auf das Gewebe in dem Fallgewichtsversuch zu untersuchen. Diese Apparatur wurde später von Kang et al. [24] zur Analyse möglicher Kavitation in dem Gelenkknorpel während der Restitutionsphase weiterentwickelt. Zur theoretischen Beschreibung des Kontaktes verwendeten sie ein einfaches rheologisches Modell mit zwei Freiheitsgraden.
Ruta und Szydło [25] schlugen ein analytisches Verfahren vor, wie man aus den dynamischen Ergebnissen eines Fallgewichtstests mit einem elastischen Medium die statischen Moduln des Materials bestimmen kann. Mithilfe der dynamischen Fundamentallösung des elastischen Halbraums bestimmten sie die Verschiebungen des Mediums einer gleichförmig im kreisförmigen Kontaktgebiet verteilten harmonischen Normalkraft. Wie in den früheren Kapiteln dieses Buches dargestellt, ist die harmonische Näherung ein gutes Modell für die Normalkraft während der Kollision. Eine konstante Druckverteilung im Kontaktgebiet wird hingegen von einem sehr speziellen Eindruckkörper erzeugt (siehe [26, S. 23 f.]); ein Fallgewichtstest entspricht dagegen am ehesten einem zylindrischen Flachstempel mit der in Gl. (3.22) gegebenen Druckverteilung.
Der Normalstoß eines zylindrischen Flachstempels auf ein viskoelastisches Medium ist im fünften Kapitel dieses Buchs ausführlich dargestellt. Da der Flachstempel-Kontakt linear ist, ist die Behandlung durch ein einfaches rheologisches Modell durchaus berechtigt. Wie oben ausgeführt, hängt das Stoßverhalten linear-viskoelastischer Medien hauptsächlich von einem rheologischen Faktor ab, der das Verhältnis von Verlust- und Speichermodul bei der Zeitskala der Stoßdauer wiedergibt. Die Materialeigenschaften bei langsamer Belastung des Knorpels können sich daher wesentlich von denen in stoßbasierten Tests unterscheiden, wie Burgin et al. [27] demonstrierten.
Gelenkknorpel ist allerdings ein mehrphasiges, faserverstärktes, viskoelastisches Material. Einen großen Einfluss auf die viskoelastischen Eigenschaften von Knorpelgewebe hat beispielsweise bei langsameren Belastungen (mit charakteristischen Anregungsfrequenzen von bis zu 100 Hz) dessen Hydration. Eine größere Hydration führt dabei (etwas paradoxerweise) dazu, dass das Verhältnis von Speicher- und Verlustmodul wächst [28]; das Gewebe verliert dadurch an Fähigkeit, Energie durch viskose Deformationen zu dissipieren. Bei sehr schnellen stoßartigen Belastungen ist es dagegen unwahrscheinlich, dass der Flüssigkeitsanteil (als zweite Phase) Einfluss auf die Dissipation hat [29]. In diesem Fall sind daher mehrphasige Beschreibungen des Knorpelgewebes oft gar nicht notwendig.
Selyutina et al. [30] verwendeten ein quasi-lineares Kelvin-Voigt-Modell zur Beschreibung des Fallgewichtstests mit Gelenkknorpel und verglichen ihre Vorhersagen mit experimentellen Ergebnissen. Das Modell wurde kürzlich von Springhetti und Selyutina [31] verallgemeinert, um große Deformationen des Gewebes berücksichtigen zu können.
Pierce et al. [32] schlugen schließlich ein Mikrostruktur-basiertes Kontinuumsmodell zur Beschreibung der viskoelastischen und permeablen Eigenschaften von Knorpel-Gewebe vor, das die statistische Verteilung der Faserorientierungen in dem Material in Betracht zieht.
Fallgewichtstests an Straßenbelag
Auch zur Bestimmung der elastischen Eigenschaften von Straßenbelägen verwendet man Fallgewichtstests. Das Messprinzip ist dabei aber etwas anders, als bei dem oben erwähnten Fallturm zur Untersuchung von Knorpelgewebe5: In bestimmten Abständen von der Last, also dem fallenden Gewicht, misst man die Verschiebung der Oberfläche und schließt daraus auf die elastischen Moduln der Schichten des Straßenbelags [33] – siehe Abb. 8.3. Die Bestimmung dieser Verschiebung ist ein rein kontaktmechanisches Problem. Die Kontaktmechanik geschichteter Medien wurde zwar in dem vorliegenden Buch nicht behandelt, dazu existiert aber eine umfangreiche Literatur. In mehrerer Hinsicht sind diese Materialien außerdem mit den in diesem Buch behandelten Gradientenmedien verwandt.
8.2.2 Weitere stoßbasierte Testverfahren
Ein weiterer Bereich von stoßbasierten Testverfahren ist die Auslegung und Prüfung von Schutzhelmen, z. B. von Motorradfahrer*innen. Die Helmprüfung ist durch die europäische Norm ECE 22.05 reglementiert und umfasst unter anderem Stoßdämpfungswerte an einzelnen Punkten des Helms durch den Falltest.
