Der Tod klapperte vor Entzücken. Trotz der Entfernung und des Dunkels war sich Helene sicher, dass seine Gebeine unter dem Flattermantel freudig aneinanderschlugen. Die Knochenmusik steigerte sich in ihrem Kopf zu einem unerträglichen Crescen­­­do, das ihren Geist lähmte.

In die Farben eines steingrauen Morgens getaucht hielt die al­­te Hexe weiterhin die Hand auf das Pflaster und starrte sie von den Stufen ihres Hauses aus an. Ein unbeweglicher Blick, der nichts Hämisches, nichts Feindseliges hatte. Gleichwohl be­­stimmte er die Richtung, in die dieser Morgen zu gehen hatte: zu ihr.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Konstanze.

Helene blickte auf Edgar in dem Weidenkorb hinab – seine Lider waren geschlossen, sein schmächtiger Vogelkörper hob und senkte sich unter dem Schleier unregelmäßig. Hin und wieder öffnete sich sein Schnabel zu einem Keckern. So leise, dass kein Ton herauskam.

Sie sah Konstanze an und wusste die Antwort nicht.

»Wir teilen uns auf«, schlug das kleine Mädchen vor. »Viel­leicht kann sie uns nicht beide gleichzeitig verzaubern.«

Helene nickte mechanisch.

Konstanze berührte sie an der Hand. Ihre Finger waren warm. »Wir laufen zusammen los und wenn sie uns nicht mehr sehen kann, teilen wir uns auf.«

So zuversichtlich, so erwachsen.

Langsam zogen sie sich vom Platz zurück und rannten die breite Straße neben dem Rathaus hinunter.

Helene versuchte, mit Konstanze Schritt zu halten, doch ihre Gedanken befanden sich am Ende eines eisigen Tunnels. Sie waren versponnen in den Möglichkeiten, die ihnen blieben. Im Grunde sollten sie Moritz und Fieswurz nur Zeit verschaffen, aber insgeheim hegte Helene die Hoffnung, einen anderen Weg hin­aus aus der Stadt zu finden und die beiden von ihrer Aufgabe zu entbinden.

Linker Hand kam wieder die schwarze Droschke in Sicht – diesmal würdigte Konstanze das leere Zaumzeug keines Blickes. Ihr Augenmerk galt der schmalen Seitengasse davor, die zwischen zwei Häuserfronten geschlagen war. Ein Torbogen spannte sich darüber. Sie nickte Helene zu.

Das kleine Mädchen verschwand in den Schatten des Ab­­zweigs, während Helene weiter geradeaus lief, um der breiten Gas­­se zu folgen. Ihre Wege und ihre Hoffnungen trennten sich.

Ein Lächeln umspielte die Lippen der Baba Jaga. Der Junge und seine Schwester gaben nicht auf. Dieses Spiel konnte man auch zu dritt spielen. Oder lieber zu sechst?

Sie nahm die Hand vom Pflaster, setzte sich auf die Stufen und richtete ihren schmerzenden Rücken. Mit einem kurzen Blick über die Schulter vergewisserte sie sich, dass sie die richtigen Knechte aussuchte.

Pot, der flüsternde Mund, würde sich gut eignen. Ebenso wie der riesenhafte Smaylik mit seinem unstillbaren Appetit. Und die doppelköpfige Würgerin Mer.

»Haltet sie auf«, brummte die Baba Jaga und richtete ihren Blick zurück auf die leere Häuserecke, hinter der die Geschwister verschwunden waren.

Es knackte bedrohlich vom Eingangsportal her. Holz schien zu bersten. Dann rasten zwei Schemen – einer massig und dunkel, einer schlangengleich und fahl – links und rechts über das Geländer der Veranda. Ein kleinerer dritter fegte neben ihr die Treppe hinunter. Die Kreatur blieb kurz stehen und präsentierte ihren weit aufgerissenen, modrigen Schlund, der Flüsterlügen ausspie: Jilda Scvablon vom Wittlitz-Hof macht bessere Kekse als du! Dann jagte sie den zwei größeren Knechten hinterher.

Die Hexe erschauderte. Was für ein gemeiner Furz dieser Pot doch war … und wie verflucht lecker die Kekse ihrer vermaledeiten Rivalin. Sollten sie ihr im Halse stecken bleiben!

