Eine ganze Weile knieten Konstanze und Helene in der Droschke, das Weidenkörbchen zwischen sich. Der Haufen ausgefallener, mausgrauer Federn war gewachsen. Edgars Brust und seine Schultern wurden immer kahler – die zarte, blanke Haut darunter lag aufgescheuert da. Er schien zu schlafen, doch sein Köpfchen ruckte unruhig im Traum. Ob es wohl Nachtalbe für die kleinsten aller Tiergeschöpfe gab, fragte sich Konstanze. Sie hoffte inständig, dass dies nicht der Fall war.
»Was können wir tun?« Helenes Flüstern riss sie aus ihren Gedanken.
»Wir warten hier«, antwortete Konstanze leise.
»Was, wenn Moritz und Fieswurz es nicht schaffen?«
Diesen Gedanken wollte sie nicht zulassen. »Sie schaffen es. Ganz bestimmt!«
»Aber wenn die Baba Jaga sie schon gefangen genommen hat?« Wieder traten Tränen in Helenes Augen. Sie verbarg ihr Gesicht in den Falten von Moritz’ Jacke.
»Das hat sie nicht«, sagte Konstanze entschieden. »Ich fühle das. Sie brauchen nur mehr Zeit.« Sie erhob sich. »Und die werden wir ihnen verschaffen. Hoch mit dir!«
Helene blickte auf – ganz rote Augen, blasser Mund. »Was hast du vor?«
»Wir bitten um Hilfe.«
»Bei wem?«, fragte Helene angstvoll.
Konstanzes Ausdruck versteinerte. »Bei dem Einzigen, vor dem die Baba Jaga Angst hat.« Sie reichte Helene die Hand, um ihr aufzuhelfen.
Pot, Smaylik und Mer hätten schon längst mit den Kindern zurück sein müssen. Darüber hinaus war auch der verdammte Kater verschwunden und die Kälte ließ ihre Glieder steif werden. Ein durch und durch unerfreulicher Morgen!
»Bring wenigstens meine Schuhe mit, wenn du wieder rauskommst«, rief die Baba Jaga. Doch der räudige Vierbeiner zeigte sich nicht. Hoffentlich war er nicht erneut in eine Zeitschleife geraten.
»Dummes Ding!«, knurrte sie von den Stufen, als plötzlich der Junge mit seiner Schwester wieder auftauchte. Sie rannten vom Rathaus hinüber zu ihrem Fahrzeug, verschwanden für Sekunden dahinter und liefen dann direkt auf die Baba Jaga zu, zum Eingang ihres Hauses.
Der Junge sah seltsam aus – verändert. Er schien blasser und weicher zu sein, als bei ihrer letzten Begegnung. Aber das war egal. Viel interessanter war das kleine Mädchen, das vorauslief. Es schrie nämlich: »Aus der Bahn!«
Die Hexe reagierte. Sie trat die Stufen hinauf und stampfte mit einem Krallenfuß auf. Das Haus gehorchte. Es richtete sich auf und stemmte sich dem grauen Morgen entgegen.
Das Mädchen und ihr Bruder rannten zwischen den Hühnerstelzen hindurch, während die Baba Jaga in luftiger Höhe versuchte, sowohl ihr Nachtgewand als auch ihre Selbstachtung zu richten. Etwas Derartiges hatte noch niemand zuvor gewagt. Es zeugte von sehr wenig Respekt vor ihrer Bedeutsamkeit als Mutter aller Hexen. Sie schüttelte sich und lächelte: was für ein außerordentliches Mädchen!
Die Baba Jaga stampfte erneut mit dem Hahnenfuß auf und das Haus wandte sich um. Gedankenvoll beobachtete die alte Frau, wie die Kinder zwischen den dunklen Arkadenbögen auf der gegenüberliegenden Seite des Altstädter Rathauses verschwanden. Sie waren nur noch Punkte, die ihren Weg durch die Schatten suchten.
