Es waren sieben Kreaturen. Moritz versuchte, ihre Körper zu er­fassen, um sie einordnen zu können, doch Wesen wie diese standen in keinem Buch. Sie stoppten in gut zehn Metern Entfer­nung auf dem geisterhaft beschienenen Waldweg und bildeten einen Halbkreis um ihn.

Das größte Monster war ganz und gar mit zottigem, schmutzverkrustetem Fell bedeckt, als wäre es einem Grab entstiegen. Zweige und Moos klebten an ihm. Es war massig wie drei Och­sen und verfügte über ein paar gebogene, schaufelartige Hör­ner, deren goldener Schimmer unter einer Schicht Dreck verbor­gen lag. Seine Augen standen weit auseinander, was Moritz sofort an den gütigen Blick des Ersten erinnerte, doch die Zähne der Bestie sprachen eine andere Sprache: Zwei riesige Reihen verfaulter Menschenzähne grinsten ihn an. Das speicheltriefende Lächeln eines Kinderschrecks – ein Name, den Moritz ihm gab, um sich im Gewimmel besser orientieren zu können. Es war nicht der letzte, den er in dieser Nacht erfinden würde.

Direkt neben dem Kinderschreck lauerten zwei Gesellen, die wie nacktes Gebein aussahen. Ihre bleichen, knochigen Körper schienen frei von Fleisch und Muskelmasse. Bei jeder Bewegung klapperten ihre Leiber, die an hochbeinige Wolfshunde erinnerten. Allerdings welche, denen man aus reiner Bosheit die unförmigen Schädel verstorbener Ziegenböcke aufgesetzt hatte. Ihre skelettartige Gestalt war jedoch natürlichen Ursprungs. Ein Gespinst durchsichtiger Fasern hielt diese Knochenzwillinge zusammen, während sie mit den Zahnstummeln knirschten.

Zwischen ihren Skelettbeinen flitzte ein Schemen umher: das vierte Monster. Es wirbelte bei jeder Bewegung Nässe und modriges Laub auf. Mit bloßem Auge konnte Moritz das Geschöpf in der Dunkelheit nicht erfassen, so schnell bewegte es sich. Doch als sich die Kreatur seinen Füßen näherte und für einen Sekundenbruchteil zum Stillstand kam, starrte Moritz in ein Ge­sicht, das nur eine saugende Aushöhlung war. Ein verwesender Mund. Keine Augen, keine Ohren, keine ihm bekannten monstrischen Züge. Alles an diesem Scheusal war Mund. Und aus den Untiefen drangen garstige Worte. Moritz glaubte, die Stimmen seiner Eltern zu hören: Moritz, warum hast du nicht auf deine Schwester aufgepasst? Die Sätze vermischten sich mit den scharfen Schimpflauten der Waisenhausleiterin Fräulein Bim­­mel: Was für dreckige, ungezogene Kinder ihr seid! Ein Schauer überlief Moritz, als der Flüsterer auf unsichtbaren Bein­chen davonhuschte.

Eine weitere Abscheulichkeit vollführte einen Totentanz über den düsteren Waldweg. Ein doppelköpfiges Schlangenwesen – mindestens fünf Meter lang, mit Gesichtern rotbraun wie geronnenes Blut. Sein totenblasser, dicker Leib war mit einer Schicht gelber Nässe überzogen, die im Mondlicht wie Eiter glänzte. Laub und Zweige hafteten wie offene Schnitte an ihr. Die Krea­tur drängte die Knochenzwillinge beiseite, wickelte sich um den Fuß des Kinderschrecks und erklomm seine haarige Flanke. Als die Geisternatter das grinsende Haupt des Riesen erreicht hatte, rollte sie sich zwischen den Hörnern zu einem giftigen Knoten zusammen und starrte auf Moritz hinab. Ein seltsames Seufzen entrang sich den Schlangenkehlen und die Luft war plötzlich erfüllt von Pestgestank und Fäulnis.

Ein schabendes Geräusch ertönte. Moritz senkte den Blick und entdeckte ein chaotisches Wesen, das durch die Reihen seiner Vorgänger trat. Es wirkte wie ein abgetrennter Schafskopf auf acht riesigen Heuschreckenbeinen. Ein fliegenartiger Rüssel betastete jede Oberfläche und jeden Stein auf dem Weg und schien eine Spur aufzunehmen. Der Sucher kam Moritz gefährlich nahe, sodass dieser einen Satz zurück machen musste. Die Kreatur blähte sich auf wie ein Blasebalg, blickte ihn mit schwarz geäderten Glubschaugen an und seufzte, woraufhin sich ein Schwall ätzenden Gestankes verteilte.