Konstanze patschte durch dunkelgraue Rinnsale, Fips im Tor­­nister auf dem Rücken. Von bleiernen Pfützen unterbrochen schlängelte sich der bucklige Kopfsteingang zwischen den Häu­­­serschluchten dahin. Die Häuser mit ihren schmuckvollen Bogenfenstern rückten bedrohlich nah aneinander, sodass Kon­stanzes Mäntelchen und ihr Rock an den Steinwänden links und rechts entlang schliffen. Jeden Augenblick befürchtete sie stecken zu bleiben. Wer baute Häuser, die so dicht aneinander standen? Oder gehörte das zu einem Zauber? Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende geführt, als sich die viel zu schmale Gasse plötzlich vor ihr öffnete und den Blick auf einen schmutzig grauen Hinterhof freigab. Dieser Teil der Stadt schien nicht zu den übrigen Gebäuden zu passen. Zu schäbig, zu verlebt und heruntergekommen wirkte er. Ein durch und durch falscher Ort.

Morgendunst hing in der Luft, so hart und kalt wie die Bruch­steinwände der Häuser. Der Hinterhof schraubte sich mehrere Etagen in den steinernen Morgenhimmel und wies dunkle Fens­­ter und Ausbuchtungen auf. Eine ausgetretene Steintreppe führte zu einem höher gelegenen Hinterhauseingang, der wie sämt­liche Fensteröffnungen mit schweren Eisengittern verrammelt war. Ein Gefängnishof.

An einer Treppenseite auf der linken Seite standen zwei verwaiste Holzkarren neben einer Kellertür – ein Fuhrwerk, beladen mit durchweichten Holzresten, und ein Kummerkasten auf Rädern für die menschlichsten aller Abfälle: der Abort.

Das Pflaster hier war von totem Laub verklebt, obwohl nirgends ein Baum zu sehen war. Eine Sackgasse, und eine unheimliche noch dazu.

Konstanze wandte sich ab und wollte durch den Spalt zwischen den Häusern zurück auf die breite Straße gelangen, als sie ein Geräusch hörte. Hinter einem der Karren bewegte sich etwas. Jemand schmatzte.

Sie blickte über ihre Schulter. Fips schränzte und chracherte aus vollem Halse. Es kam nicht ein Ton aus dem tapferen Kerlchen heraus, doch seine Körpersprache war unmissverständlich. Er drehte sich wild um die eigene Achse, umklammerte den Rand des Tornisters, wobei ihm vor Anstrengung die Augen aus dem schuppigen Köpfchen quollen. Alles an ihm schrie stumm: Gefahr!

Konstanze wich zur Lücke inmitten der Häuser zurück, wollte losrennen … doch der Gang war verschwunden. Sie sah nur eine perfekte Wand. Steinern und alt. Der Fluchtweg war verschlossen. Der Hinterhof bildete ein makelloses Viereck ohne Zugang zu den Straßen Prags. Nur die höher gelegene Tür und der Kel­lereingang waren geblieben. Konstanzes kleines Herz pumpte fri­­­schen Mut in ihren Körper. Sie richtete ihren Blick auf die lär­menden Karren, hinter denen es verfressen schmatzte.

»Mock, Mock, Mock! Wer ist da?«

Fuhrwerk und Kummerkasten hielten inne – sie schienen zu überlegen, ob dieses Mädchen ihnen gefährlich werden könnte. Dann rumpelten sie weiter. Unverschämtheit!

»He, ich hab was gefragt!«, rief Konstanze. Fips trommelte mit seinen Krallen auf ihren Rücken. Es fehlte nicht viel und er würde aus dem Tornister springen und flüchten. Aber wohin?

Der Karren wurde beiseitegeschoben und geriet ins Rollen. Dahinter kam ein lippenloses Grinsen zum Vorschein. Konstanze sah Zähne, riesenhaft, verfault und menschlich. Nur dass kein Mensch ein derart großes Gebiss haben konnte und dermaßen gierig zu lächeln vermochte. Alles an dem Geschöpf war Fressen: Sein stierender Blick, die goldenen Schaufelhörner, das zottige, fast schwarze Fell, sogar seine schleichenden Bewegungen wollten sie verschlingen.

Es war das Wesen, das Moritz den Kinderschreck genannt hatte. Für Konstanze war es der Kinderfresser.

»Bleib weg von mir!«, rief sie und machte einen Schritt zurück.

Der Kinderfresser dachte nicht daran. Er legte eine knorpelige Tatze nach der anderen vor sich auf das schwarzgraue Pflaster und brachte den feuchten Dreck zum Knistern. Mit jedem Schritt schien sein Grinsen breiter zu werden. Was zuerst wie ein Trick anmutete, den sein Näherkommen auslöste, gerann zur Wirk­lichkeit. Der Kopf der Bestie dehnte und streckte sich, die Hörner und Augen verschoben sich, um den wachsenden Zäh­nen Platz zu machen.

Konstanze schlug die Hände vor den Mund und wollte weglaufen. Doch sie wusste nicht wohin. Der Kinderfresser kam im­­mer näher, sein Lächeln füllte den massiven Hinterhof mehr und mehr aus.