Zur numerischen Simulation dieser Tests verwendet man in der Regel FEM-basierte Modelle [35]. Dabei hat sich herausgestellt, dass vor allem die bei einem hohen Reibungskoeffizienten zwischen Helm und Gegenkörper (Straße oder Fahrzeugkarosserie) auftretenden großen Winkelbeschleunigungen – die man schon mithilfe des in Abb. 2.2 gezeigten elementaren Modells verstehen kann – potentiell gefährlich sind [36].
8.3 Granulare Medien
Sand, Salz, Getreide, Bergbauprodukte – Granulare Medien sind aus unserer Umgebung kaum wegzudenken. Wegen der zahlreichen einzigartigen Eigenschaften granularer Materie prägten Jaeger et al. in ihrer klassischen Arbeit [37] den Begriff des „zusätzlichen Aggregatzustands“. Während diese Bezeichnung aus thermodynamischer Sicht natürlich fragwürdig ist – granulare Medien bestehen aus einer Vielzahl einzelner Festkörper-Körner – gibt es tatsächlich mehrere Dinge, in denen sich granulare Materie von „normalen“ Fluiden oder Festkörpern unterscheidet. Je nach der Belastung kann sie sich wie ein Gas, eine Flüssigkeit (wie in einer Sanduhr) oder ein geordneter Festkörper verhalten6. In jedem Fall ist das Verhalten dabei besonders.
8.3.1 Kinetische Theorie granularer Medien
Die kinetische Beschreibung von granularen Medien gehört zu den frühesten Versuchen, das Verhalten dieser Materialien systematisch zu analysieren. Lun und Savage [39] publizierten eine einfache kinetische Theorie für den Fall, dass sich das granulare Medium durch inelastische raue Kugeln konstituiert und die mittlere freie Weglänge zwischen den Kugeln sehr viel größer ist als der mittlere Kugelradius7. Eine sehr gute Zusammenfassung der zahlreichen Arbeiten aus den 80-er Jahren zur kinetischen und kontinuumstheoretischen Beschreibung granularer Materie bietet die Publikation von Campbell [40].
Ohne an dieser Stelle genauer auf die Bestimmung von D einzugehen, ist klar, dass D sich im Fall konstanter Stoßzahlen elementar durch diese Stoßzahlen ausdrücken lässt. Tatsächlich sind die Stoßzahlen aber, wie in früheren Kapiteln gesehen, grundsätzlich und nicht-trivial von den Stoßgeschwindigkeiten selbst abhängig, egal, ob man Viskoelastizität, Plastizität, Adhäsion, Reibung oder eine Kombination dieser Phänomene als grundlegenden Dissipationsmechanismus bei der Kollision betrachtet. Die Bestimmung der Jacobi-Determinante und damit die ganze analytische Entwicklung einer kinetischen Theorie granularer Medien wird deswegen durch die Geschwindigkeitsabhängigkeit der Stoßzahlen massiv erschwert.
Die meisten Arbeiten auf diesem Gebiet arbeiten daher unter der (aus kontaktmechanischer Sicht eigentlich unsinnigen) Annahme konstanter Stoßzahlen. Die Geschwindigkeitsabhängigkeit sorgt aber bei der Dynamik granularer Medien für mehrere qualitativ neue Effekte, wie in Abschn. 8.3.3 dargelegt wird. Die ersten Versuche, diese Abhängigkeiten in die kinetische Theorie zu integrieren, stammen von Walton und Braun [43] sowie Lun und Savage [44]. Brilliantov und Pöschel [45] gaben eine Reihenentwicklung der Jacobi-Determinante für den Fall glatter viskoelastischer Kugeln im Rahmen des im Abschn. 5.4 diskutierten Kuwabara-Kono-Modells an und untersuchten den resultierenden Abkühlungsprozess des granularen Gases.
Die Geschwindigkeitsabhängigkeit der Stoßzahlen berücksichtigen Forscher*innen inzwischen allerdings häufig im Rahmen der numerischen Simulation der Dynamik granularer Medien8, auf die im folgenden Abschnitt kurz eingegangen wird.
8.3.2 Numerische Simulation granularer Medien
Die kinetische und hydrodynamische Beschreibung granularer Medien beruht auf Annahmen, deren Erfüllung durch reale granulare Materialien alles andere als selbstverständlich ist. Beispielsweise verletzen dissipative Gase die Annahme von molekularem Chaos [48], d. h. die Verteilungsfunktionen der Zustände zweier Partikel des granularen Mediums sind nicht unabhängig voneinander.
In experimentellen Untersuchungen sind wiederum wesentliche Größen, wie die Positionen und Geschwindigkeiten einzelner Partikel, einer direkten Messung häufig unzugänglich.
Für eine umfassende und robuste Beschreibung der Dynamik granularer Medien sind daher numerische Simulationen unabdingbar (und sehr weit verbreitet), wobei in der Regel die Diskrete-Elemente-Methode (DEM) 9 zum Einsatz kommt. Zur numerischen Simulation der Dynamik granularer Medien gibt es eine sehr umfangreiche Literatur (siehe beispielsweise die Monografien von Pöschel und Schwager [49] und Zohdi [50]), außerdem stehen für dieses Problem flexible Software-Pakete wie LAMMPS zur Verfügung. Im Folgenden soll daher nur auf einige Punkte näher eingegangen werden, für die die in den vorherigen Kapiteln dieses Buches erhaltenen Ergebnisse von Bedeutung sein können.
