Kapitel 4 - Bastian - Falsche Freunde
Freitag, 7. Dezember 2018
Ich muss wirklich vollkommen bescheuert sein.
Als ich die Klingel des frisch sanierten Altbaus betätige, zittere ich trotz Schweißausbruch, als wäre ich ein kleiner Grundschüler, der seinen Eltern einen traurigen Smiley im Mitmach-Muttiheft zeigen muss. Der brummende Ton der elektrischen Türöffnung summt durch meine Ohren, also öffne ich den Hauseingang und steige die alten Holztreppen hinauf.
Ich kann immer noch kaum glauben, dass ich an diesem wunderbar verschneiten Freitagabend tatsächlich kurz davor bin, über Stunden hinweg Schmerzen zu ertragen! Und wofür, frag ich mich?
Mal ehrlich! Das werden nicht nur solche leichten Popoklatschpupischmerzen, einem frottierten Pelzpäddelchen geschuldet, sondern echte, richtig fiese Qualen! Und das Schlimmste an dieser hirnverbrannten Sache ist, dass ich es auch noch mehr oder weniger freiwillig tue!
‚Warum? Ja, warum tue ich das? Wieso bin ich so dermaßen beknackt?‘
Ich klopfe an der Wohnungstür im dritten Stock und nur wenige Sekunden später steht der Grund für meine leichtsinnige Idiotie leibhaftig vor mir.
„Hi, Bazz“, begrüßt mich der Bulle mit seiner tiefen Stimme überraschend freundlich und grinst mich von oben herab an, während ich kein Wort herausbekomme.
‚Ja ... wegen dieses attraktiven, muskelbepackten Kurzbartträgers mach ich die ganze Scheiße! Und das eigentlich nur, weil ich mit ihm per du sein will. Ich sag’s ja, vollkommen bescheuert! Warum hab ich nicht einfach meine Sachen gepackt und bin von hier abgehauen?‘
„Da habt ihr mich ja schön reingelegt!“, plaudert er weiter und sieht in seiner lockeren, grauen Jogginghose und seinem schwarzen Achselshirt gar nicht mehr nach Beamtengeier aus. Vor allem das Tattoo, das unter seiner Achsel auf dem Rippenbogen prangt, bricht dieses Bild. Er ist ein wenig verschwitzt ... oder hat er gerade geduscht? Sein markantes Gesicht zeigt zu meiner Überraschung einen ganz weichen, liebevollen Ausdruck. „Hey, alles okay? So schweigsam bist du mir richtig unheimlich.“
„Äh ... ja, ich ... ähm ... nein, also ... hi!“, stottere ich mir zusammen und möchte gleichzeitig im Erdboden versinken, doch Herr Weidner lässt mich in die Wohnung und nimmt mir sogar die Jacke ab. Der herbe Duft seines Duschgels steigt mir in die Nase. Und als ich dann auch noch einen Tropfen beobachten kann, der ihm aus seinen nassen Haaren übers Gesicht läuft, muss ich mich arg zusammenreißen, den nicht von seiner Wange zu lecken.
„Ich war wirklich überrascht zu hören, dass Johanna und du befreundet seid. Wie lange kanntet ihr beide euch denn schon, bevor ihr euch diesen kleinen Scherz ausgedacht habt?“
„Öhm ... “
Augenblicklich ereilt mich der nächste Schweißausbruch, denn ich habe ja keine Ahnung, was Johanna ihm im Detail erzählt hat! Glücklicherweise höre ich just in diesem Moment, wie sie in den Flur ruft: „Kein Verhör, Dad!“ Gleich darauf kommt sie mich retten.
„Ich hab ihn doch nur interessehalber was gefragt“, redet sich ihr Vater leicht verlegen raus.
„Ja, genau“, motzt Johanna, packt meinen Arm und will mich offenbar mit sich zerren. „Wenn du mich nicht vorher exakt das Gleiche gefragt hättest, die Antwort also schon kennst , würde ich dir vielleicht sogar glauben! Aber das hier nennt man Aussagen abgleichen , Dad! Uncool!
„Ja, ja, ist gut. Ich lass euch in Ruhe“, gibt er sich geschlagen und dreht ab.
„Ähm ... Herr Weidner, warten Sie!“ Schnell reiße ich mich los und laufe ihm hinterher. „Ich hoffe, Sie hatten keinen Ärger wegen mir“, setze ich zu einer Entschuldigung an, sobald er sich verwundert umdreht, aber ich bin nicht wirklich gut in so was.
