Die Schritte der Frau waren langsam und bedächtig. Sie beweg­­­­te sich, als würde jede ihrer Gesten unangenehme Qualen verur­sachen. Vielleicht waren der seltsam buschige Fuchsschwanz, der unter ihrer russischen Tracht hervorlugte, und die Hahnen­füße, die sie anstelle menschlicher Füße hatte, steif von Alter und Gicht. Sie blieb auf Höhe der Säule stehen, deutete auf Moritz und krümmte den Zeigefinger.

»Eine Szene wie aus einem Märchen«, kommentierte Fies­wurz.

Moritz blickte den Homunculus finster an und klopfte sacht gegen die Kutscherluke. Sein Herz raste, er durfte das Atmen nicht vergessen.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Mädchen ihre Köpfe durch die Öffnung steckten. Als Helene die Gestalt auf dem Pflaster entdeckte, kämpften Wut, Angst und Entschlossenheit in ihrem Gesicht – drei gleichwertige Gegner, deren Kampf unentschieden enden musste.

Moritz legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Warte bitte, ich erledige das.«

»Mach dich nicht lächerlich«, brummte Helene, langte ins Wa­­geninnere und griff nach der düsteren Holzfigur. »Ich werde ihr dieses Ding in den Rachen stopfen.« Sie schob sich zwischen dem Homunculus und ihm hindurch. Konstanze folgte ihr.

»Hiergeblieben!«, rief Moritz.

Seine Schwester ließ sich nicht beirren. »Ich will wissen, wo Irmgard ist!«

Helene und Konstanze kletterten vom Kutschbock und lie­­fen schnurgerade auf die Winzigkeit von Frau zu.

Eine kaum hörbare Unterhaltung begann, in deren Verlauf Helene die Holzfigur mit einem Knall auf dem Pflaster abstellte. Dann erstarrte sie.

Da stimmte etwas nicht.

»Du bleibst hier!«, zischte Moritz Fieswurz zu und sprang vom Wagen. Je näher er Helene und Konstanze kam, desto schnel­­ler wurde er. »Was ist passiert?«

Die Mädchen reagierten nicht. Helenes Gesicht war wutverzerrt. Ihr Ausdruck hatte sich in giftiges Fauchen verwandelt und war so maskenhaft, dass sich Moritz die Nackenhaare aufstellten. Sie rührte sich nicht mehr, war halb im Lidaufschlag er­­starrt. Ihr Körper war eine lebende Statue. Ebenso erging es Kon­stanze.

»Oh nein!« Entsetzen packte Moritz. Er begann seine Schwes­ter und Helene zu schütteln. Sie waren unbeweglich wie Stein.

»Ich schicke meine sieben Knechte aus, um euch abzuholen, und nur sechs von ihnen kommen zurück.« Ein Hahnenfuß versetzte der Holzfigur auf dem Pflaster einen Tritt. Die Statue kullerte zur Seite und präsentierte den Teil, an dem die Plakette fehlte. »Ah, das Siegel wurde gebrochen. Das hätte ich mir denken können.«

Ein Rauschen erfüllte den Platz – es erinnerte Moritz an das unheimliche Kreischen der Rabenvögel. Die Statue geriet ins Rollen und wirbelte direkt auf das Haus mit den gewaltigen Hühnerstelzen zu. Sechs andere Objekte folgten ihr: Taumelnde Körper, die wie eine Gerölllawine an Moritz und den Mädchen vorbei über das Pflaster polterten, in die Morgenhöhe aufstiegen, kleiner wurden und hinter einer Treppenkante in der Mitte des Hexenbaus verschwanden.

Als das Spektakel vorüber war, wandte Moritz den Kopf. Die Monster am Wagen waren verschwunden. Wo sie vormals ge­­­standen hatten, lagen nur leere Geschirre. Er blickte auf die uralte Frau und sah eine Reihe rostiger Zähne aufblitzen. Ein Lächeln. Ihre Augen musterten ihn: Eines war braun, das andere eine Kugel aus reinstem Eisen.

