Konstanze nahm die Leinen auf. Ohne die Stimme zu erheben, lenkte sie das Fahrzeug die sanfte Anhöhe zwischen den kahlen Bäumen hinunter und bog auf einen angrenzenden Waldweg ein. Der Boden war hier weniger steinig, was gut für Edgar war. Sein empfindlicher Körper spürte jeden Kiesel.

Westwärts, ins Erzgebirge, dachte Moritz, bis sie den Be­­schwips­ten Pfaffen erreicht hatten, den Berg, auf dessen Fels­nase die Wesselburg thronte. Hoffentlich klappte es diesmal.

Zu ihrer Rechten glitten die verwaschenen Konturen der Stadt mit den halben Ohren vorüber. Nicht ein einziges Licht zeigte sich hinter den Fenstern. Ein toter Ort umgeben von Stille. Die Bäume, deren karge Äste wie schwärzliche Arme in den Nachthimmel ragten, bogen sich unter der Last kräftiger Böen und stießen aneinander, doch knackten sie nicht. Das Gehölz stimmte ein tonloses Sturmkonzert an.

Als Moritz eine Decke um sich und Konstanze schlang, fiel ihm etwas auf: Da war kein Wind! Um ganz sicher zu sein, prüfte er die Windrichtung mit einem Finger. Nichts. Die Bäume schüttelten sich lautlos, als ob jeden Moment etwas Gewaltiges, Schauerliches aus ihrer Mitte hervorbrechen würde. Ein kolossales Schreckgespenst, halb Eiche, halb hungriger Bär, mehrere Meter hoch und gierig nach Menschenfleisch.

Auch Konstanze beobachtete aufmerksam die Baumreihen zu ihrer Linken und behielt gleichzeitig Irmgard im Auge. Die Riesenkatze lief zwar weiter, doch auch ihr waren die Be­­we­gun­­gen des Waldes nicht verborgen geblieben. Die feinen silber­nen Nadeln, die eng an ihrem Körper anlagen, stellten sich auf, sodass ihr Körper im spärlichen Mondschein angriffslustig schim­­merte.

Urplötzlich erstarrte das Geäst. Die Grabesstille bekam eine neue Note und auch die Wagenräder machten keinerlei Geräusch mehr.

Im nächsten Moment brach ohrenbetäubendes Gekreische über sie herein. Eine Sturzflut schwarzer Vogelleiber schlug, hackte und peitsch­­te durch die Nacht. Raben, Krähen, Amseln, Dohlen ka­­men aus dem Nichts.

Moritz packte die Decken und zog sie über seine Schwester und sich. Die Schreie der Rabenvögel klangen schrill und un­barmherzig. Wie Flüche donnerten sie von allen Seiten auf sie ein und umschwirrten den Wagen in einem tobenden Wirbel. Es mussten Hunderte sein.

Konstanze quiekte ängstlich. Moritz versuchte sie mit seinem Oberkörper zu schützen, doch das rauschende Gezeter, das sie plötzlich umgab, schien die Welt zerreißen zu wollen. Als zahl­lose Schnäbel und Krallen auf die Holzwände des Wagens ein­prasselten, konnte auch Moritz nicht länger an sich halten. Er schrie aus vollem Halse, bis das infernalische Tosen so schlag­­artig endete, wie es begonnen hatte. Wieder folgte absolute Stille.

Als Moritz sich traute, die Decke anzuheben, war von dem heftigen Ansturm nichts mehr übrig, außer einer einzelnen tiefschwarzen Feder, die langsam auf den Kutschbock herniederschwebte. Was war das gewesen? Ein verirrter Vogelschwarm? Während Moritz den dunklen Flaum betrachtete, stieß Konstan­ze einen erstickten Schrei aus.

»Irmgard!«

Moritz blickte nach vorn. Die Riesenkatze war verschwunden. Ihr Zuggeschirr und die Fahrleinen lagen leer auf dem Weg.

»Wo ist sie?«, rief Konstanze aufgeregt.

Moritz bedeutete seiner Schwester, sitzen zu bleiben, und klet­­terte vom Bock – auf der Hut vor einem neuerlichen An­griff aus dem Nichts. Er untersuchte die Riemen mit den Bü­­­gel­­­schließen. Sie waren fest verbunden. Irmgard konnte das Geschirr unmöglich abgestreift haben. Ferner gab es keine Spu­­­ren auf dem Boden, die auf einen Kampf hindeuteten. Was im­­mer geschehen war, es war schnell gegangen.

Für einen Moment tauchte vor Moritz das Bild von fleischfressenden Vögeln auf, die einen Körper samt Haar und Kno­chen in Windeseile auffraßen.

Ein Knacken im Unterholz ließ ihn herumfahren. Nach der gespenstischen Stille wirkte dieses Geräusch wie ein Fremd­körper. Im blattlosen Dickicht steuerte etwas direkt auf sie zu. Moritz erkannte mehrere Schatten, die wie von Teufeln gejagt durch die Nacht taumelten. Blätter wirbelten durch die Luft, Äste krachten. Erde und Steine wurden aufgewühlt und spritzten gegen schwarze Baumstämme und riesenhaftes Wurzelwerk.

Moritz machte einen Schritt zurück zum Wagen. Instinktiv gab er seiner Schwester ein Zeichen, sie solle ins Wageninnere klettern. Doch Konstanze rührte sich kein Stück. Sie starrte auf Fips, der im Tornister hockte und lautlos Alarm schlug. Das geöffnete Maul, die bebenden Nasenflügel und zitternden Schuppen ließen nur einen Schluss zu, auch wenn kein Pleurren oder Chrachern seine Kehle verließ. Monster!

»Versteck dich!«, rief Moritz, als eine wilde Horde aus dem Wald herausbrach.