Zeitgesteuerte DEM
Ereignisgesteuerte DEM
Wenn die charakteristische Stoßdauer zwischen zwei Partikeln sehr klein gegenüber der mittleren Zeit ist, die sich ein Element frei in dem granularen Medium bewegen kann, und die Wechselwirkungen daher in überwältigender Mehrheit aus binären Kollisionen bestehen (z. B. bei granularen Gasen), ist es nicht nötig, die Bewegungsgleichungen für jedes Element zu formulieren und in der Zeit zu integrieren. Stattdessen kann man die Dynamik des granularen Mediums als Folge instantaner Kollisionen (Ereignisse) auffassen, die durch die Angabe der (geschwindigkeitsabhängigen) Stoßzahlen vollständig beschreibbar sind. Das algorithmische Problem besteht dann „nur“ darin, die einzelnen Ereignisse zu planen und auszuführen; für diese Aufgabe publizierte Lubachevsky [52] eine sehr effiziente Lösung.
Dieses Verfahren ist ebenfalls in hohem Maße parallelisierbar (beispielsweise durch die Unterteilung des Simulationsraums in kleinere Einheiten) und arbeitet deutlich schneller als die zeitgesteuerte DEM. Außerdem wird das geschilderte Problem der Angabe von expliziten Kraftgesetzen für die Kontaktkräfte umgangen, da die Stoßzahlen (wie in dem vorliegenden Buch ausführlich dargestellt) auch in inelastischen Kollisionen oder solchen mit Reibung in allgemeiner Form bestimmbar sind.
Weitere numerische Verfahren
Neben der DEM kommen teilweise auch andere numerische Verfahren zum Einsatz, um die Dynamik granularer Medien zu untersuchen.
In Monte-Carlo-basierten Methoden (direct simulation Monte Carlo, DSMC) werden nicht mehr die Trajektorien der einzelnen Teilchen des Materials bestimmt, sondern die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsdichte für einen bestimmten Zustand des Gesamtsystems. Mathematisch läuft das auf die Lösung der Boltzmann-Gleichung (8.1) hinaus11. Dies ist in der Regel mit weiteren vereinfachenden Annahmen (siehe Abschn. 8.3.1), aber dafür auch mit einer deutlichen Effizienz-Steigerung gegenüber der DEM verbunden.
Außerdem setzt man sehr vereinzelt Mehrkörpersimulationen (MKS) und zelluläre Automaten zur Analyse ein.
8.3.3 Formen granularer Medien
Granulare Gase
Eine Portion granularer Materie kann durch ausreichend starke Anregung (beispielsweise mithilfe von Vibrationen, Gravitation oder Scherung) in einen Zustand gebracht werden, in dem die mittlere freie Weglänge so groß ist, dass die Teilchen nur durch einzelne, binäre Kollisionen wechselwirken. Diesen Zustand granularer Materie bezeichnet man als „Granulares Gas“12.
Die einzelnen Kollisionen in granularen Gasen sind auf komplexe Art und Weise und grundsätzlich mit Energiedissipation verbunden. Ein granulares Gas nicht-verschwindender Gesamtenergie besitzt deswegen niemals ein thermodynamisches Gleichgewicht.
Die Partikel, die das granulare Gas konstituieren, haben makroskopische Ausmaße und die Teilchenzahl in einem granularen System liegt mehrere Größenordnungen unter der Avogadro-Zahl. Einerseits wird dadurch die eventuelle Brownsche Bewegung der Partikel irrelevant, andererseits können Effekte, die in molekularen System nach der Mittelung über das statistische Ensemble verschwindend klein sind, in granularen Systemen durchaus eine Rolle spielen.
Außerdem gibt es in granularen Gasen wegen des makroskopischen Charakters der Teilchen keine klare Skalentrennung zwischen der charakteristischen Länge eines einzelnen Teilchens, mesoskopischen Längen „“, auf denen Gradienten kontinuierlicher (d. h. gemittelter) Größen definiert werden können, und der makroskopischen Länge des Gesamtsystems.
Insbesondere aufgrund des letzten Punktes ist fraglich, ob granulare Gase überhaupt auf der Grundlage kontinuumstheoretischer Modelle (beispielsweise hydrodynamischer Gleichungen) adäquat beschreibbar sind [53].
Da granulare Gase keinen Gleichgewichtszustand mit nicht-verschwindender Gesamtenergie besitzen, behilft man sich – wenn in der Thermodynamik des Nichtgleichgewichts der Gleichgewichtszustand, zu dem das System konvergiert, gebraucht wird, z. B. für Reihenentwicklungen in der Nähe des Gleichgewichts – in der Thermodynamik granularer Gase mit einem zuerst von Haff [54] betrachteten quasi-Gleichgewicht, in dem alle statistischen Größen homogen und isotrop verteilt sind und in dem das Gas durch die Energiedissipation in den Kollisionen kontinuierlich abkühlt.