»Keine Sorge«, sagte die Alte und wies auf Helene und Kon­stanze. »Es geht deinen Freunden gut. Ich wollte mit dir unter vier Augen sprechen, junger Brenner.«

Ihre Stimme war so knorrig, dass Moritz erschauderte. Er zog die winzige Teetasse aus seiner Westentasche hervor. »Des­­­halb also der Tee. Damit ich Euch verstehe.« Instinktiv wählte er eine respektvolle Anrede. »Und Ihr kennt meinen Namen?«

Die Frau kicherte spitz. »Selbstverständlich. Ich kenne deinen Namen, sogar dein Gesicht.« Sie machte eine Pause. »Und du weißt, wer ich bin.«

»Die Hexe«, sagte er.

»Das ist meine Berufung, nicht wer ich bin.«

Moritz senkte seine Stimme, um voller und tiefer zu klingen. »Wie soll ich Euch nennen?«

Die Hexe ließ ihre Zunge über die runzligen Lippen gleiten und zwirbelte ein paar borstige Haare am Kinn. »In den Wäl­­dern heiße ich Großmütterchen. In der Luft Mata Federkiel. Im Feu­­­er Jagusa. Aber am häufigsten nennt man mich Nicht-du-schon- wieder!« Sie zwinkerte. »Für dich bin ich Baba Jaga.«

Moritz nickte stumm.

Die Hexe ließ einen Moment verstreichen, dann streckte sie langsam die Hand aus, mit der Handfläche nach oben. Ihre Fin­ger waren knotig und unendlich runzlig. »Und wenn du mir gibst, was rechtmäßig mir gehört, kannst du mich dankbar nennen.«

Moritz straffte die Brust. Er musste stark bleiben. Er reichte ihr die Tasse.

»Stell dich nicht dümmer, als du bist. Ich habe Dutzende Tas­sen. Ich will, was mir zusteht.«

Bleib standhaft. Für Helene. »Ihr könnt Edgar nicht haben. Weder ihn noch seine Seele.«

Der Gesichtsausdruck der Baba Jaga veränderte sich. »Dar­über solltest du noch einmal nachdenken.«

»Das habe ich«, sagte er. »Wir haben das«, fügte er fester hin­zu. »Ihr bekommt ihn nicht!«

»Du verstehst nicht, junger Brenner. Ich habe einen Vertrag mit dem Mann, den du Edgar nennst. Einen von der Sorte, ge­­­gen den nicht einmal Er etwas ausrichten kann.« Sie deutete in eine sehr bestimmte Richtung hinter sich.

Ohne es zu wollen, folgten seine Augen dem Finger der Hexe. Da stand niemand auf der Straße. Die Alte spielte mit ihm.

»Schau nach oben«, ermunterte sie ihn.

Moritz’ Blick glitt die Hausfassaden hinauf.

»Höher.«

Die Dächer waren leer gefegt, wie sämtliche Straßen von Prag, ach, der ganzen Welt!

»Näher.«

Es war eine Falle, eine Finte, ein Ablenkungsmanö– Plötzlich eine Bewegung in der Ferne. Am Südturm der Kirche mit den Doppelspitzen, die wie geschärfte Teufelsgabeln in den Morgen­himmel aufragten, rührte sich etwas. Zuerst hielt Moritz es für eine übergroße Engelsfigur, doch dann bewegte sich das Ge­­wand. Eine ausgemergelte Gestalt klammerte sich in schwindelerregender Höhe seitlich an den gotischen Kirchturm. Sie schien größer zu sein als ein gewöhnlicher Mensch, obwohl sie eindeutig menschliche Proportionen hatte. Moritz glaubte sogar, einen Kopf ausmachen zu können, der kugelig und kahl war.

»Ich habe ihn auch erst nicht erkannt«, sagte die Baba Jaga. »Als ich ihn das letzte Mal sah, war er älter und besaß ein Faible für Damaststoffe. Das ist natürlich über vierhundert Jahre her. Es ist schwer, mit seinen ständig wechselnden Formen Schritt zu halten.«

Die fahle Gestalt auf dem Schrägdach schien einer grotesken Anatomiestudie entstiegen zu sein. Moritz’ kleiner Verstand ka­­­pi­tulierte. »Wer ist das?«, war das Einzige, was er über die Lip­pen brachte.

