Helene ließ den Teleskopstab klicken, als die Skelettbestien aus dem Wald auftauchten. Der Stock verlängerte sich und traf den ersten Schädel der Kreatur. Sie wirbelte herum und versetzte dem zweiten Scheusal einen Schlag gegen die Knochenflanke. Keifend zogen sich die Unholde in den Schutz der Dunkelheit zurück, ihre Schritte raschelnde Flüche.

Der geifernde Brocken – Helene hatte ihn so getauft, weil er das Größte der Ungeheuer war – hatte aufgehört, sich im Kreise zu drehen und zog sich ebenfalls in die Schatten der Bäume zurück. Fast hätte sie Mitleid verspürt, doch die Aussicht in einem verrotteten, übergroßen Menschenmaul zu landen, erschien ihr nicht verlockend. Sie drehte sich um die eigene Achse. Wo hielt sich die Schlange auf? Und wo die anderen Monster, die sie gesehen hatte, als sie durch die Luke gespäht hatte?

Sie nahm eine Bewegung im Augenwinkel wahr und duckte sich instinktiv, als ein milchiger Körper über sie hinweg­­­schnellte. Etwas traf sie am Kopf und ließ ihre Haare wie ein Spinnennetz durch die Luft fliegen.

Infernalischer Pesthauch drang in ihre Nase und ein grässliches doppeltes Fauchen ertönte. Helene atmete tief ein. Einen derartigen Geruch hatte sie seit den Ereignissen auf der Wessel­burg nicht mehr gerochen. Er zeigte ihr, wie sehr sie am Leben war. Über dreihundert Jahre hatte sie in einem Dämmer­zu­stand verbracht, in einem untoten Körper, der nur dann etwas fühlen konnte, wenn sie sich selbst in die Seele eines anderen einlud. Dies war nun vorbei. Zorn und Ekel verliehen ihr Flügel. Helene brüllte aus vollem Halse und bäumte sich auf. Die Schreckensschlange hockte mitten auf dem Waldweg in der Sab­­berlache des Brockens – die Gesichter dunkel wie Blut und ihre Augenpaare tote Schlitze. Sie riss beide Mäuler auf und der infernalische Gestank nahm zu.

Helene atmete tief ein und ihr Stab schnellte vorwärts. Die Bestie zog ihren Körper zurück, sodass Helenes Waffe nur die nasse Erde traf. Die Schlange formte ihren Leib zu einer todbringenden Feder und wollte zustoßen, als ein Geräusch die Luft zerriss.

RATT-TATT-TATT!

Erde spritzte vor der Schlange auf, als die Nägel in den Wald­boden einschlugen. In einer blitzartigen Bewegung jagte das Scheu­­sal dem Brocken hinterher.

Helene spürte eine Berührung an ihrem Rücken und wollte be­­­reits zuschlagen, als sie Moritz’ Geruch erkannte. »Schleich dich nie wieder an mich heran!«, herrschte sie ihn in gespieltem Zorn an. Er lächelte entschuldigend und hielt den Brezelwächter mit beiden Händen aufrecht. Seine Augen suchten die Umgebung ab. Rücken an Rücken bewegten sie sich im dünnen Nachtlicht.

»Da drüben!« Helene deutete auf einen Schemen, der sich vom Wagen her näherte. Er hatte sich im Schatten der Räder ver­­steckt. Die Kreatur war zwar nicht groß, aber verteufelt flink. Mo­­ritz schickte eine Nagelsalve in die entsprechende Richtung, ohne das Wesen zu treffen. Helene vermutete, dass er das auch gar nicht vorhatte. Sein Wille, den Monstern kein Leid zuzufügen, war ebenso stark wie ihrer. Verteidigen ja, töten nein, lau­tete die Devise.

»Hast du irgendwo den Anführer gesehen?«, fragte Moritz.

»Meinst du den Kerl mit der Tasse?« Helenes Augen flogen durch die Dunkelheit. »Der ist in den Wald gerannt, offenbar hängt er an seinem Geschirr.«

Moritz schoss zwei weitere Salven in den Boden und eine weitere in den Wald zu seiner Linken, als die stelzenbeinigen Skelettbestien sich wieder näherten.