Dieser in der englischen Literatur als „homogeneous cooling state“ (HCS) bezeichnete Zustand ist allerdings instabil, wie man sich durch ein einfaches thermodynamisches Argument klarmacht: Kommt es durch statistische Fluktuationen in einer Region des granularen Gases zu einer lokal erhöhten Teilchendichte, finden in dieser Region vermehrt Kollisionen statt. Durch die deswegen lokal erhöhte Energiedissipation sinkt der Druck und es werden weitere Teilchen in die Region gezogen. Das granulare Gas bildet daher Cluster [55].
Interessanterweise hängt diese Cluster-Bildung sehr stark von der Geschwindigkeitsabhängigkeit der Stoßzahlen ab. Kühlt das Gas an einem Ort durch die lokal erhöhte Teilchendichte schneller ab, wird die mittlere Geschwindigkeit der Teilchen in dieser Region kleiner. Wenn die Energiedissipation hauptsächlich aus der Inelastizität der Kollision stammt, steigt allerdings die Stoßzahl in der Regel bei fallender Geschwindigkeit, was die weitere Abkühlung und Cluster-Bildung bremst. Falls wiederum der Energieverlust während der Kollision hauptsächlich durch adhäsive Beiträge zustande kommt, sinkt die Stoßzahl mit kleiner werdender Geschwindigkeit und die Cluster-Bildung wird beschleunigt. Die langfristige Dynamik großer granularer Systeme unter der Berücksichtigung der Geschwindigkeitsabhängigkeit der Stoßzahlen ist daher ein interessantes und noch weitgehend offenes Forschungsproblem.
Dichte granulare Packungen
Wenn die mittlere freie Weglänge in einem granularen Medium sehr viel kleiner als der charakteristische Durchmesser der Partikel wird, geht das Material in einen gepackten „festen“ Zustand über. Den Übergang vom granularen Gas zur granularen Packung dokumentierten beispielsweise Falcon et al. [56] experimentell für den Fall von durch Vibrationen angeregten Stahl-Kügelchen.
Das Verhalten granularer Packungen ist ein komplexer Forschungszweig an der Schnittstelle von Bodenmechanik, Statistischer Physik und (in deutlich weniger präsentem Maß) Kontaktmechanik. Jede dieser Disziplinen hat einen eigenen Zugang zu dem Thema13, was eine einheitliche Darstellung schwierig macht.
Im statischen Fall bilden die Kontakte zwischen den einzelnen Partikeln des granularen Mediums ein Netzwerk von Kräften, das in aller Regel statisch unbestimmt ist. Wegen dieser Unbestimmtheit ist es eigentlich notwendig, die elastische (oder auch inelastische) Wechselwirkung im Kontakt korrekt zu berücksichtigen – und zwar sowohl für den Normalkontakt als auch, wegen der Reibung im Kontakt, für den Tangentialkontakt. Dies geschieht allerdings häufig nicht [58].
Granulare Ketten
Eindimensionale granulare Medien, oder granulare Ketten, werden häufig als Modellsysteme analysiert, um den mathematischen und numerischen Aufwand der Untersuchung zu reduzieren. Da mehrere der einzigartigen Eigenschaften granularer Materie hauptsächlich auf die Eigentümlichkeiten der Kontaktwechselwirkung zurückzuführen sind, kann man durch die Untersuchung eines eindimensionalen Modells oft zumindest ein qualitatives Verständnis der auftretenden Effekte erreichen.
In der klassischen Arbeit [60] untersuchte Nesterenko die quasistatische Ausbreitung von Störungen in einer dichten (vorgespannten) Kette elastischer Kugeln als ein Beispiel eines nichtlinearen dynamischen Systems. Wegen der starken Nichtlinearität des elastischen (Hertzschen) Kontaktes breiten sich die Störungen nicht in der Form harmonischer Wellen, sondern als Solitonen14 aus, da es für benachbarte Kugeln energetisch nicht sinnvoll ist, über längere Zeiträume relativ zueinander in gestörter Position zu verharren [61]. Diese Solitonen treten nicht nur in (Hertzschen) granularen Ketten auf15 und waren in den letzten 20 Jahren Gegenstand intensiver Forschung; untersucht wurde beispielsweise das Reflexionsverhalten an den Kettenenden [63], die Beeinflussung der Störungsausbreitung durch die Vorspannung [64] und der Einfluss der Plastizität [65]. Die genaue Form der Wechselwirkung in den einzelnen Kontakten beeinflusst dabei maßgeblich die Eigenschaften und die Ausbreitung der Solitonen.
Die Annahme einer konstanten Stoßzahl ist, wie oft genug in diesem Buch dargelegt, aus kontaktmechanischer Sicht wenig sinnvoll. Je nach der Art der Inelastizität (Plastizität, Viskoelastizität o. Ä.), sieht die optimale Massenverteilung der Kette daher unterschiedlich aus. Pöschel und Brilliantov [66] untersuchten den Fall viskoelastischer Kugeln im Rahmen des Kuwabara-Kono-Modells und stellten unter anderem fest, dass die optimale Massenverteilung in diesem Fall nicht monoton ist, sondern ein Maximum aufweist, da die Stoßzahl mit fallender Geschwindigkeit wächst.