„Du kannst ruhig Marcus zu mir sagen, sonst fühle ich mich so alt“, reagiert er mit leicht kratziger Stimme und stupst mein Kinn mit seinem Fingerknöchel an, als würde er mich minimal rügen wollen. „Und nein, alles gut. So im Nachhinein betrachtet, finde ich unsere kleine Verfolgungsjagd sogar eher lustig, also mach dir deshalb keinen Kopf.“
„Okay ... danke.“ Ob das so ganz der Wahrheit entspricht? Dafür, dass er es lustig findet, hat er beim Versuch, mich einzufangen, auf jeden Fall ziemlich viel geflucht. Überhaupt bin ich überrascht, dass er die Sache so locker zu nehmen scheint, doch gleichzeitig macht er den Eindruck, als wolle er mich etwas Wichtiges fragen, was er jedoch nicht tut.
„Na dann viel Spaß beim Zocken, ihr zwei“, ist alles, was er noch hervorbringt, ehe er in das spärlich dekorierte Wohnzimmer geht, ein paar leere Kartons beiseitestellt und sich dann, augenscheinlich erschöpft, vor den Fernseher fläzt.
‚Wie gern würde ich mich jetzt einfach neben ihn kuscheln ... Ist das da eine Regenbogendecke auf dem Sofa?‘
„Komm schon!“ Johanna ist uns hinterhergestapft, zerrt mich nun ungeduldig mit sich, schließt ihre Zimmertür hinter uns ab und dreht grausam nervtötende Technomusik auf. Am liebsten würde ich sie gerade erwürgen – aus mehreren Gründen!
„Hättest du mich nicht vorher mal in dein Lügengeflecht einweihen können?“
Sie vergräbt jedoch nur achselzuckend die Hände in die große Fronttasche ihres Markensweaters. „Wie denn? Hab ich deine Handynummer?“
„Indem du mich vor dem Haus abgefangen hättest, vielleicht? Ach was soll’s, drauf geschissen. Also lass uns loslegen, bevor ich es mir doch noch anders überlege. Ich bin frisch geduscht, wie du es wolltest. Hab mich extra dafür in die Jungsumkleide der Turnhalle meiner alten Schule geschlichen.“
„Super“, antwortet sie nur gleichgültig und zeigt nach links. „Zieh dich obenrum aus und leg dich aufs Bett!“
Ich schaue mich kurz um und stelle fest, dass es hier fast noch chaotischer aussieht als in meiner Bude. Man sieht natürlich, dass sie gerade erst eingezogen sind, und ihre Metallic-Look-Möbel scheinen relativ neu zu sein, aber in allen offenen Fächern und Ecken herrscht Chaos. Na ja, zumindest entdecke ich ein paar Softdrinks und Chips auf ihrem Beistelltisch neben dem Bett. Würde mich nicht mal wundern, wenn ihr Daddy die für uns besorgt hat.
‚Wenn der wüsste, dass ich viel lieber auf seinem Schoß säße, als im Bett seiner Tochter zu liegen ...‘
Ich ziehe mir den löchrigen Pulli samt Shirt über den Kopf und öffne meine grün-schwarz karierte Hose. Dabei mustere ich die auf dem Couchtisch entdeckten, bereitgelegten Utensilien.
‚Oh Mann, jetzt geht’s ans Eingemachte. Das wird so höllisch wehtun!‘
Bevor ich mich jedoch hinlege, muss ich wenigstens wissen, was sie genau machen will, sonst sterbe ich vor Ungewissheit. „Hast du ein Bild oder irgendwas als Vorlage?“ Johanna trinkt gerade einen Schluck Cola und nickt deshalb nur, ehe sie mir wortlos einen Zettel reicht. „Echt jetzt? Das ist ein Mandala !“
Sie tritt auf ein Fußpedal und die stiftartige Tätowiermaschine, die sich nun in ihrer Hand befindet, fängt an zu summen. „Genau genommen ist es eine Sonnengrafik , aber ja, der Stil ist ähnlich. Fürs erste Mal wollte ich was Einfaches machen. Etwas mit klaren Linien, das mich entspannt.“
Super ! Na Hauptsache du kannst dich dabei entspannen . Ich hab den Scheiß für den Rest meines Lebens auf dem Rücken!“
Sie setzt sich auf ihren Schreibtischstuhl und scheint mit ihren Vorbereitungen fertig zu sein. „Wenn du abhauen willst, dann geh! Ansonsten halt die Klappe und lass mich jetzt an dir üben, so wie abgemacht.“
Zähneknirschend lege ich mich hin. Sofort sprüht sie mir irgendein eiskaltes Spray auf den unteren Rücken, klatscht das Transferpapier mit der Vorlage drauf und zieht es ab, woraufhin meine Nervosität steigt. „Hast du dir wenigstens ein paar Tutorials dazu angesehen?“
„Natürlich!“, mault sie entrüstet und schmiert mich mit Vaseline ein. „Außerdem ist das ein Cheyenne Hawk Pen ! Mit dem kann jeder Idiot tätowieren!“ Sie tunkt diesen in ein schwarzes Farbtöpfchen, lässt ihn erneut summen, um die Farbe aufzuziehen, und legt danach ohne Umschweife los.
