Helene lief fort vom Marktplatz, durch dunkelgraue Gassen, die von verlassenem Kriegsgerät und schwarzen Droschken ge­­säumt wurden. Grimmige Häuserfronten starrten auf sie herab, mit leeren Fensteraugen und Türmündern. Ein finsterer Märchen­­wald aus Fratzen mit knochigen Augenbrauen aus Stein, verfalle­­nen Zähnen aus Eisen und hohlen Wangen aus Holz.

Die Straßen bogen und wanden sich, sodass einem vom bloßen Hinsehen schwindelig wurde. Es war ein Kinderspiel, in den auf und ab tanzenden Gassen die Orientierung zu verlieren. Doch Helenes Herz kannte den Weg.

In ihren dunkelsten Stunden, als ihre Seele in einem Körper eingesperrt gewesen war, der weder atmen, fühlen noch altern konnte, war sie im Geiste oft durch diese Straßen geeilt. Stets, um ihren Bruder und sich selbst vor einer schrecklichen Tor­heit zu bewahren. Einem Fehler, der über 300 Jahre in der Ver­­gangenheit begraben lag. Auch jetzt würde sie zu spät kommen, doch der Durst, dem verhassten Scheusal noch einmal ins Ge­­sicht zu starren, war zu groß.

Sie rannte um Ecken und stürzte Treppenstufen hinunter, um plötzlich stehen zu bleiben. War da ein Geräusch gewesen? Wur­de sie verfolgt? Sie stand ganz still und lauschte. Nichts. Nur das Dröhnen einer verlassenen Stadt, die ihre schwarzen Wur­zeln in Helenes Seele geschlagen hatte. Sie setzte ihren Weg fort und lief in die nächste lichtlose Gasse. Bald wurden die Wege schmaler und verkamen zu dunklen Spalten, durch die nur ein schmächtiger Mensch passte. Helene zwängte sich furcht­­los hindurch, auch wenn die Schatten hier noch tiefer und schwär­­zer waren. Am Ende der Finsternis öffnete sich ein Platz, in dessen Mitte eine Häuserruine lauerte. Ein halb verfallenes Ge­­bilde – grau, bröcklig und vergessen.

Helene blieb stehen und starrte das Gebäude im kargen Nacht­­licht an. Minutenlang war sie unfähig, auch nur einen Mus­­­kel zu rühren. Das Haus hatte kaum Ähnlichkeit mit dem im­­­posanten Bauwerk in ihrer Erinnerung. Inmitten des Platzes wirk­­te es müde und leer. Ein Grabstein, von Spinnweben, Staub und Alter gebeugt. Fast ausnahmslos alle Fenster waren entwe­­der gesprungen oder zersplittert. Dach- und Giebelstruktur so­­wie die Erker neigten sich rissig ins Hausinnere, wie verrottete Zahn­stummel. War das überhaupt dasselbe Gebäude? Das ver­witterte Schild, das lose und verblichen vom Türbalken über der Eingangspforte hing, wischte ihre Zweifel fort. Dies war die Herberge Tenký dům, das Dünne Haus.

Eine giftige Welle erfasste Helene. Abscheu, Wut, Verzweif­lung, Trauer und Zorn sprudelten durch ihre Adern und entluden sich in einem wilden Aufschrei, der ihre Stimmbänder zu zerreißen drohte. Sie bückte sich und ihre Hände gruben sich schmerzhaft in die Lücken der Pflastersteine, zerrten einen von ihnen mit rasender Kraft heraus und schleuderten ihn auf das Schild.

PAMM!

Obwohl Steine, Schmutz und Dreck unter ihren Nägeln brann­ten und ihre Arme vor Schmerzen taub wurden, wiederhol­te sie den Zornesakt wieder und wieder, bis ihre Finger bluteten.

PAMM, PAMM, PAMM!

Ein Stein traf erneut das Schild, ein anderer den Türrah­­­men, ein dritter die Glocke rechts des Türsturzes. Das Metall schepperte und fiel zu Boden.

Immer mehr Steine warf Helene. Jeder ein Fluch, jeder eine Verwünschung, die sich seit dreihundert Jahren in ihr aufge­­­staut hatten. Dieser böse Ort, dieses verfluchte Haus, hatte ihr ihren Bruder genommen. Hatte so viel Leid über sie beide ge­­bracht.

Mit ihren Schuhspitzen und Absätzen hackte sie in die Erde, um weitere Pflastersteine zu lockern. Mit roher Gewalt zerrte sie sie aus dem Schmutz und schleuderte sie auf den grauen Mo­­­­­loch vor sich. Glas splitterte, Steine polterten in die Dunkelheit hin­­ter den Fenstertrümmern. Staubwolken wirbelten auf.

Helenes Bewegungen wurden immer wilder. Wie von Sinnen rannte sie auf das Haus zu, packte einen der Holzrahmen, an denen nur noch Scherben hingen, und zog und zerrte daran. Das Holz brach und sie drosch damit auf schräg hängende Fens­terläden und uralten Verputz ein.