Das Biest langte mit einer Tatze nach Konstanze. Die schrie und lief los – zuerst zur Kellertür. Noch ehe sie die Hälfte des Hofs erreicht hatte, versperrte ihr eine Riesenpfote den Weg. Die Krallen wischten über den Steinboden und schleuderten Näs­­se und Schmutz in alle Himmelsrichtungen. Straßendreck spren­kelte Konstanzes Mäntelchen und ihr Gesicht. Eine graue Blät­tersuppe besudelte die Wände und die unerreichbare Keller­tür.

Ein zweiter Tatzenschlag folgte und das Mädchen quiekte. Es tauchte darunter weg und flüchtete unter das Fuhrwerk. Hastig robbte es voran, drückte sich flach in den Matsch, um nicht mit dem Tornister an der Unterseite des Karrens hängen zu bleiben. Vorwärts, immer vorwärts kroch Konstanze, bis sie die hintere Hauswand erreichte. Kaum hatte sie sich hingekauert, da warf sich der Kinderfresser herum und fegte das hölzerne Versteck mit dem Hinterteil hinfort. Das Fuhrwerk rutschte über den Hof und krachte gegen die nächste Steinwand. Der Gierschlund riss das Maul auf und zäher Speichel klatschte literweise aufs Pflas­ter. Er schien Freude an dem Katz-und-Maus-Spiel zu haben.

»Du machst mir keine Angst!«, brüllte Konstanze und sprang auf. Sie rannte auf die steinerne Treppe auf der gegenüberlie­genden Seite zu. Der Kinderfresser griente teuflisch und ver­such­te, das Mädchen mit einem gezielten Prankenhieb umzusto­­ßen. Es wirkte fast liebevoll, hatte jedoch den gewünschten Er­­­folg. Konstanze überschlug sich, fiel vor den Stufen in den Dreck und blieb auf der Seite liegen. Ihr Sturz sorgte dafür, dass Fips aus dem Tornister geschleudert wurde und aufs Pflaster purzelte.

Konstanze kniff die Augen zusammen. Sie hörte Krallen über den Boden flitzen – der Boogelbie nahm Reißaus. Sie atmete so flach wie möglich, drückte ihre Nase in den feuchten Schmutz. Der hinterhältige Gierschlund sollte nicht bemerken, dass sie putz­­­munter war. Im Kopf ging sie alles durch, was ihr Moritz über die Mons­­terfiguren an der Eingangspforte erzählt hatte. Er hatte nicht jede Plakette mit den eingeschnitzten Augen sehen können, zumindest aber die des Spions, der Schlange und des Kin­der­fressers. Der Spion war bereits aus dem Spiel und das Sym­bol des sabbernden Nimmersatts befand sich irgendwo an dessen Hinterteil. Doch wie kam sie da heran? Was hatte sie über die borstigen Monster gelernt?

Die Gefräßigsten unter ihnen waren im Grunde harmloser, als sie aussahen, solange ihr Magen gut gefüllt war. War das nicht der Fall, schwächte der Hunger ihre übrigen Sinne und mach­te sie blind für das, was um sie herum geschah. Bei dem Kinderf­­resser sorgte die Gier dafür, dass der Kreatur unendlich viel Wasser im Munde zusammenlief. Eine überaus glitschige An­­­ge­legenheit.

Mit klopfendem Herzen wartete Konstanze, bis der gemeine Kerl zur Ruhe gekommen war, dann öffnete sie vorsichtig ein Lid. Der Kinderfresser be­­obachtete sie, glotzte sie mit weit auseinanderstehenden Kugel­augen an und leckte sich über die kolossalen Menschenzähne. Der Geifer troff ungehindert aus seinem Maul. Konstanze sah die träge Suppe auf sich zukriechen und sprang unvermittelt auf. Sie entdeckte Fips, der versuchte die Trep­pen­stufen emporzuklettern und rannte zu ihm. Der Tor­nister hüpfte auf ihren Schultern. Sie schnappte sich den Boo­­gelbie und hastete die Stufen hinauf.

Der Kinderfresser krümmte seinen haarigen Rücken. Sein Grin­­sen wuchs noch einmal um ein paar Ellen und es knackte schmerzhaft, als mehr und mehr Zähne aus dem Kiefer hervorbrachen und sich zu einem Lächeln aus der Hölle zusammen­taten. Dicke Speichelfäden flossen zwischen den Zahnlücken hin­durch und klatschten auf den Boden. Im Nu stand der Fress­sack in einer Pfütze aus fauligem Sabber.

Als Konstanze den oberen Treppenabsatz erreicht hatte, hielt sie das Monsterchen in die Höhe.

»Du bist ein böser Mock! Wenn du mich nicht in Frieden lässt, wird Fips dir wehtun!«, rief sie.