»Zhatka«, sagte die Baba Jaga. »Der Knochenmann. Ich neh­me zumindest an, dass er ein Mann ist. Die Dinge verschwimmen, wenn die Zeit an einem nagt.«

Mühevoll löste Moritz seinen Blick von der Gestalt auf der Turmseite. »Soll das heißen, es ist Gevatter Tod?«

»Gewiss. Und sein Kleidungsgeschmack hat sich nicht verbessert.«

Moritz versuchte, der Hexe nicht zu tief in die Augen zu sehen. »Ist er wegen Edgar hier oder …?«

»Oder was?«

Eine Erinnerung tauchte aus den untersten Schichten von Moritz’ Gedächtnis an die Oberfläche. Er sah sich wieder in der Höhle des Ersten stehen, umgeben von Halbdunkel und Zweifeln. Der Gigant hatte ihn von den Toten zurückgeholt und ihn gewarnt: Niemand darf dem grimmigen Gesellen seine Beute wegnehmen. Moritz hatte ängstlich gefragt: Heißt das, dass der Tod mich bald holen wird? Der Koloss war ihm die Antwort schuldig geblieben. War seine Zeit nun gekommen?

Die Baba Jaga blickte ihn interessiert an. Ihre Augen durchbohrten ihn, durchstöberten seinen Geist. Sie runzelte die Stirn und blinzelte unwillig – offenbar fand die Hexe nicht, wonach sie suchte. »Es passiert nicht oft, dass ich eine Person nicht lesen kann.«

Moritz konzentrierte sich auf ihr gesundes Auge. Das eiserne bereitete ihm Unbehagen. Er hatte Angst, darin seine Seele zu verlieren. »Vielleicht bin ich zu schlau für Euch.«

Die Hexe kräuselte die Lippen. »Red keinen Unsinn, Bursche. Du magst einen der Knechte besiegt haben, aber es gibt Zutaten in meiner Speisekammer, die findiger sind als du. Nein, etwas beschützt dich, verbirgt deine Gedanken vor mir.«

Moritz’ Mund stand sperrangelweit offen. Er wollte etwas erwidern, als die Frau eine Hand erhob und die Finger spreizte. Die Knochen knackten unheilvoll. Kreisende Bewegungen folgten, suchend und nachdenklich. Die Hexe schien seinen Körper abzutasten – mit ihrem Ich. Langsam wanderte die Handfläche hinab zu seiner rechten Hosentasche, wo sie verharrte.

»Was hast du in deiner Tasche?«

Sein Herz setzte einen Schlag aus.

Der Splitter.

Die Alte musste das schwarze Glas erspürt haben. Sämtliches Gefühl wich aus Moritz’ Körper. Er war unfähig zu antworten.

»Aha.« Das Gesicht der Baba Jaga schien zu wachsen, wurde spitzer und bekam wölfische Züge. »Hab ich dich.«

Urplötzlich wuchs der Druck in Moritz’ Brust. Der Wurm schob sich vor sein Herz. Was würde passieren, wenn er die haarige Kreatur sprechen ließ? Er gab sich dem Gedanken hin und spürte, wie das Biest augenblicklich die Kontrolle übernahm.

»Ich denke, wir sind fertig«, knurrte er. »Lasst jetzt meine Schwes­­ter und Helene frei.«

Die Baba Jaga wiegte den Kopf, sodass der weiße Flaum, den sie anstelle dichten Haares auf ihrem Haupt trug, sanft hin und her wogte. »Ich kann hier nicht weg, bis ich nicht habe, was mir zusteht.«

»Dann werdet Ihr hier noch sehr lange stehen.«

Die Hexe kniff die Augen zusammen. »Dich umgibt Dunkel­heit, junger Brenner. Der alte Zhatka ist nicht wegen deines Freundes hier. Der Vertrag, den ich besitze, macht seine An­­wesenheit überflüssig. Nein, er ist wegen jemand anderem hier.«

Wieder spukten die Worte des Ersten durch Moritz’ Kopf: … deine Melodie ist noch nicht erklungen. Vielleicht lässt er dich ziehen …