8.4 Astrophysikalische Anwendungen
Ein sehr populäres Beispiel dynamischer granularer Medien sind die Ringsysteme der großen Gasplaneten, insbesondere des Saturn. Diese sind zum einen an sich ein interessantes astrophysikalisches Phänomen, zum anderen erhoffen sich Wissenschaftler*innen durch das Studium dieser Ringstrukturen Erkenntnisse über die Entwicklung unseres Sonnensystems in seiner Frühphase – als es selbst eine granulare, um einen massereichen Zentralkörper rotierende Scheibe war – insbesondere über die Planetenentstehung.
Die Saturnringe bestehen aus hauptsächlich Eis- und seltener Gesteinsteilchen, deren charakteristische Längen zwischen mehreren Mikrometern und einigen Metern betragen. Die Dynamik dieser Partikel ergibt sich aus dem Zusammenspiel der inelastischen Kollisionen und der Eigengravitation zwischen den Teilchen sowie der Gravitation des massereichen Zentralkörpers.
8.4.1 Kollisionsmodelle für Eispartikel
Eine Grundlage der Dynamik planetarer Ringe sind die Stöße zwischen den einzelnen Teilchen des Ringsystems. Der Zusammenhang zwischen den Stoßzahlen und den Kollisionsgeschwindigkeiten bestimmt dabei maßgeblich die Stabilität des Ringsystems, seine optische Dichte und seine Dicke [67].
Wegen der makroskopischen Gegebenheiten sind die relativen Geschwindigkeiten in diesen Kollisionen klein, höchstens wenige m/s und teilweise noch deutlich geringer [67]. In diesem Zusammenhang wurden daher in den 1980-er und 90-er Jahren, nach den Detailaufnahmen der Saturnringe durch die Raumsonde „Voyager 2“ im Jahr 1981, mehrere Versuche zu langsamen Kollisionen von Eiskugeln durchgeführt.
Man erkennt, dass das viskoelastische Modell und der Fragmentierungsansatz recht gut mit den Messergebnissen für glatte Eiskugeln in Einklang gebracht werden können. Allerdings besteht an dieser Stelle mit Sicherheit noch Bedarf nach präziseren theoretischen Modellen.
8.4.2 Dynamik der Ringsysteme
Wie bei anderen granularen Medien auch, verwendeten die frühen Versuche, die Dynamik planetarer Ringsysteme theoretisch zu beschreiben, kinetische und hydrodynamische Modelle. Aus hydrodynamischer Sicht führt die Energiedissipation in den einzelnen Kollisionen makroskopisch zu Reibung, bzw. zu einer Viskosität des Mediums. Da die Rotationsgeschwindigkeit wegen der Gravitation des Zentralkörpers nach außen abnimmt, führt diese viskose Scherung zu einem Transport von Drehimpuls nach außen [74].
Goldreich und Tremaine [75] bestimmten den Zusammenhang zwischen der Stoßzahl und der optischen Dichte für eine differentiell rotierende Scheibe von inelastisch kollidierenden Teilchen. Sie vernachlässigten die Eigengravitation der Partikel, nahmen an, dass die Geschwindigkeitsstreuungen normalverteilt sind, und stellten unter diesen Annahmen mithilfe der kinetischen Theorie fest, dass die optische Dichte im Allgemeinen mit der Stoßzahl wächst.
Borderies et al. [76] untersuchten die Ausbreitung und Dämpfung von Dichte-Wellen in einer rotierenden granularen Scheibe im Rahmen einer hydrodynamischen Beschreibung.
Bereits aus der kinetischen Beschreibung geht dabei hervor, dass planetare Ringsysteme anfällig für verschiedene radiale Instabilitäten sind [71] und deswegen in eine Vielzahl einzelner dünner Ringe zerfallen [77].
Diese Instabilitäten wurden seit den 1990-er Jahren auch verstärkt durch DEM-basierte numerische Simulationen genauer untersucht. Ein zentraler Baustein dieser Simulationen ist dabei die angemessene kontaktmechanische Modellierung des einzelnen Stoßprozesses.
Salo [78] untersuchte die Ausbildung von wirbelhaften Verdichtungen (sogenannten „wakes“) in den Ringsystemen des Saturn auf der Grundlage von Vielteilchen-Simulationen mit Eigengravitation und dissipativen Kollisionen. Für die Stoßzahl als Funktion der Geschwindigkeit verwendete Salo den in Gl. (8.11) gegebenen Zusammenhang von Bridges et al. und stellte fest, dass die genannten Wirbel – die schief zur orbitalen Bahn liegen und aus dem Zusammenspiel der Akkretion durch die Eigengravitation und der viskosen Scherung entstehen – im A- und B-Ring anzutreffen sein sollten. Diese Vorhersage bestätigten später Aufnahmen der Raumsonde „Cassini“ [79].
Ohtsuki und Emori [80] fanden heraus, dass eine hohe optische Dichte zur Bildung von gravitativen Instabilitäten und wakes führt. Daisaka et al. [81] stellten außerdem fest, dass die makroskopische Viskosität des Mediums durch diese Instabilitäten stark erhöht wird. Allerdings verwendeten beide Arbeiten in den numerischen Simulationen für alle Kollisionen eine konstante Stoßzahl.