Der Gierschlund gluckste. Sein Gesicht wuchs weiter, bis Kon­­­stanze seine Augen nicht mehr ausmachen konnte. Die Aug­äp­­fel bogen sich wie gigantische Napfkuchen zu den Seiten, bis der ganze Kopf nur noch ein einziges entsetzliches Lächeln war.

Fips fiel in Konstanzes Händen in Ohnmacht.

Das Menschenmaul klappte auf und zu, wie das Lachen einer hölzernen Puppe. Dann öffnete es sich, bereit, das Mädchen zu ver­schlingen.

»Du hast es nicht anders gewollt«, rief Konstanze und kitzelte den bewusstlosen Boogelbie unter den Achseln. Sofort kam Fips zu sich und fidolenzte, lummerte, higgelte, bobbelte und zusselte lautlos – alles gleichzeitig. Jeder freudige Laut, den das Wesen zu produzieren im Stande war, zeigte sich auf einmal. Die Bewegung, die daraufhin entstand, passte zu einem Geräusch, dass man nur als achtiie! bezeichnen konnte. Das Fehlen des Tones tat dem Effekt keinen Abbruch.

Unter den Schuppen des Kerlchens stoben Funken hervor wie bei einem Feuerwerk. Der ganze wackere Fips zuckte und ver­­­­schoss brennende, zischende Körnchen. Konstanze schrie, als sich die Zahnreihen des Kinderfressers auf sie herabsenkten und der Boogelbie in ihren Händen eine gewaltige Funkenwelle in den Himmel schoss. Ein Zischen, ein Rauchen, ein Knallen und Reißen, dann verschluckte sprühendes Licht den gesamten Innenhof.

Unmengen weißen Qualms schwebten durch die Luft. Sachte, ganz sachte lichtete sich der Nebel in weiten, wabernden Wellen.

Der Kinderfresser drehte sich um sich selbst – blind und wütend. Mit gekrümmten Tatzen tänzelte er in seinem eigenen Speichel herum und glitt aus. Mit einem knochenknackenden Geräusch kam er auf der Seite auf und wälzte sich im Schmutz.

Sofort ließ Konstanze Fips los und sprang die Steinstufen hinunter. Hastig umkreiste sie den zuckenden Berg auf der Suche nach der Plakette. Er stieß Heullaute und Verwünschungen aus, während sich sein Fell mit Geifer und Straßendreck vollsog. Konstanze hüpfte, um einen Blick auf die oberste Pobacke des Monsters erhaschen zu können, doch als sie in der Sabberlache aufkam, zog es auch ihr die Beine weg. Sie schlug hart auf dem Stein auf und die Welt verschwamm für einen Augenblick. Und als sie sich langsam wieder zusammensetzte, sah sie ein einfaches Holzauge an der Unterseite des Hinterteils.

Konstanze robbte voran – durch den Sabber, durch den Dreck – und näherte sich dem Allerwertesten. Sie sah die Zu­­ckun­­­gen des Monsters und streckte ihre Hand nach der Plakette aus, als sich der Körper des Kinderfressers plötzlich aufbäumte. Konstanze sah den Schatten auf sich zurollen, presste das Ge­­sicht in den Schleim und griff zu.

Das Monstrum erstarrte, nur um sich in einem wüsten Vor­wärtsruck zusammenzuziehen. Sein massiger Körper schrumpfte und verwandelte sich in dunkles Holz.

Einen angsterfüllten Moment lang rührte sich Konstanze nicht. Sie lag auf der Erde, den Blick voraus gerichtet und die Pla­­kette fest umklammert. Irgendwann näherten sich leise Kral­­le­n­­füße. Eine warme Zunge liebkoste ihre klebrige Wange. Kon­stanze wandte den Kopf.

Fips hockte neben ihr im Sabber. Er öffnete das Maul und schlackerte mit den schuppigen Lippen. Natürlich kam kein Ton heraus, aber Konstanze verstand auch so: Er wupperte und zosselte. Die Gefahr war gebannt.

Sie erhob sich und blickte sich um. Der Hinterhof war völlig verwüstet. Das Trümmerfeld passte hervorragend zu ihrer Kleidung, die vor Monsterspucke triefte. Trotzdem stahl sich ein Lächeln auf ihr Gesicht: Die Lücke zwischen den Häusern war wieder da. Sie schien obendrein deutlich breiter zu sein als zuvor. Ihr Blick fiel auf die verkohlt aussehende Figur des Kin­derfressers auf der Erde. Genau wie der Spion und der Beob­­achter hatte sie sich in totes Holz zurückverwandelt.

»Das kommt davon, wenn man sich mit einer Boogelbie­ex­­pertin anlegt«, rief Konstanze. Sie legte den Tornister ab, setzte den tapferen Fips hinein und verstaute auch die dunkle Mons­ter­­­figur und die Plakette darin. Dann schulterte sie alles und ver­­­ließ den Hof.