Konstanze schlug die Richtung ein, in die Helene gelaufen war, als sie ein Schluchzen vernahm. Herzzerreißend und erstickt. Eine wohlbekannte Bewegung auf ihrem Rücken ließ sie innehalten. Fips pleurrte stumm, sein Körper war ein einziges auf­gebrachtes Beben. Gefahr!

Konstanze würgte ihre Angst hinunter und folgte dem Wim­mern hin zur schwarzen Droschke nahe dem prunkvoll ausgestatteten Bücherladen. Bevor sie etwas sah, nahm sie den Geruch wahr: beißend und stechend. Sie hielt sich die Nase zu und spähte in die Lücke zwischen dem offenen Gefährt und der verglas­­ten Ladenfront. Jemand kauerte dort im trüben Morgenlicht. Zu­erst glaubte sie, mehrere schmutzige Bettlaken um einen Kör­per ge­­wickelt zu erkennen, doch als sich die trübweißen Schemen be­­wegten, erkannte sie geisterhafte Schlingbewegungen. Helene lehnte am Sockel des steinernen Hauses und weinte bitterlich. Der wunde Leib der Schlange hatte sich um sie gelegt, wie ein ver­­wesender Kokon.

Als Konstanze nähertrat, vernahm sie eine Stimme: Er hat Schmerzen. Er leidet. Er schreit für immer.

Die Worte lähmten sie. Sie erkannte das garstige Flüstern – es war dasselbe, das ihr zwei Nächte zuvor auf dem Waldweg eingeredet hatte, dass ihr Bruder sie im Stich lassen würde. Keine Silbe davon stimmte.

Konstanze suchte nach der Quelle der Lügen und fand sie: ein zweites Monster. Klein und so dunkel, dass sie es auf Helenes schwarzem Haar zuerst nicht bemerkt hatte – das widerwärtige Subjekt, das nur aus bösem Mund bestand. Es klammerte sich am Hinterkopf ihrer Freundin fest und stülpte seine abnorme Mundhöhle wie eine Kappe über ihren kurzgeschnittenen Schopf.

Edgar wird für immer sterben. Und es ist deine Schuld!

Helene weinte und wiegte sich im Klammergriff der Schlange vor und zurück, in unheimlicher Weise, und sprach immer wieder dieselben vier Worte. »Es ist meine Schuld … es ist meine Schuld …«

Konstanze schlich rückwärts, jeder Schritt ein knisterndes Wagnis. Wo war Edgar? Helene würde ihn niemals allein lassen. Ihre Augen huschten zur Tür der Droschke. Sie war nur angelehnt. So leise sie konnte, glitt sie voran. Vergiftete Wörter waberten durch das Morgengrauen.

Wenn du nicht gewesen wärst, wäre das alles nicht geschehen …

Zitternd erklomm Konstanze den Trittbügel. Die Angeln schwie­­gen, als sie die Tür öffnete. Eilig zog sie sich in den Fuß­­raum des Gefährts und schloss die Augen. Sie wartete, bis das leich­te Schwan­ken des Fahrzeugs zur Ruhe gekommen war, erst dann riskierte sie einen Blick. Vor ihr stand der geflochtene Wei­den­korb. Helene hatte ihren Bruder hier in Sicherheit ge­­bracht.

Konstanze inspizierte das Innere. Edgar war ganz ruhig und still. Ruhiger und erschöpfter noch, als je zuvor. Ein paar Federn, zart und weich, lagen in den Fellspitzen der La-Ka-Weste ver-borgen. Er schien sie sich selbst ausgerupft zu haben.

Konstanze kletterte auf die Rückbank des Fahrzeugs, stets darauf gefasst, ein verräterisches Knacken zu verursachen, doch ihr Körper war leicht und das Holz stabil. Vorsichtig lugte sie über die Kante. Unter ihr an der Häuserwand hockte Helene. Ihr Gesicht war staubverkrustet und heiße Tränen zeichneten fei­­ne Rinnsale auf ihre Wangen. Die fette Schlange hielt sie fest, den langen, vor Entzündungen glänzenden Rumpf um sie gelegt. Auf dem Haupt ihrer Freundin saß der durchtriebene Flüsterer.

Die Gesichter der Schlange waren verborgen. Sie mussten sich irgendwo hinter Helene verstecken. Ob sie ahnte, dass die Stelle zwischen ihren Köpfen, wo sich laut Moritz die Holzplakette mit dem Auge befinden musste, ihre Schwachstelle war?

Aber das Flüstermonster … Konstanze reckte den Kopf. Moritz hatte nicht sagen können, wo sich sein hölzernes Auge verbarg. Sein ganzer Körper wirkte dunkel und unförmig. Es schien kein vorne und hinten zu geben, kein unten und oben. Nur Mund, was eigentlich unmöglich war. Und trotzdem saugte dieses Etwas wie ein Egel an Helenes Geist.