Als sie auf der Langseite im Norden nicht wieder herauskamen, ahnte die Hexe, wohin die zwei verschwunden waren. Sie mussten durch den breiten Gang gerannt sein, zum versteckten Westportal zwischen den Doppeltürmen der Basilika St. Maria vor dem Teyn.
Die Zähne der Hexe mahlten. Wo blieben ihre Knechte? Warum griffen sie nicht ein? Einer üblen Ahnung folgend erhob sie die Hand und erforschte mit schmerzenden Gliedern die Luft. »Zu mir!«, raunte sie.
Der Wind folgte dem Befehl. Ein hölzernes Poltern hob an – entfernt zuerst, dann lauter werdend. Etwas näherte sich. Die Baba Jaga lief das Geländer unter dem Vordach entlang und starrte nach hinten. In der Tiefe tanzten drei Objekte über den Marktplatz, aus der Richtung, aus der die Geschwister gekommen waren. Pot, Smaylik und Mer. Alle zu Holz erstarrt.
Die Hexe zog den Kopf ein, als die Überreste ihrer Schergen in einem scharfen Bogen zum Haus hinaufflogen und ihren Platz am Türrahmen einnahmen. Dort knisterten sie dunkel und leblos. Ihre Siegel waren gebrochen. Selbst das versteckte im Inneren des unsäglichen Pots hatten die Brenner-Kinder gefunden.
Das Lächeln der Hexe verbreiterte sich. Schneidender diesmal. Sie wankte zu den Stufen hinüber und starrte hinauf zu dem Knochengestell, das sich im drängenden Morgenlicht des beginnenden Tages am Südturm der Teynkirche festklammerte. Und der alte Zhatka stierte zurück.
Diese Kinder fürchteten weder Tod noch Teufel. Prächtig! Sie stampfte zweimal mit den Krallen auf. »Mörserlein, zu mir!«
Eine unscheinbare Klappe an der Unterseite des Hauses öffnete sich und spuckte den Kelch eines Riesen aus. Er segelte unter dem Gebäude entlang, trat aus dem Windschatten hervor und hielt in respektvollem Abstand vor seiner Meisterin an.
Der Becher aus Holz war hexengemäß geformt, was so viel bedeutete wie: Er war tief genug, dass ein Paar Beine samt Hahnenfüßen und Fuchsschweif darin verstaut werden konnten, und unbequem genug, um ein Mindestmaß an standesüblicher Hexengrimmigkeit aufrecht erhalten zu können. Dazu gehörte ein kunstvoll geschwungener Eisenstößel mit dem Kopf eines Bären an der Spitze. Das Vehikel schwebte mehrere Meter über dem Boden und wartete auf seine Passagierin. Wer brauchte Besen, wenn man per Mörser reisen konnte?
Der Blick der Baba Jaga fiel auf die letzten zwei verbliebenen Knechte der Eingangspforte, die rechts und links des Oberlichtes in den Rahmen eingelassen waren. Knok und Hora, die Knochenbrüder. Gekreuzt aus den Gerippen verstorbener Wolfshunde und den Überresten schwarzer Ziegenböcke waren sie für die Wilde Jagd erschaffen worden, die Prozession an Hexenfeiertagen; dann wälzten sie ihre Körper im Feuer und tanzten zum Klang der Hexenmusik. Nun war ihre Zeit gekommen.
»Folgt mir«, murmelte die Alte und sah zu, wie der obere Teil des Rahmens zum Leben erwachte. Mit gesenkten Häuptern und weit geöffneten Mäulern entstiegen die Brüder ihrem hölzernen Gefängnis. Sie schüttelten die Steifheit von ihren Knochen, wobei ihre Körper in den frühmorgendlichen Schatten des Vordachs wie Alabaster schimmerten.
»Vasili«, rief die Baba Jaga in die Dunkelheit des Vorraums. »Pass gut auf das Haus auf! Ich komme gleich wieder.«
Den zerrissenen Vorhang bemerkte sie ebenso wenig, wie den Kater, der unter einer der Sitzbänke hockte und die Tür jenseits der Stofffetzen belauerte.