Moritz’ Blick irrte umher. Er hätte schwören können, dass er sieben Wesen gezählt hatte. Und er hatte recht. Die letzte Kreatur verbarg sich im Schatten des riesenhaften Kinderschrecks. Seine Umrisse ähnelten einem Bilwiss. Im schwachen Mondlicht war ein vorgeneigter Körper von der Größe eines Kindes mit haarigen Beinen und Armen zu erkennen. Es hielt ein helles Objekt in den Krallen – glatt und glänzend –, das nicht ganz ins Bild passte. Die Kreatur bewegte sich überlegter und weniger animalisch als seine Kumpane. Sie war ein Beobachter und stieß hin und wieder einen unartikulierten Laut aus, auf den die übrigen sechs zu hören schienen. War das der Anführer? Moritz musste es herausfinden. »Mock, Mock, Mock«, rief er. »Wir sind nicht gefährlich. Wir sind auf der Durchreise.«

Keine Reaktion. Die Monster warteten. Die Knochenzwillinge bewegten sich hin und her, während der Flüsterer zwischen ihren Beinen Dreck aufwirbelte.

Moritz erhob die Hände. »Ich bin unbewaffnet. Wir wollen keinen Ärger.«

Ein unwirklicher Schrei entrang sich der Kehle des Beob­ach­ters. Ein kehliges Röcheln, das mit keinem bekannten Monster­­geräusch verwandt war. Seine Gefährten stimmten ein. Jeder auf seine Art, bis ein unheimlicher Geräuschteppich entstand, der stetig lauter wurde.

»In den Wagen«, fauchte Moritz in Richtung Konstanze. »Auf der Stelle!« Endlich zeigte das Gesagte Wirkung. Seine Schwester bewegte sich langsam zur Kutscherluke.

Sofort wurde die Haltung der Monster lauernder. Die Geister­natter hob die Köpfe und fixierte das Mädchen.

Moritz stellte sich ihnen entgegen. »Mock, Mock, Mock! Wir sind keine Gefahr!«

Der Kinderschreck nahm eine gebückte Haltung ein, bereit zum Sprung. Teufel auch!

Moritz blickte sich um. Er konnte den Kutschbock mit einem Satz erreichen, dank seiner Weste war das kein Problem. Aber was dann? Sollten sie sich im Wageninneren verschanzen und darauf hoffen, dass die grauenhafte Horde verschwand? Das klang wenig verlockend.

»Moritz?« Helenes Kopf spähte durch die Kutscherluke.

»Bleib, wo du bist!«, warnte Moritz sie. »Ich brauche meinen Teleskopstab. Konstanze hat ihn.«

Helene wollte sich zurückziehen, als der Beobachter einen grässlichen Laut ausstieß. Im nächsten Moment senkte der Kin­derschreck sein Haupt und die Geisternatter schnellte vorwärts. Helene schrie auf.

Der Körper der Schlange traf Moritz und wickelte sich in Win­deseile um seinen Leib, bis er in einem Kokon aus Schmerzen gefangen war. Er landete im Schmutz. Die Kreatur presste die Luft aus ihm heraus. Er wurde über den Boden gewälzt – unfähig, etwas zu rufen, unfähig, sich zu rühren.

Die Bestie drehte ihn auf den Bauch, dann erstarben ihre Schlingbewegungen und der Geruch von Verwesung nahm zu. Die beiden Köpfe der Schlange waren nah bei ihm: groß, rostrot und mit Augen, die seltsam tot wirkten – leichenblass wie ihr langer Leib. Sie öffneten die Mäuler und entblößten eine Viel­zahl schwarzer Zähne, die in mehreren Reihen hintereinander angeordnet waren. Das war kein Gebiss, das war ein Albtraum!

Moritz wandte den Kopf ab, um den Biss nicht kommen zu sehen, als ein weiterer Ruf ertönte. Er riskierte einen Blick. Die Natter hatte die Häupter erhoben und starrte einen sich nähern­den Schatten an. Der Beobachter. Er kam schwankend auf sie zu, das rätselhaft schimmernde Objekt immer noch in den Händen. Hinter der Kreatur traten der Kinderschreck, die Kno­chenzwillinge, der Sucher und der Flüsterer heran.

Der Beobachter hockte sich vor der Schlange auf die Erde. Zu Moritz’ Verblüffung entdeckte er eine Tasse in den fellbe­­deck­­­­ten Fingern der Kreatur. Der Haarige schob das Gefäß nach vorn und drückte es gegen Moritz’ Mund.

Moritz wollte schreien, spucken, sich wehren, doch er bekam keinen Ton heraus. Zu fest hielt ihn die Geisternatter. Er presste die Lippen zusammen und drehte den Kopf weg.

Abermals stieß der Beobachter einen Laut aus. Für einen Mo­­­ment konnte Moritz einen Blick in das zahnlose Maul des We­­sens erhaschen. Seltsame Würmer ringelten sich darin. Violett, dick und schleimig züngelten sie voran und schienen ihn packen zu wollen.

Die Schlange bewegte ihren Körper. Ein Teil ihres Leibes wan­­derte in wellenartigem Kriechen Moritz’ Rückgrat bis zum Na­­cken hinauf. Die Kreatur drückte von außen auf die Muskeln, bis sich, ohne dass er es wollte, sein Mund öffnete.