Du bist eine schlechte Schwester …

Konstanze zog den Kopf zurück und überlegte. Lautlos streifte sie den Tornister ab und stellte ihn neben sich auf den Sitz. Sie sah in Fips schreckgeweitete Augen und griff an ihm vorbei ins Innere des Behältnisses. Sie holte die Plakette und die Figur des Kinderfressers heraus. Einen Moment schloss sie die Augen und suchte nach ihrem Mut … dann schleuderte sie das kleinere Stück Holz im hohen Bogen hinter die Droschke aufs Pflaster.

Das Geräusch war so laut, dass die Flüsterstimme verstummte. Augenblicklich hob ein giftsprühendes Zischen an, in das sich Helenes ersticktes Seufzen mischte. Konstanze machte sich ganz klein und umarmte den Tornister. Sie versuchte Fips in ihren Kreis der Heimlichkeit einzuschließen. Nie hätte sie gedacht, dass sie einmal froh darüber sein würde, dass ihr treuer Freund keinen Laut mehr von sich gab. Ein bitterer Gedanke, der sie ur­plötzlich zornig und stark machte. Sie packte die Holzfigur und blickte über die Kante. Die Schreckenschlange hatte ihre Köpfe gezeigt. Blutrot schimmerten sie im Morgendunst, dazwischen prangte die Plakette mit dem weißen Auge. Das Biest hatte sich zusammengezogen und schnürte Helene die Luft ab. Auch das Flüstermonster hatte seine Position verändert. Sein abstoßender Mund war nicht mehr auf Helenes Haupt gerichtet, er starrte wie ein leeres Zyklopenauge in Richtung der fortgeschleuderten Plakette.

Konstanze sprang über die Kante, einen Kampfschrei auf den Lippen. Mit der Statue in ihrer Hand versetzte sie dem Flüsterer einen Schlag mitten ins geöffnete Maul. Das Monster wurde fortgerissen und Helenes Haar flog zur Seite. Zappelnd landete der Flüsterer im Eingang des Bücherladens.

Infernalisches Zischen hob an, als Konstanze vor den Mäu­lern der Schlange aufkam. Ätzender Atem schlug ihr entgegen, während Helene in der Umarmung des Untiers seufzte. Kon­stanze bedeckte ihre Nase und langte mit der Statue nach den Köpfen, aber die Kreatur war flink. Ihre zuckenden Win­dungen verwandelten sich in ein Meer eitriger Schlingen, die Helene in die Luft hoben und davonzutragen versuchten. In ihrer Ver­­zweiflung schleuderte Konstanze die Holzfigur zwischen die Köpfe. Die Schlange duckte sich und die Statue krachte gegen eine Hauswand. Polternd blieb sie auf dem feuchten Pflaster liegen.

Eine hämische Grimasse entstellte die tiefroten Gesichter der Schlange – sie bereitete sich auf den Angriff vor. Konstanze wich zurück und riss die Arme nach oben, als ein Schemen auf die vorschnellenden Schlangenmäuler hinabsauste. Ein schuppiger Körper landete auf den Schädeln des Monsters und trommelte wild auf sie ein. Konstanze sah Raffzähne aufblitzen und Krallen, die nach den unheimlichen Augen der Schlangenkreatur kratzten. Fips hatte sich auf die Bestie gestürzt!

Ein irres Schütteln pflanzte sich über den Leib der Schlange fort und ehe Konstanze einen klaren Gedanken fassen konnte, lösten sich die Schlingen um Helenes Körper. Sie sank zur Erde, rang nach Atem.

Vollkommen erstaunt beobachtete Konstanze Fips’ Kampf mit der Schlange. Er biss sich zwischen den Köpfen fest, hatte es auf das Holz der Plakette abgesehen. Der wimmelnde Körper des Monsterreptils bäumte sich auf und schlug zuerst auf die Droschke ein, krachte dann gegen die Scheibe des Buchladens. Glas splitterte. Konstanze und Helene zogen die Köpfe ein. Scher­­ben prasselten auf das graue Pflaster.

Die Schlange taumelte kreischend in die Auslage des Ladens und fegte Lyrikbände, Liebesgeschichten und Gebetsbücher von ihrem Platz. Ihr Körper wühlte und wand sich. Sie donnerte auf Regale und die Schaufensterverkleidung ein, um den Angreifer zwischen ihren Köpfen loszuwerden. Doch Fips ließ nicht locker.

»Wir müssen ihm helfen!«, rief Konstanze.

Ihre Stimme wirkte wie ein Schwall kaltes Wasser auf Helene. Die junge Frau stemmte sich in die Höhe.