Erst zucke ich zusammen, doch dann ist der Schmerz tatsächlich auszuhalten und ich frage mich, warum ich davor solche Angst hatte.
„Hey, das ist gar nicht so schlimm. Wo hast du das Maschinchen her?“
Hochkonzentriert malt Johanna weiter und murmelt dabei vor sich hin. „Das ist ein ziemlich gutes chinesisches Plagiat. Mein Dad und seine Kollegen haben eine ganze Wagenladung davon bei einer Razzia beschlagnahmt. Die Händler hatten weder eine Zulassung, noch zahlten sie Steuern. Demnach bekommen sie das Zeug eh nicht zurück, und nach Prozessende wird es auch nicht versteigert, sondern vernichtet. Deswegen hat er unauffällig eine volle Tasche abgeknapst, ehe sie die anderen in die Asservatenkammer geschickt haben. Einer seiner ... Freunde ist Tätowierer, dem hat er den Kram geschenkt. War ziemlich easy für mich, vorm Umzug eins der Komplettsets zu mopsen.“
Eigentlich müsste ich entrüstet sein, dass sich der feine Herr Saubermann widerrechtlich bereichert hat. Andererseits ... Bevor das Zeug geschreddert wird, soll es doch lieber jemand kriegen, der es wirklich gebrauchen kann, und ich bin mir ziemlich sicher, dass nur ein Bruchteil von beschlagnahmten Gegenständen tatsächlich vernichtet wird. Bullen sind eben auch nur Menschen.
„Hey, stört’s dich, wenn ich ein bisschen penne?“, erkundige ich mich, denn das monotone Surren ist ermüdend. „Unser Ofen zieht nicht mehr richtig, deshalb hab ich die Nacht ganz beschissen geschlafen.“
„Klar, mach. Solange du nicht schnarchst.“
***
Drei Stunden später.
Ich war wirklich ein Vollidiot zu glauben, dass der Schmerz so aushaltbar bleiben würde und ich tatsächlich dabei schlafen könnte! Je öfter Johanna in denselben Stellen auf meinem Rücken herumrührt, desto schneller steigert sich auch der Schmerzpegel. Zwischendurch legt sie die Maschine auf ihrem Kramtisch ab, futtert ein paar Chips, trinkt was und macht dann weiter. Mir ist der Hunger vergangen, auch wenn sie mir nicht einmal was angeboten hat. Am schlimmsten ist jedoch diese andauernde Taschentuchwischerei über meine wunde Haut, die nur von ihren ständigen „Hups!“-Ausrufen übertroffen wird. Überall auf dem Boden liegen blutverschmierte Zellstofftücher, die sie mittlerweile mehrmals benutzt, weil sie keine mehr hat. Mich durchziehen derweil minütlich Schüttelfrostwellen, ich schwitze und mein ganzer Rücken puckert.
„Mädel ... ich kann nicht mehr!“, wimmere ich und merke, wie mir immer öfter die Luft wegbleibt, aber Johanna tätowiert unbeirrt weiter.
„Ja doch! Nur noch vier oder fünf Striche, dann bin ich fertig.“
Ich japse immer lauter, denn in der Zwischenzeit fühlt sich jede Linie an, als würde sie mich mit einer stumpfen Glasscherbe aufschneiden. Es tut höllisch weh und allein bei dem Gedanken an meinen verkeimten Schlafsack daheim bekomme ich nun richtige Angstzustände.
Plötzlich klopft es energisch an der Zimmertür und Marcus’ Stimme ist zu hören: „Hey! Alles klar bei euch? Macht ihr bald Schluss?“
Leicht panisch ruft meine Peinigerin: „Ja! Sind gleich durch mit dem Spiel!“
„Okay.“
Er muss mein Gejammer gehört haben und ich glaube, ich will gar nicht wissen, was er denkt, was wir hier treiben. Hastig zieht Johanna die letzten Linien, schmeißt die Maschine dann so, wie sie ist, in einen Schuhkarton und flüstert mir zu: „Los, komm hoch, ich will noch Fotos machen!“
Mühsam rapple ich mich auf, doch ich muss mich am Bettgestell abstützen, weil mir sofort schwindelig wird. Ist da überhaupt noch Haut auf meinem Kreuz? Es fühlt sich an, als wäre von meinem Steißbein bis zum Nacken alles eine einzige offene Wunde, und bei jeder Bewegung muss ich mir einen Aufschrei verkneifen. Wenn ich mich zu weit vorbeuge, platzt garantiert mein ganzer Rücken auf und ich mache den Blutadler!