Ihre Haare flogen, ihr Atem pumpte, ihre Hände bluteten. Es tat so gut. Jeder Schmerz, jedes Reißen, Brennen und Ziehen ließ sie spüren, dass sie am Leben war. Wasser auf ihre Mühlen. Sie spuckte ihre Ver­zweif­lung mit Wucht in die Welt und malträtierte die toten Reste des Hauses. Minutenlang. Als sie innehielt, war die Ruine noch da. Nicht verfallener als vor ihrem Angriff. Die Zeit hatte den größten Teil der Arbeit bereits vor vielen, vielen Jahren erledigt. Und da lachte Helene laut und klar. So sehr, dass das Echo ihrer Stimme zu einem vielstimmigen Ruf wurde, der freudlos durch die Gassen schallte.

Es war nicht das Haus – es war ihre Entscheidung gewesen, die die Katastrophe herbeigeführt hatte. Ihre Schuld. Kein Nachtalb hatte die Tür ins Dunkel aufgestoßen. Nur ihre Stur­heit. Dass ihr Bruder ihr nie einen Wunsch hatte abschlagen können, war nicht sein Fehler. Von jeher hatte er alles für sie ge­­tan. Sogar seine Seele für sie hergegeben … Es war Zeit, sich zu revanchieren.

Sie richtete ihr vor Dreck, Erde und Staub starrendes Kleid und strich sich mit blutigen Fingerspitzen ein paar wirre Sträh­nen aus dem Gesicht.

Dann nahm sie die Geräusche der Stadt in sich auf, entfernte mit feinem Gespür all jene, die nur das Echo einer entvölkerten Welt waren und konzentrierte sich auf den einen Laut, der nicht dazugehörte.

»Du kannst jetzt rauskommen«, rief sie.

Einen brennenden Atemzug lang geschah nichts. Dann sprang eine Gestalt aus ihrem Versteck in den Schatten einer breiten Häuserfront. Moritz.

»Ich wollte dich nicht …«, begann er, doch Helene brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.

Sie musterte ihn, noch immer bebend vor Anstrengung. »Ich habe eine Entscheidung getroffen«, sagte sie. »Wir werden deinen Plan umsetzen. Aber wenn wir es tun, dann richtig.« Mit ent­schlossener Miene wandte sie sich zum Gehen.

»Was ist das für ein Ort?«, fragte er und musterte die Ruine.

»Die Vergangenheit«, antwortete Helene. »Hilf mir, ein paar Männersachen zu finden … und eine Schere.«

Sie wollte gerade durch den Straßenspalt laufen, durch den sie gekommen war, als ein Schrei ertönte. Es rumste, zischte und polterte, dann kullerte eine dunkle Holzfigur aus den Schatten direkt vor Helenes Füße.

Es war das geschnitzte Abbild des schafs­­köpfigen Monsters, mit der schleimigen Kräuselzunge und den fetten Insektenbeinen, die ihm aus dem Kopf wuchsen. Seine feisten Augen waren in überraschtem Schrecken geweitet.

Konstanze trat durch den Spalt. Ihr Haar war zerzaust und ein dünnes Rinnsal Blut lief ihr aus der Nase. Sie wischte es ab, als wären es Tautropfen.

»Du musst mir alles erzählen, was du über die Monster an der Tür weißt«, keuchte sie an ihren Bruder gewandt und hielt einen Gegenstand ins Mondlicht. Es war ein hölzernes Siegel mit einem eingeritzten weißen Auge.

Moritz nickte baff, während Helene die Figur des Spions vom Boden aufhob und das flache Stück Holz in Augenschein nahm. Das herausgebrochene Fragment passte exakt in eine versteck­­te Aussparung zwischen den Spinnenbeinen der Kreatur.

Sie ließ die Holzfigur in Moritz’ Hände gleiten und reckte das Kinn. »Beeilt euch«, sagte sie. »Wir müssen eine Seele retten.« Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und rannte durch den Häuserspalt zurück in die Finsternis.

Keine Turmuhr schlug die Stunde, keine Kirchenglocke kün­­­digte den Tag an und doch wussten sie, dass es sechs Uhr am Morgen war. Die Welt verbarg sich unter einem eisernen Schlei­er und im Wagen herrschte tiefste Stille.

Unter Fieswurz’ wachem Blick packte Moritz alles, was er brauchen konnte, in einen Waffensack: den Teleskopstab, ein Talg­­licht, einen Feuerstein samt Zunderschwamm und die Tasse der Hexe. Den Brezelwächter würde er schultern.

Helene hatte ihm außerdem ein Beutelchen Mimosenhorn­salz überreicht. Das gelbe Pulver, das aus dem Horn einer im Un­­tergrund hausenden Pflanzenkreatur gewonnen wurde, ließ sich leicht mit den Fingern zermahlen. Richtig angewandt sorgte es dafür, dass diverse Monster niesen mussten. Was im ersten Augenblick albern klang, konnte im Zweikampf über Leben und Tod entscheiden, wie Moritz wusste.