Helene sah eine insektenhafte Kreatur von der Größe eines Schoßhündchens auf sich zuspringen und versetzte ihr einen Hieb mit dem Stab. Die Bestie flog in Richtung von Irmgards Zuggeschirr und verhedderte sich in den Riemen, ein zuckendes Knäuel. Ehe Helene begriff, was vor sich ging, stürzten die Knochenbiester aus dem Wald auf das Zaumzeug zu. Sie zerrten an den Leinen und wickelten sie um ihre blanken Zähne. Der Wagen ruckte schwankend.

»Nein!«, brüllte Helene und löste sich aus Moritz’ Wind­schatten. Sie hörte, wie er ihr etwas nachrief, doch es war ihr egal. Die Monster durften den Wagen nicht bewegen. Ihr Bruder würde jede Erschütterung spüren!

Sie schwang den Stock über den Kopf und ließ ihn auf die Schädel der Knochenmonster hinabkrachen. Eines der Biester löste sich vom Zaumzeug und verschwand augenblicklich – das andere jedoch nicht. Helene schlug wieder und wieder zu, so fest sie konnte, doch die Kiefer der zweiten Kreatur hatten sich verhakt. In ihrer Verzweiflung packte Helene einen Teil der Riemen und zerrte daran. Sie drückte den Stab tief in die Knochenbrust des Zwillingsmonsters, doch das Ungetüm ließ nicht los. Es zog, bis das Leder in Helenes Hände schnitt.

Im nächsten Moment bellte ein Ruf durch die Dunkel­­heit. Helene reckte den Kopf und sah einen Schatten auf Moritz zu­­rasen. Ihr Mund öffnete sich, sie wollte ihn warnen, doch ihre Haare wurden gepackt und brutal nach hinten gerissen. Sie schlug auf dem Erdboden auf, der Teleskopstab entglitt ihr. Dann kamen Insektenbeine über sie. Jemand hielt sie fest, drück­­te sie zu Boden, ritzte ihre Haut mit seinen spitzen Wider­haken. Ein weiterer Körper, stinkend und teigig, wälzte sich auf sie und umschlag ihre Glieder.

Helene musste mitansehen, wie der Brocken Moritz mit ei­­nem Prankenhieb niederstreckte, noch ehe dieser eine weitere Salve abfeuern konnte. Der Brezelwächter krachte zu Boden, dann warf sich etwas auf Moritz, das sich auf dem Haupt des ge­­­hörn­­ten Riesen verborgen gehalten hatte und versetzte ihm einen Schlag.

»Nein!«

Moritz’ Mund öffnete sich wie von selbst, als die Faust des Beobachters seine Brust traf. Er rang nach Luft und sah, wie der Angreifer die Tasse erhob. Moritz schlug nach dem Porzellan und eine warme Flüssigkeit spritzte ihm mitten ins Gesicht. Er kniff die Lider zusammen und schirmte den Mund ab. Der haarige Unhold würde ihm kein Gift einflößen!

Sofort wurde Moritz gepackt. Einer der Knochenzwillinge er­griff seine Arme mit den bleichen Krallen und drückte sie aus­einander. Moritz brüllte zwischen zusammengebissenen Zäh­nen. Immer wieder presste er die Friedensformel Mock, Mock, Mock! hervor. Doch die Kreaturen hörten nicht.

Der Beobachter beugte sich mit der Tasse über ihn, packte sein Haar und riss ihm ein Büschel aus. Moritz schrie und fühlte im nächsten Moment, wie ein Schwall warmer Flüssigkeit in seinen Rachen vordrang. Er würgte und spuckte, versuchte die bittere Suppe nicht in die Kehle eindringen zu lassen, doch es war zu spät. Er japste und schluckte panisch. Mehr und mehr goss der Unhold in ihn hinein und die Tasse schien sich nicht um einen Tropfen zu leeren.

Ein seltsames Gefühl breitete sich in Moritz aus. Alles er­­wärmte sich. Sein Bauch, die Glieder sowie die Zunge und die Ohren. Als sein gesamter Körper in einen wohligen Schauer ge­­­hüllt war, verschwand der bittere Geschmack. In dem kurzen Moment der Ruhe, der daraufhin entstand, erblickte Moritz den Boden der Tasse. Dort war etwas eingeritzt. Buchstaben, die ihm seltsam und fremd vorkamen.