Auf der Grundlage des Kollisionsmodells aus Gl. (8.11) untersuchten Salo et al. [82] numerisch die Bildung viskoser Instabilitäten, die ebenfalls durch hohe optische Dichten erzeugt werden. Ballouz et al. [83] studierten den Zusammenhang zwischen wakes und viskosen Instabilitäten. Sie stellten fest, dass Systeme aus Teilchen mit „glatten“ Oberflächen (d. h. wenig Reibung) zur Bildung von wakes tendieren, während die viskose Instabilität durch hohe Reibung zwischen den Partikeln begünstigt wird. Zur Modellierung der einzelnen Kontakte verwendeten die Autor*innen ein einfaches Feder-Dämpfer-Modell mit Reibung.
8.5 Anwendungen im Sportbereich
8.5.1 Ballsportarten
Ballsportarten17 sind ebenso vielfältig wie weit verbreitet. Die wissenschaftliche Untersuchung verschiedener Stoßprobleme im Bereich des Sports geschieht meistens vor dem Hintergrund, dass, gerade in Wettbewerbssportarten, die technischen Voraussetzungen (wie beispielsweise Bälle oder Schläger) für alle Spieler*innen durch Regeln standardisiert und vereinheitlicht werden sollen, damit nur die „reine“ sportliche Leistung über Sieg und Niederlage entscheidet. Von der Seite der Wettkämpfer*innen besteht dagegen das Interesse, sich trotzdem im Rahmen des Reglements einen möglichst großen technologischen Vorteil zu verschaffen.
Zahlreiche Arbeiten existieren zur Physik der Kollisionen beim Tennis [84], Baseball [85], Golf [86], Cricket [87] und Hurling [88]. Dies betrifft sowohl den Kontakt zwischen Ball und Boden als auch den zwischen Ball und Schläger. Beides sind im Allgemeinen ebene Stöße mit Reibung einer Kugel auf eine gerade oder leicht gekrümmte Unterlage.
Die meisten wissenschaftlichen Untersuchungen der Stoßdynamik im Sport sind dabei experimenteller Natur. Bei der theoretischen Analyse gelangen bisher Starrkörper-Modelle [89] und FEM-basierte Modelle [90] zur Anwendung18. An dieser Stelle bieten kontaktmechanische Modelle eine einfache, aber robuste „Zwischenlösung“, da Starrkörper-Modelle das dynamische Verhalten oft nur unzureichend erfassen19 und FEM-basierte Untersuchungen numerisch vergleichsweise aufwendig sind.
In den früheren Kapiteln stand die Kontaktmechanik massiver Körper im Mittelpunkt, die die Annahmen der Halbraumhypothese in ausreichender Näherung erfüllen. Aber inwieweit trifft das auf Sportbälle zu? Der Tennisball oder der Spielball beim Baseball deformieren sich während der Kollisionen sehr stark [93]; die meisten Sportbälle stellen außerdem anstatt eines massiven Halbraums eigentlich eine mit Luft gefüllte Membran dar, deren Indentierung durch einen festen Körper eine grundsätzlich andere kontaktmechanische Aufgabe bildet. Allerdings greift man zur Modellierung des Balls häufig trotzdem auf einfache lineare viskoelastische oder viskoplastische Elemente zurück [94]; das Verhalten viskoelastischer rheologischer Elemente (wie des Kelvin-Voigt-Modells) in Stößen ist dabei im fünften und sechsten Kapitel dieses Buches ausführlich dargestellt.
Ebenfalls von Cross [96] stammt der Vergleich des ebenen Stoßes unterschiedlicher Sportbälle auf eine starre Oberfläche mit den im sechsten Kapitel dargestellten theoretischen Vorhersagen von Maw et al. [97] für die Kollision mit einer elastischen Kugel. Die kontaktmechanische Theorie liefert dabei bessere Ergebnisse als entsprechende Starrkörper-Modelle, besonders gut ist die Übereinstimmung im Fall von Golfbällen (die den Annahmen der Halbraumhypothese auch vermutlich am nächsten kommen).
Bei der Interaktion zwischen Ball und Schläger kommen als die Analyse erschwerende Aspekte die Dynamik des Schlägers (einschließlich der Aktion der führenden Hand [98]) und beim Tennis die Kontakteigenschaften der Saiten-Bespannung hinzu.
8.5.2 Schutzhelme
Ein weiterer Forschungsbereich innerhalb des Sports, bei dem Kollisionen eine wesentliche Rolle spielen, ist die Auslegung von Schutzhelmen in Sportarten wie Football oder Eishockey. Diese Helme sind ebenfalls strikt reglementiert, um die Gesundheit der Spieler*innen bestmöglich zu schützen.
Die Sicherheitsstandards konzentrieren sich dabei vorrangig auf die Abfederung von translatorischen Beschleunigungen [99]; Schädelbrüche und ähnliche Kopfverletzungen sind dadurch in den fraglichen Sportarten selten. Dafür kommt es vergleichsweise oft zu leichten Schädel-Hirn-Traumata, wie beispielsweise Gehirnerschütterungen. Vor dem Hintergrund der im letzten Jahrzehnt verstärkten Diskussion möglicher neurologischer Spätfolgen von gehäuft auftretenden Gehirnerschütterungen ist daher die Frage, wie Schutzhelme ausgelegt sein müssen, um diese leichten Traumata zu vermeiden, in den wissenschaftlichen Fokus gerückt.