Blitzlichtgewitter folgt, dann schmiert mir Johanna eine Salbe auf meine lädierte Haut, die das Brennen aber nur noch verstärkt, und umwickelt meinen Oberkörper schließlich mit Frischhaltefolie, als wäre ich eine blutende XXL-Frühlingsrolle.
„Lass daheim Luft dran und creme dich regelmäßig ein. Hier, die Salbe schenk ich dir.“
Wie fürsorglich . Soll ich mich jetzt bedanken? Und die Sache mit unserem kaputten Ofen scheint sie auch schon wieder vergessen zu haben.
„Kann ich wenigstens mal ein Foto sehen?“, frage ich keuchend, aber sie drückt gleich ihr Handy an die Brust und schüttelt ablehnend den Kopf.
„Lieber nicht.“
‚Klasse! Das sagt wohl alles.‘
Johanna hilft mir hastig in die Klamotten, doch ich bewege mich wie ein Schwerbehinderter und jaule wie ein angeschossener Wolf. Geile Kombi! Danach bugsiert mich meine sadistische Gastgeberin zügig aus ihrem Zimmer. „Komm gut nach Hause und bis bald!“, verabschiedet sie sich knapp, zieht mir die Tür vor der Nase zu und das war’s. Schließlich hat sie ja jetzt, was sie wollte.
„Äh ja ...“, erwidere ich zitternd, weiß erst gar nicht, wo ich lang muss, und wanke nach kurzer Orientierungslosigkeit durch den langen Flur. Als ich am Wohnzimmer vorbeikomme, flüstere ich Marcus ein brüchiges „Auf Wiedersehen“ zu und stütze mich dabei am Flurschränkchen ab. Johannas Vater dreht sich um und lächelt.
„Auf Wiederseh-“ Plötzlich verstummt er, starrt mich an, als würde er einen Geist sehen, und setzt sich alarmiert auf. „Hey, Kleiner, ist alles okay? Du bist so blass?“
„Ja ... geht schon!“, lüge ich und öffne die Wohnungstür. „Also ... bis irgendwann.“ Beim Rausgehen sehe ich ihm wahrscheinlich einen Moment zu lange oder zu hilfesuchend in seine jadegrünen Augen, denn auf einmal springt er auf.
„Bazz, hast du getrunken? Du schwankst, als stündest du auf einem Fischkutter.“ Schon steht er vor mir, hebt mein Kinn an und schnüffelt an meinem Mund. Diese plötzliche Nähe schickt eine neue Hitzewelle durch meinen Körper und lässt mich die puckernden Schmerzen fast vergessen.
„Nein, nein, ich ... ich bin nur müde“, rede ich mich heraus, doch er lässt sich nicht täuschen und zieht kritisch die Augenbrauen zusammen, obwohl er keinen Alkohol riecht.
„Na schön, trotzdem kannst du unmöglich in dem Zustand zu Fuß gehen! Ich fahre dich.“
***
Ich bin unglaublich dankbar, nicht laufen zu müssen. Laut dem Wetterbericht, den ich beim Bäcker gehört habe, sind es heute Nacht minus fünfzehn Grad und mit hundertprozentiger Sicherheit wäre ich auf der Strecke irgendwann ohnmächtig geworden und in einem Graben gelandet. Stattdessen beuge ich mich die ganze Fahrt über nach vorne, damit mein Rücken bloß nicht das Polster berührt, aber ein gequältes Wimmern kann ich mir nicht gänzlich verkneifen. Im Autoradio läuft Musik. Wir reden nicht, doch Marcus sieht immer wieder beunruhigt zu mir rüber und ich spüre, dass er mich am liebsten mit Fragen löchern würde.
Als wir vor meiner Abrissbude ankommen, will ich mit einem schlichten „Danke“ aussteigen, er aber verriegelt plötzlich die Tür und schaltet den Motor ab.
„Was habt ihr in Johannas Zimmer gemacht?“
„Gezockt“, lüge ich erneut, denn ich weiß genau, wenn ich ihm die Wahrheit sage, war alles für die Katz und der Deal mit seinem feinen Töchterchen ist auch geplatzt.