Выпей меня.

Allmählich begannen sich diese Schriftzeichen zu verändern. Dort stand mit einem Mal:

TRINK MICH.

Der Druck auf seine Glieder ließ nach. Sofort riss Moritz die Arme hoch, schlug die Tasse fort und packte den Beobachter am Hals. Tief krallte er sich im Fell des Angreifers fest. Seine Fin­­­ger umklammerten etwas Hartes, das sich wie ein Anhänger an­­fühlte. Als er erneut von den Knochenfingern zu Boden gerungen wurde, zog er daran.

Der Beobachter öffnete erschrocken das Maul und präsentierte das unheilige Gewürm, das er anstelle einer Zunge besaß. Dann zuckte sein haariges Gesicht und er kippte zur Seite.

Eine grässliche Minute lang geschah nichts. Die Monster er­­starrten. Sogar die Knochenfinger, die ihn festhielten, schienen wie festgewachsen. Dann knisterte Fell, Insektenbeine kratzten über feuchte Erde und Körper wälzten sich davon. Die Finger, die Moritz festgehalten hatten, ließen ihn los und er sprang auf. Einen Augenblick lang musste er sich orientieren. Die Monster zogen sich zurück. Zwei von ihnen waren offenbar mit Helene beschäftigt gewesen – die Geisternatter und der Sucher –, doch sie hatten ebenso abrupt von ihr abgelassen, wie die eine Hälfte des Zwillingspärchens von Moritz. Die Kreaturen sammelten sich auf dem düsteren Waldweg um den Kinderschreck mit dem verletzten Auge. Alle – außer dem Beobachter.

Moritz blickte zu der Stelle, an der das Wesen zur Seite ge­­sunken war. Der Körper des Unholds hatte sich verändert. Er war nicht mehr Krallen, Fell und Zungen, stattdessen lag dort eine dunkle Figur aus Holz. Eckig, fremdartig und kunstvoll gearbeitet. Sie war so lang wie eine Elle und halb so dick im Durchmesser. Auf der Brust der Schnitzerei fehlte ein Stück – eine rautenförmige Vertiefung wies darauf hin. Er öffnete seine Hand. Dort lag eine verkohlt aussehende Holzplakette, in die ein lidloses Auge eingeritzt und weiß gefärbt war. Das Objekt, das er dem Monster im Kampf vom Hals gerissen hatte.

Ein undefinierbares Raunen wehte aus Richtung der Monster zu ihm herüber. Ihre Augen funkelten in der Nacht.

»Geht es dir gut?« Helene hatte sich genähert, den Teleskop­stab auf die Kreaturen gerichtet. »Was haben sie mit dir ge­macht?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Moritz. Sein Magen blubberte. Er musterte die Tasse, die er weggeschlagen hatte. Sie lag unbeschadet neben der Holzfigur. Sauber und leer. Nicht eine dunkle Stelle auf der finsteren Erde wies darauf hin, dass je ein Tropfen daraus verschüttet worden war. Seltsam.

Moritz hob sie auf und erstarrte, als er den Grund der Tasse sah. Die Schrift, die er zuvor glaubte dort gesehen zu haben, hatte sich erneut verändert. Nun stand dort nicht länger Trink mich in deutschen Lettern – dort stand:

»Spannt uns ein.«

»Wie bitte?« Helene blickte ihn forschend an.

Moritz hatte nicht bemerkt, dass er die Worte laut ausgesprochen hatte. »Spannt uns ein«, wiederholte er und reichte ihr die Tasse.

Helene riskierte einen Blick, den Teleskopstab wachsam er­­hoben. Ihre Augenbrauen wölbten sich. »Seit wann kannst du Russisch lesen?«

»Wie meinst du das?«

Sie deutete mit dem Kopf auf die Tasse. »Das sind kyrillische Schriftzeichen.«

»Aber …«, begann Moritz und verstummte. Es dauerte einen Moment, bis er verstand. Der Trank musste etwas mit seinen Augen oder seinem Denken gemacht haben. Etwas, das die russischen Buchstaben für ihn in deutsche verwandelte. Er starrte zuerst die Tasse an, dann das leere Zuggeschirr am Boden und schließlich die Monster, die in der Finsternis warteten.

Spannt uns ein.

Er begriff.