»Das ist nur ein Trick«, sagte er. »Aus meiner Sicht existiert kein Vertrag.«

Ein neuer Ausdruck trat in das Gesicht der Baba Jaga. Schlag­artig sah sie aus, als ob sie aus einem tiefen Traum erwacht wäre. »Ich verstehe«, murmelte sie. Dann faltete sie ihre Finger vor der Trachtenschürze. »Der Vertrag existiert. Unterzeichnet mit Blut.«

Moritz atmete tief ein, in der Hoffnung, er werde nicht nur Luft, sondern auch etwas Mut in seine Lungen pumpen. »Be­­weist es!«

Die Alte lächelte. Dann folgte ein beunruhigend langes Ni­­cken. Die Minuten schienen zu Staub zu zerfallen. Schließlich strich sie die Falten ihres Rocks glatt und wandte sich zum Gehen. »Folge mir.«

»Was ist mit Helene und Konstanze?«

Die Baba Jaga kommentierte die Frage mit einer wegwerfenden Geste. »Die Starre löst sich, sobald wir am Haus sind. Du kannst ihnen später berichten.«

Damit wackelte die Alte auf ihre Hütte zu. Moritz folgte ihr mit einem mulmigen Gefühl im Bauch.

Je näher er dem Bau auf Hühnerstelzen kam, desto riesen­hafter wurde dieser. Die Stelzen sahen aus wie Baumstämme, nicht von Hand geschnitzt, sondern gewachsen – geformt aus Borke, Harz und Erde. Als er schon fast unter dem Haus angelangt war und sich fragte, wo die Hexe eine Leiter versteckt hielt, belebte ein majestätisches Knacken die Welt. Das Holz zuckte und Rinde rieselte aufs Pflaster hinab. Das Bauwerk bewegte sich. Die Beine knickten ein, das Haus sank vor Moritz und der Alten zu Boden. Eine kunstfertig geformte Treppe in der Mitte des ganz und gar aus Holz gefertigten Baus setzte in vollendeter Eleganz auf dem buckligen Marktplatz auf.

Moritz folgte der Baba Jaga die Stufen hinauf zu einem überdachten Vorbau mit Geländer. Sofort fiel ihm die Eingangs­­­pfor­­te auf. Aufwändig geschnitzte Monstergestalten rankten sich um eine schmale Doppelflügeltür. Er erkannte die Kreaturen wieder: den Kinderschreck, die Knochenzwillinge, die Geisternatter … Alle sechs Monstrositäten, die ihn, Konstanze und Helene nach Prag gebracht hatten, waren als Relief in den Rahmen eingearbeitet. Verwoben, verschlungen, verwunschen. Der einzige Teil, der nicht ins Bild passte, war die siebte Schnitzerei. Der Be­­­obachter. Wo seine Gefährten honiggelb und poliert glänzten, däm­merte sein Abbild erloschen und verloren am unteren rechten Rand des Türrahmens.

Und Moritz entdeckte noch etwas: Augensymbole. Der Kin­der­­schreck hatte eine Plakette an seinem Hinterteil kleben, die der Geisternatter versteckte sich zwischen ihren Köpfen und der Sucher trug eine am Bauch. Wo sich die Augenschnitzereien der Knochenzwillinge befanden, konnte Moritz nicht erkennen, denn ihre Leiber bildeten das Kopfstück des Rahmens unter ei­nem Oberlicht. Auch das Auge des Flüsterers entdeckte er nicht. Sein seltsamer Schlund schien sich selbst im Holz in un­­­end­liche Tiefen zu ziehen.

Die Stelle, an der das Siegel des Beobachters vormals gesessen hatte, sah Moritz hingegen ganz genau. Unter seinen stilisierten Zungen klaffte eine herausgebrochene, rautenförmige Aus­­sparung.

»Nach dir, junger Brenner«, sagte die Baba Jaga.

Langsam wandte sich Moritz um und blickte zu Helene und Konstanze hinüber. Allmählich kam wieder Leben in ihre Kör­per. Sie sahen zu ihm, als wären sie einem traumlosen Schlaf entronnen. Er reckte eine Hand, um anzudeuten, dass es ihm gut gehe und er gleich zurückkommen werde. Dann wandte er sich um und betrat das Hexenhaus.