Moritz erwachte von einem Ruck, der ihn fast vom Kutschbock beförderte. Er blinzelte, bis die Welt nicht länger verschwommen vor ihm lag. Wo war der Brief? Er fand ihn versteckt zwischen den Falten der Decke. Kurz überflog er die Zeilen. Nur noch ein letzter Satz fehlte. Als er hastig nach seinem Stift suchen wollte, sagte eine Stimme: »Wir haben wohl unser Ziel erreicht.«
Fieswurz saß neben ihm, das Gesicht dem Sonnenlicht zugewandt. Moritz steckte den unfertigen Brief zu dem Splitter in die Hosentasche und folgte dem Blick des Homunculus’.
Der Morgen zauberte verlockende Rosatöne an den Himmel und ließ grüngoldene Streifen über den hügeligen Horizont ziehen. Der vormals unbefestigte Untergrund war einer Pflasterstraße gewichen. Elegante Architektur kam in Sicht, romantisch und märchenhaft. Hin und wieder schob sich ein Turm in die Höhe und versperrte den Ausblick auf die dahinterliegenden Gebäude. Nirgendwo war ein Ortsschild zu sehen, das den Namen der Stadt verriet. Moritz wippte unruhig mit den Knien.
Der Wagen wurde an Amtsgebäuden, Theatern und Parkanlagen vorbeigezogen. Sie mussten ein absurdes Bild abgeben: ein Schindelwagen von sechs Monstern gezogen. In einer Welt, in der sich die Mock sonst gut versteckt hielten und von den Menschen verteufelt wurden, wirkte ihre Reisegesellschaft so fehl am Platz wie ein Bilwiss im Hochzeitskleid.
Sie erreichten zwei Türme – einer groß, einer klein –, die an ein Stadttor erinnerten. Der Wagen fuhr darauf zu und wurde von den tiefen Schatten verschluckt.
Fieberhaft suchte Moritz erneut nach einem Schild und erstarrte, als er ein Wort auf einer Steintafel im Torsockel entdeckte: MOLDAU.
»Nein!«, flüsterte er.
Entsetzt richtete er den Blick nach vorn, als die Turmbauten über ihn hinwegglitten. Das Bild, das sich vor ihm öffnete, drohte ihn zu ersticken. Vor ihm lag eine erstaunliche Brücke: steinern und ewig. Sie musste mehrere hundert Meter lang sein. Er schätzte ihre Breite auf gut zehn Meter. Das Pflaster war eben und glitzerte feucht im Licht der Morgendämmerung. Statuen über Statuen standen an den Seiten Spalier, Abbildungen von riesenhaften Heiligen, die sich grau gegen den rosagesprenkelten Himmel abhoben. Ein breiter Fluss wand sich unter der Brücke hindurch und schlängelte sich in beide Richtungen durch die Stadt. Das Wasser hatte die Farbe von Eisen.
Moritz schluckte. Das war die Moldau. Nun wusste er auch, in welcher Stadt sie sich befanden: Prag.
Worte aus der Vergangenheit wehten zu ihm herüber: Alles muss enden. Und alles wird enden. Da, wo es begonnen hat. Es waren die Worte des Ersten. Nun verstand Moritz ihre Bedeutung. Hier war Helene durch den Biss des Nachtalbs verflucht worden. Dieses Ereignis hatte Edgars Suche und den Pakt mit der Hexe angestoßen. In Prag schloss sich der Kreis.
Auf der anderen Seite der menschenleeren Brücke entfaltete sich ein altes Viertel, gleich einem Berg aus fein gearbeiteten Zinnen. Der heiße Kranz der Sonne schmolz die eng gedrängten Bauten im Gegenlicht zu einer leuchtenden Insel aus Gelb- und Ockertönen.
Moritz konnte den Anblick nicht genießen. Er war wie gelähmt, als er eines weiteren Tores am Ende der Brücke gewahr wurde. Dieses hatte nur einen Turm als Kopfstück und gab den Weg frei in ein Gewirr aus Straßen und Gassen.
Die Monster zogen den Wagen eine lange, gewundene Hauptstraße hinunter, vorbei an einem schattenhaften Garten aus pittoresken Schankstätten, Ladenfronten, verlassenen Feldkanonen und Droschken. Wenig später wichen die Schatten zurück und ein lichtdurchfluteter Platz kam in Sichtweite – allem Anschein nach der Marktplatz mit einer imposanten Säule, die von Engelsfiguren bewacht wurde.
Sie passierten die lange Südseite eines Gebäudes, das einem Schloss glich und gleichzeitig gutbürgerlich und offiziell aussah. Ein mächtiger Turm schmückte das Ende des Bauwerks mit einem unerwarteten Kunstwerk: einer riesigen Uhr.
Die Uhr war ein Wunder. Ein mit Gold verziertes Prunkstück. Es zeigte auf dem obersten Ziffernblatt den Umlauf der Sonne, des Mondes und der Zeit. Das darunterliegende Blatt deutete auf ein Verzeichnis der Tage und Monate des Jahres hin, in Form eines mit Blattgold betupften Kalenders, auf dem die Tierkreiszeichen Platz fanden.
In Gegenwart dieser Pracht wandte Moritz den Blick ab. Dies war ein Ort des Todes und er erfreute sich am Anblick der Stadt, obwohl Edgar im Wagen litt. Der Wurm knurrte widerwillig.
Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine Kirche, deren zwei Türme sagenhaft zackig in den Morgenhimmel aufragten. Sie wurde von unterschiedlich hohen Häuserfassaden mit Arkadengängen umzingelt, die sich wie gut geputzte Zähne aneinanderreihten, um ihre Eingangsportale vor neugierigen Blicken zu schützen.
Unvermittelt blieben die Zugmonster stehen. Keine zwanzig Meter von ihnen entfernt, rechter Hand der Engelssäule, stand etwas Eigenartiges. Ein Ding, das nicht ins Bild passte: ein einsames, hölzernes Haus auf zwei langen Hühnerstelzen. Direkt zwischen den Krallenfüßen wartete jemand in den Schatten. Hutzlig, gebückt, wie ein Meilenstein am Wegesrand. Und als die Gestalt aus dem Dunkel heraustrat, wusste Moritz, dass dies die Person war, mit der alles enden würde.