„Bazz, du benimmst dich wie ein geprügelter Hund!“ Er seufzt und legt mir auf einmal behutsam seine Hand auf den Oberschenkel. „Komm schon, rede mit mir! Ich hab dein Stöhnen gehört, okay? Ich glaube, ich weiß, was ihr getrieben habt, und es ist auch in Ordnung! Ihr seid jung, wollt euch erkunden und so ... aber wenn ihr Sex hattet, darf es keinem von euch danach so schlecht gehen, verdammt! Soll ich mit deinen Eltern sprechen oder dich ins Krankenhaus fahren?“
‚Oh Mann, ist der süß.‘
„Ich ... ich hab keine Eltern mehr und nein ... wir hatten keinen Sex“, antworte ich ihm zum ersten Mal wahrheitsgemäß. „Meine ... Anmache an Sie war kein Scherz ... ich stehe wirklich auf Männer.“ So langsam spüre ich, wie mir schwindelig wird und ich immer mehr die Kontrolle über meine Sehkraft verliere, was mir unglaubliche Angst macht. „Genau genommen sind wir nicht mal Freunde“, platzt es schließlich aus mir heraus, denn meine Nerven flattern immer mehr und ich bin kurz davor zu heulen. „Ins Krankenhaus kann ich nicht. Ich hab keine Krankenversicherung! Ich ... ich will einfach nur noch ins Bett.“
In Marcus’ Gesichtsausdruck mischt sich immer mehr Mitleid mit echter Sorge. „Ich verstehe“, sagt er leise und fährt sich ratlos durch die dunkelblonden Haare. „Hör zu, ich werde es niemandem erzählen und dich auch nicht verurteilen, aber bitte sag mir, warum es dir so schlecht geht! Habt ihr SM-Spielchen gemacht? Oder Drogen genommen?“
So langsam wird mir klar, dass er mich nicht gehen lässt, bevor er eine Antwort hat. Aufseufzend ziehe ich also meine Oberteile hoch und kehre ihm wortlos den Rücken zu.
Marcus schnappt entsetzt nach Luft. „Was zum – ...!!! Ihr habt euch tätowiert ? Woher -“ Er bricht ab und scheint sich an die Razzia zu erinnern, doch bevor er sich nur noch mehr aufregt, kläre ich ihn auf, während ich meine Sachen wieder ordne.
„Keine Sorge, Johanna hat nur mich gehackt, nicht ich sie. Sie hat mir angeboten, die Angelegenheit mit Ihnen zu bereinigen , wenn ich ihr dafür als Übungsobjekt zur Verfügung stehe. Das ist alles. Es tut mir leid. Ich ... ich werde Sie und Ihre Tochter nie mehr belästigen.“ Dass mir bei dem letzten Satz eine Träne über die Wange kullert, kann ich nicht verhindern, wische sie aber, so schnell es geht, weg und versuche, die Verriegelung der Tür zu öffnen.
Plötzlich zieht mich Marcus vollkommen unerwartet an seine Brust und umarmt mich, ohne meine Wunden zu berühren. „Du belästigst uns nicht!“, wispert er und bei jedem Atemzug rieche ich den Duft seiner Haut, gemischt mit seinem herben Duschgel. Ich spüre seinen kraftvollen Herzschlag und versinke in diesem liebevollen Griff, in dem ich beinahe wegdämmere. Für einen Moment scheint die Zeit stehen zu bleiben, zumindest so lange, bis er mich loslässt. Dabei streift meine Wange über seinen gestutzten Bart und ich schaffe es, zu ihm aufzuschauen, nur wenige Millimeter von seinem Mund entfernt, den ich so gerne mit meinen Lippen berühren würde. Leider fehlt mir die Kraft dazu.
„Mach dir keine Sorgen!“, flüstert Marcus und streicht mir die Haare aus dem Gesicht. „Ich fahre dich jetzt ins Krankenhaus und kümmere mich um alles! Du wirst schon wieder!“
„Aber ... das ... das kann ich nicht bezahlen“, keuche ich und bin am Ende meiner Kräfte, aber er schüttelt den Kopf.
„Mach dir deswegen keine Gedanken! Die Ärzte müssen dich behandeln, das nennt sich Hippokratischer Eid , und die Sozialhilfe wird die Rechnung übernehmen. Falls nicht, tue ich es.“
Er lässt mich los und die Wärme seines Körpers verschwindet. Der Wagen rollt wieder auf die Straße, während ich bereits nicht mehr fähig bin, die Augen offen zu halten. Das Letzte, was ich noch spüre, ist, dass mein Herz rast, Hitze- und Kältewellen sich abwechseln und mir das Atmen schwerfällt.
Dann verliere ich das Bewusstsein.