Eine kontaktmechanische Fragestellung ist dabei die Untersuchung der Wechselwirkung zwischen Stoßkörper und Helm sowie zwischen Helm und Kopf. Bei der theoretischen Analyse werden dabei in der Regel FEM-basierte Modelle verwendet [100].
Mehrere Studien kommen zu dem Ergebnis, dass laterale Stöße leichter zu Gehirnerschütterungen führen als frontale. Dies liegt einerseits an den auftretenden größeren Winkelbeschleunigungen um die Körperachse [101, 102]; andererseits führen laterale Kollisionen zu einer stärker lokalisierten Schädeldeformation und zu größeren Schubspannungen im Inneren des Gehirns [100].
8.6 Anwendungen in der Medizin
Nicht nur für Organe wie das Gehirn, sondern auch für Strukturen wie Knochen oder Gelenke stellen stoßartige Belastungen eine häufige und ernsthafte Schadensquelle dar. Als „stoßartig“ ist eine Last in diesem Zusammenhang nicht im Sinne der Kollision oder Einwirkung fester Teilchen zu verstehen, sondern als eine kurze Belastung mit sehr hohen Lastraten. So beträgt die Kraftänderung in Hüft- oder Kniegelenken bei einfachem Gehen bis zu 20 kN/s [103]. Beim Rennen steigert sich dieser Maximalwert noch einmal um den Faktor 10 [104].
Traumatische Belastungen von Gelenken führen dabei zu einem signifikant erhöhten Risiko, später an Arthrose des jeweiligen Gelenks zu erkranken [105]. Diese posttraumatische Arthrose betrifft häufig auch junge Erwachsene, für die ein künstliches Gelenk wegen der begrenzten Lebensdauer der Implantate – und der damit einhergehenden Notwendigkeit des erneuten Austauschs nach, in der Regel, etwa 15 bis 20 Jahren – keine wünschenswerte Therapieform darstellt. Was in diesem Zusammenhang als „traumatische Belastung“ aufzufassen ist, ist eine in den letzten 10 Jahren sehr aktiv untersuchte Forschungsfrage.
Zu deren systematischer Beantwortung belasten Forscher*innen Knorpelgewebe, in vivo oder in vitro, durch einen einzelnen tatsächlichen Stoß mit einem parabolischen oder zylindrischen Gegenkörper von gegebener kinetischer Energie, die durch eine gespannte Feder [106] oder eine Fallgewichts-Apparatur [23] aufgebracht wird. Mit der Ermittlung der mechanischen Eigenschaften von Gelenkknorpel durch stoßbasierte Testverfahren hat sich dabei bereits der Abschn. 8.2.1 dieses Buches auseinandergesetzt. An dieser Stelle soll daher nur kurz zusammengefasst werden, welche medizinischen Erkenntnisse sich aus diesen Experimenten ergeben haben und welche Stellung die entsprechende Biokontaktmechanik in diesem Zusammenhang einnimmt.
Es stellt sich die Frage, welche (einfachen) mechanischen Größen zur Charakterisierung der aus der stoßartigen Belastung folgenden Gewebeschädigung notwendig oder hinreichend sind. Eine schon längere Tradition hat dabei die Hypothese, dass die (vor dem Stoß vorhandene oder in der Kollision dissipierte) Energie am höchsten mit der Schädigung korreliert21 [104, 105]. So genügt ein einzelner Stoß mit einer Energie von , um lokal Arthrose-typische Gewebe-Degradierung zu initiieren [106]. Eine Energie von führt bereits zur Bildung von Rissen22 [108]. Traumatische Belastungen mit sehr hohen Energien können sogar tief im Inneren des Gewebes zur Rissbildung führen [105]. Außerdem wurde berichtet, dass die Lebensfähigkeit der Chondrozyten linear mit der Stoßenergie abnimmt [110]. Als kritische Schwelle für den maximalen Kontaktdruck während der Belastung publizierten verschiedene Autor*innen Werte zwischen 13 MPa [111] und 25 MPa [108]. Heiner et al. [112] untersuchten den Zusammenhang zwischen dem Frequenzspektrum der Kontaktkraft und akuten Verletzungen des Gewebes in Fallgewichtsversuchen und stellten fest, dass insbesondere die hohen Frequenzanteile mit der Gewebeschädigung korrelieren.
Bei großen Anregungsfrequenzen, beispielsweise durch Stöße, sind die zeitabhängigen Moduln von Gelenkknorpel nicht mehr deutlich kleiner als die des darunter liegenden Knochens [103]. Schwere stoßartige Belastungen führen deswegen eher zu einer Schädigung des Knochens als des Knorpels [103]. Ein geschädigter subchondraler Knochen stört in der Folge allerdings auch den Stoffwechsel des Knorpelgewebes [113].
Die bisher einzige Arbeit, in der die mechanische und biochemische Reaktion des Gewebes auf die stoßartige Belastung in einem gemeinsamen, gekoppelten mathematischen Modell untersucht wurden, ist die Publikation von Kapitanov et al. [114]. Die Autor*innen verwendeten zur Behandlung des Kontaktproblems ein FEM-basiertes Modell; das Knorpelgewebe modellierten sie dabei allerdings als linear-elastisches Medium. Dies ist eine sehr grobe Vereinfachung des tatsächlichen Materialverhaltens. Hier besteht also noch sehr viel Spielraum für kontaktmechanisch rigorosere Modelle; in diesem Zusammenhang sei abschließend auf die hervorragende Monografie von Argatov und Mishuris [115] zur Kontaktmechanik von Knorpelgewebe hingewiesen.