Die bescheidenen Überreste des gelben Monsterpulvers hatte Helene in den Falten ihres Rockes versteckt, nachdem im Winter vor zwei Jahren ein Lügenbold in den Wagen eingedrungen war. Das possierliche Geschöpf, das sich von Flunkereien aller Art ernährte, hatte ihre vorweihnachtliche Betriebsamkeit ordentlich durcheinandergewirbelt. Nur durch Helenes Trick mit dem feinen Salz hatten sie Schlimmeres verhindern können. Moritz ahnte allerdings, dass sich weder das Pulver noch die anderen Teile seiner Ausrüstung dazu eigneten, den goldenen Tisch zu zerstören. Dabei musste ihm Fieswurz helfen.

Eine Bewegung am Vorhang. Er wandte sich um und sein Herz setzte einen Schlag aus. Vor ihm stand Helene. Sie trug prak­­tische Kattunhosen, schlichtes Schuhwerk, ein schmutzig weißes Hemd mit hochstehendem Kragen und passend gekno­tetem Tuch unter dem Kinn. Sie hatte sich die Haare abge­schnitten. Schwarz und wie vom Wind gebürstet umrahmten sie ihr Gesicht. Ein endgültiges Bild. Sie sah Moritz zum Ver­wech­seln ähnlich.

Im Arm trug sie einen runden Weidenkorb, der mit einer wei­­chen Decke gepolstert war. Edgars schlaffer, zerzauster Vo­­gelkörper lag darauf, in den grauen Schleier gehüllt, und stier­­­te mit blinden Augen in die Welt. Er zitterte wie von Frost geschüttelt.

Helenes Finger glitten hinüber zur Vorderluke. Draußen war­tete Konstanze in Winterumhang und Haube. Sie trug den Tor­nister mit dem lautlos lummernden Fips auf dem Rücken.

Als Helene den Korb durch die Luke reichen wollte, legte Moritz eine Hand auf ihren Arm. Er deutete auf die Weste und sagte tonlos: »Wickel ihn darin ein, dann wird sein Körper leichter.«

Helene verstand. Je weniger Erschütterungen Edgar ertragen musste, desto besser. Behutsam setzte sie das Korbgeflecht ab, während Moritz die Weste auszog. Sie hob die zitternde Elster mitsamt dem hauchzarten Schleier an und übergab sie Moritz.

Es war das erste Mal seit Wochen, dass er die Wärme und die federnde Leichtigkeit des Tiers wieder spürte. Der qual­­volle Aufschrei des Vogels, als er die Berührung der Handflächen fühlte, brach Moritz das Herz. Sein abgemagerter Leib war nur noch rasender Schmerz. Moritz musste all seine Selbstbeherrschung aufbringen, um unter der Last dieses schrecklichen Moments nicht zusammenzubrechen.

Helene arbeitete schnell. Sie nahm die Weste, formte ein schüt­­zendes Nest daraus und platzierte es im Korbinneren. Dann umfasste sie die schreiende Elster und ließ sie in die Wär­me des La-Ka-Fells gleiten. Sofort beruhigte sich der Vogel.

Konstanze nahm den Weidenkorb entgegen, wobei sie leise die zartgeformten Silben des Gedichts zitierte.

Dein Atem von den Lippen glüht,

Vergeht wie Amors letzter Kuss.

Die schwarze Blume ist erblüht,

Weil du mich nun verlassen musst.

Die Worte beruhigten die Elster.

Helene kletterte auf den Kutschbock und wandte sich ein letztes Mal an Moritz. »Deine Jacke«, flüsterte sie.

Er nickte und zerrte an den Ärmeln des schwarzen Klei­dungs­stücks, mit dem seine Reise vor über drei Jahren begonnen hatte. Damals war es ihm zu groß gewesen – heute viel zu eng. Helene passte die Jacke wie auf den Leib geschneidert. Mit dieser Geste machte sie seinen Plan zu ihrem.

Sie ergriff seine Finger und führte sie an ihre Lippen. »Viel Glück«, sagte sie und küsste sie flüchtig. Dann verschwand sie im Morgengrauen.

Unendliche Wärme durchströmte Moritz’ Glieder. »Dir auch«, flüsterte er ihr nach. Als er die Hand wieder sinken ließ, be­­merk­­te er einen verschwindend kleinen Gegenstand, der daran baumelte. Er funkelte sanft im Dunkellicht des Wagens. Das Me­­daillon der Familie Brenner. Zuerst stutzte Moritz, dann glaubte er zu verstehen. Konstanze musste Helene gebeten haben, es ihm zu überreichen. Es war ihre Art zu sagen, dass sie zwar nicht mit seinem Plan einverstanden war, aber er trotzdem nicht ohne den Schutz der Familie gehen sollte.

Er legte die Kette um, sodass das Medaillon dicht an seinem Herzen ruhte. Jetzt fiel ihm auf, dass sich Konstanze nicht von ihm verabschiedet hatte. Hoffentlich war das kein böses Omen.