Die Tasse kam näher. Moritz spürte die Wärme, die das Ge­­fäß abstrahlte. Dann traf etwas das Porzellan und es wurde mit einem PLING! davongeschleudert. Eine Flüssigkeit platschte auf den Weg und beschwor lieblich duftende Schwaden herauf.

Ein Kampfschrei erscholl und die Monster stoben auseinander. Moritz’ Körper wurde zur Seite gerollt und die Umarmung der Geisterschlange lockerte sich merklich.

Ein Schemen im roten Kleid tanzte durch die Dunkelheit. Helene! Sie wirbelte den Teleskopstab, den sie zu einer Länge von über zwei Metern ausgefahren hatte, durch die Luft und attackierte die Monster. Sie drehte sich im Kreis, vollkommen eins mit der Waffe, ließ den Stab durch ihre Finger gleiten wie ein Band aus Seide und hieb nach den Beinen der Knochenzwillin­ge. Ein nervenzerfetzendes Kreischen ertönte, als das fliegende Metall auf die Skelettbeine traf. Die Wesen taumelten in die Schatten des Waldes zurück.

Der Kinderschreck setzte auf Helene an. Sein Kiefer klappte auseinander und ein Schwall fauligen Speichels schwappte auf die Erde. Helene wich dem widerwärtigen Strom aus, ließ den Stab auf eine handliche Größe von nicht mal einer Elle zusammenschrumpfen, vollführte dann eine halbe Drehung und verlän­gerte den Stock in sein rechtes Auge. Der Riese schrie und torkelte orientierungslos.

Helene wirbelte herum, ihr Kleid ein blutroter Fächer. Ihre langen schwarzen Haare peitschten durch die Nacht. Sie schlug, stieß und schmetterte auf die Monster ein, doch benutzte sie nie die im Griff versteckte Klinge.

Moritz wand sich und versuchte die Geisternatter loszu­werden. Das Geschöpf zog ihren eitrigen Leib zusammen, einem Würgereflex gleich, und nahm ihm die Luft.

»Mock! Mock! Mock!«, rief eine helle Stimme.

PONG! PONG! PONG! Drei metallische Schläge ertönten.

Moritz sah sich um, als die Häupter der Bestie zu Boden sanken. Dahinter kam Konstanze zum Vorschein, sie ließ einen Zinkeimer sinken. »Das passiert, wenn man meinem Bruder weh­­­tun will!«

Eilig half sie ihm, die reglosen Windungen abzustreifen, be­­vor unheimliches Leben in sie zurückkehren konnte. Moritz er­­­­griff die Hand seiner Schwester und lief mit ihr zum Wagen.

Helene war immer noch die rote Kriegerin. Der Kinderfres­ser trauerte um sein Auge, die Knochenzwillinge streiften im Di­­ckicht jenseits des Mondlichts umher. Sie schienen desorien­­tiert und zögerlich angesichts der veränderten Situation. Doch wo war der Rest der Meute? Die Antwort folgte prompt, als Kon­stanze einen spitzen Schrei ausstieß. Ein huschender Schatten raste auf sie zu. Das Mädchen wurde zu Boden gerissen und verlor den Eimer. Der Flüsterer beugte sich über ihr Gesicht. Sein unheimlicher Mund begann zu sprechen: Du bist verloren. Dein Bruder lässt dich im Stich. Er hat dich vergessen …

Moritz packte den Eimer und wollte auf das Wesen einschlagen, als ihm etwas in den Nacken sprang. Lange Insektenbeine krallten sich an seinem Hinterkopf fest. Moritz brüllte vor Ekel, als sich Widerhaken in seine Haut bohrten. Er zerrte die Kreatur von den Schultern, spürte, wie der Saum der Weste und die Haut riss, und schleuderte den Sucher ins Unterholz.

Du bist allein. Dein Bruder ist fort. Er ist tot …

Hemmungslos rannen die Tränen über Konstanzes Wangen. Sie starrte in den Totenmund des Angreifers, doch schien sie keine Furcht vor dem abscheulichen Anblick zu empfinden – es waren die Worte, die sie erschütterten. Sie glaubte ihnen.

Ohne zu zögern, ließ Moritz den Zinkeimer auf das herunterkrachen, was der Rücken des Flüsterers sein musste. Mit einem jämmerlichen Geräusch und einer verdrehten Rück­wärts­bewegung zog sich das Monster zurück. Nicht mehr als ein böser Traum.

Moritz packte seine Schwester und verfrachtete sie auf den Kutschbock. »In den Wagen! Beschütze Edgar!«, keuchte er und zog sich selbst hinauf. Er bugsierte sie durch die Luke und langte ins Wageninnere. In der Dunkelheit angelte er nach dem Korb mit dem Brezelwächter.

Das wuchtige Schießeisen, das er bei seiner Abreise aus Bad Greifenstein von der Wirtin Rita geschenkt bekommen hatte, bestand aus einem Schnapsfass als Munitionstrommel, einem schlanken Ofenrohr als Gewehrlauf und war bis zur Oberkante mit Nägeln gefüllt. Moritz hievte die Waffe aus dem Wagen. Er hasste sich für das, was er im Begriff war zu tun.