8.7 Zusammenfassung
Stöße treten häufiger in technischen, biologischen oder biotechnologischen Systemen auf, als man denkt. Da jede kurze Belastung mit sehr großen Lastraten „stoßartig“ ist, und es mithin keine Rolle spielt, ob sie zwischen unverbundenen Teilen eines Systems (wie bei klassischen Kollisionen) oder zwischen verbundenen Komponenten (wie bei Gelenken) auftritt, sind Stöße sehr allgemeine Prozesse, die in einer Vielzahl physikalischer, technischer oder medizinischer Anwendungen von Bedeutung sind.
Im vergangenen Kapitel wurde eine Auswahl dieser Anwendungen kurz diskutiert. Da jedes behandelte Themengebiet einen eigenen Forschungszweig darstellt, kann die Darstellung selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, auch nicht als Übersicht. Stattdessen war das Ziel dieses Kapitels, zu skizzieren, an welchen Stellen die in den früheren Teilen dieses Buches entwickelten Methoden und erhaltenen Ergebnisse für bestimmte Anwendungsgebiete relevant sein können.
Zunächst ist die einmalige oder wiederholte stoßartige Einwirkung auf die Oberfläche eines – organischen oder anorganischen – Materials eine Quelle von Schädigungen durch Verschleiß und Rissbildung. Da dabei häufig abrasive Mechanismen dominieren, kann man oft, sowohl für metallische Oberflächen als auch für Knorpelgewebe, einfache energiebasierte Verschleißgesetze formulieren. Die Energiedissipation bei der Belastung ergibt sich dabei direkt aus der kontaktmechanischen Stoßtheorie.
Andererseits sind stoßbasierte Tests einfache schnelle Verfahren zur Bestimmung von mechanischen Materialeigenschaften unter dynamischer Belastung. Sowohl für viskoelastische als auch für elasto-plastische Medien lässt sich dabei die in dem Versuch gemessene Stoßzahl, zumindest im quasistatischen Fall, mit einer bestimmten Materialkenngröße in Verbindung bringen.
Theorie und Anwendungen der Mechanik granularer Medien sind ein riesiges Forschungsgebiet, das wesentlich auf der korrekten Beschreibung der Wechselwirkung zwischen zwei Teilchen des granularen Materials beruht. Dabei spielt besonders die Geschwindigkeitsabhängigkeit der Stoßzahlen eine große Rolle, sowohl für die Komplexität der theoretischen Beschreibung als auch für die langfristige Dynamik des granularen Mediums.
Zur numerischen Simulation granularer Materialien bedient man sich oft der Diskrete-Elemente-Methode (DEM). In der zeitgesteuerten DEM muss man explizite Kraftgesetze für die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Elementen formulieren. Da mechanische Kontakte, z. B. durch Reibung oder inelastische Deformationen, allerdings von der Belastungsgeschichte abhängen, ist dies nur schwierig auf rigorose Art möglich. Dieses Problem kann für ausreichend dünne23 Systeme durch die Simulation entlang diskreter Ereignisse (Stöße) umgangen werden, die durch die Angabe der Stoßzahlen vollständig beschreibbar sind. Die korrekte Geschwindigkeitsabhängigkeit der Stoßzahlen ergibt sich wiederum aus der kontaktmechanischen Stoßtheorie.
Planetare Ringsysteme sind ein populäres Beispiel granularer Medien. Wie für alle granularen Systeme hängt die Dynamik und insbesondere die Stabilität der Ringe maßgeblich von der einzelnen Interaktion zwischen zwei Teilchen des Ringsystems ab. Zur Beschreibung dieser Interaktionen sind viskoelastische Ansätze und Fragmentierungsmodelle gut geeignet.
Im Sport treten relevante Kollisionen offensichtlich bei Ballsportarten auf. Sportbälle sind häufig gefüllte Membranen, die eine etwas andere Kontaktmechanik aufweisen als massive Körper. Allerdings verwendet man zur Charakterisierung ihrer Kontakteigenschaften oft rheologische Modelle, deren Kontaktmechanik in dem vorliegenden Buch ausführlich diskutiert wurde.
Aber auch in anderen Sportarten, wenn die Gesundheit der Spieler*innen durch stoßartige Einwirkungen, beispielsweise im Kopfbereich, gefährdet sein kann, ist das korrekte Verständnis des Stoßvorgangs eine wichtige Grundlage, unter anderem zur Auslegung von Schutzhelmen.
In Gelenken steigt durch traumatische Belastungen und damit einhergehende Schädigungen des Knorpelgewebes das Arthrose-Risiko. Die biomechanische Reaktion des Gewebes auf die stoßartige Belastung besteht aus einer mechanischen und einer daraus resultierenden biochemischen Antwort. Zur Beschreibung des mechanischen Aspekts ist eine saubere Beschreibung der Kontakt-Wechselwirkung eine unabdingbare Voraussetzung.
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