Konstanze streifte ihr schmutziges Mäntelchen ab und lief zu ihr. Sie griff nach der größten und spitzesten Glas­scherbe, die sie auf die Schnelle finden konnte und wickelte sie in den Stoff ein. Dann traten sie vor die Auslage, die wie ein klaffendes Scher­benmaul aussah. Drinnen tobte der totenbleiche Schlan­genleib im Halbdunkel.

»Auf drei«, sagte Helene. »Eins …«

Giftiger Atem zischte.

»Zwei …«

Der Körper peitschte.

»Drei!«

Helene und Konstanze packten die Scherbe gemeinsam und stachen in den Körper. Eine schwarze, ölige Suppe, die nichts mit Blut oder Leben zu tun hatte, quoll aus der Wunde hervor. Die Schlange riss die Köpfe in einem wilden Schrei nach oben. Kurzzeitig erstarrte sie in einer majestätischen Pose. Dann er­­tönte ein hölzernes Knacken und der Bann war gebrochen. In einer aberwitzigen Bewegung zog sich ihr Körper zusammen und verwandelte sich in ein dunkles Stück Holz.

Fips stürzte in die Tiefe und landete in einem Sammelsurium aus Gedichtbänden und Glassplittern. Er schüttelte sich und blickte Konstanze und Helene verwirrt an, als ob er fragen würde: Bin ich das gewesen?

Einen atemlosen Moment passierte nichts, dann begann He­­lene zu lachen. Verzweifelte Tränen mischten sich darunter. Eine Berührung Konstanzes genügte, um sie zusammenbrechen zu lassen. Erschöpft sank sie zu Boden.

Verwirrt und ergriffen von dem Chaos der Gefühle, setzte sich das kleine Mädchen zu ihrer Freundin in das Scherbenmeer und streichelte ihr Haar, ihre Schultern, ihre Arme und Finger. Sie wiegte sie, wie eine Mutter es tat, und flüsterte leise Worte. Und eine garstige Stimme flüsterte zurück:

Dein Bruder hat dich verlassen …

Die Worte kamen so plötzlich über Konstanze, dass sie sich nicht wehren konnte. Eine fremde Macht griff nach ihr. Packte ihren Kopf und nistete sich darin ein. Sie füllte ihn vollständig aus. Die Welt verschwamm.

Niemand kommt, um dich zu retten …

Helene war verschwunden und Konstanze drohte zu ertrinken. In Tränen, in Trauer, in dunkler Schwere, die ihren Körper fesselte und nicht mehr losließ. Die Worte zogen sie hinab in eine Tiefe, die ihr schmerzlich bekannt vorkam. Ein schwarzer Traum: das Innere der Maske!

Du bist ganz allein …

Niemand konnte ihr helfen. Niemand reichte ihr eine Hand, einen rettenden Anker, um sie aus der Dunkelheit emporzuziehen.

Dein Bruder ist tot …

Konstanze kämpfte, strampelte – glaubte es zumindest. Ihre Augen, ihr Mund, ihre Nase waren verschlossen. Sie bekam kei­­ne Luft mehr. Die Hilflosigkeit über den Tod ihres Bruders droh­te sie zu ersticken.

Dann riss die Trauer auf. Ein unheimlicher Schlag ließ ihren Kopf nach hinten gleiten, auf das Pflaster, auf Glasscherben, zurück in die Welt.

Konstanze schrie, halb, um sich ihrer eigenen Stimme zu vergewissern, halb, um zu spüren, dass sie am Leben war. Die Kälte des Morgens umarmte sie und gab ihr Gewissheit.

Helene war bei ihr. Ihre Worte waren ein Wasserfall, der Kon­­­stanzes noch wirren Geist umspülte. »Es ist alles in Ord­­nung … Ich habe ihn besiegt … Du bist in Sicherheit … Das Wesen, der Mund, er hat dich angegriffen … Ich habe ihn nicht kommen sehen … Es tut mir leid!«

»Das Auge«, presste Konstanze hervor.

»Ich wusste nicht, was ich tun sollte … Da habe ich …«, Helene versteifte sich vor Ekel, »… in den Mund gegriffen!«

Konstanze krallte sich an Helenes Jacke fest, die so sehr nach ihrem Bruder duftete. Sie zog sich in eine sitzende Position und starrte der jungen Frau mitten ins Gesicht. »Ich habe hineingegriffen«, stammelte die immer wieder. »Hineingegriffen!«

Konstanze blickte auf Helenes Hand. Sie war zur Faust geballt und über und über mit glänzender Schwärze überzogen. Es sah aus wie das tote Blut, das aus dem Körper der Schlange hervorgequollen war. Und als Helene die Finger zitternd öffnete, sah sie die dunkle, rautenförmige Plakette mit dem Augensymbol. Helene hatte es dem Flüsterer aus dem Rachen gerissen.