Prag, Dezember 1501

»Liest du mir etwas vor?«

Helenes Stimme riss Edgar aus seinen Gedanken. Erst jetzt be­­merkte er, dass er in der hintersten Ecke der Dachkammer stand. Er musste in den letzten Minuten aufgeregt hin und her ge­­laufen sein.

Edgar öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, da sah er die feine Schnur, die Helene über der Bettdecke in ihrer Hand hielt. Sie gehörte zu einer von zwei Fallen, die sorgfältig im Raum versteckt waren.

Schweigend und erschöpft von den Arbeiten der vergangenen Tage ging Edgar zu dem Himmelbett hinüber und nahm Platz. »Bist du sicher, dass du das tun willst?«

»Du bist doch da, Bruderherz. Du beschützt mich. Was kann mir schon passieren?« Helene schenkte ihm ihr unverwech­sel­bares Lächeln. Ein Lächeln, das so viel sagte und noch mehr ver­­­­­schwieg. Sie schien unverwundbar. »Ich bin bereit für ein Ge­­dicht.«

Obwohl Helene mit ihm die gefährlichsten Orte auf­­such­­te und dabei den grässlichsten Geschöpfen begegnete, weigerte sie sich, ohne ein Gedicht zur Nachtruhe einzuschlafen. Trotz allem war sie eben auch ein Mädchen von gerade mal dreizehn Jahren.

Edgar griff in seine Tasche und holte ein kleinformatiges Buch in einem prächtigen pflaumenfarbenen Einband hervor. Auf dem Vorderdeckel prangte eine goldgeprägte Arabeske in Form einer Raute aus Dornen und Rosenblüten, dunkel und ro­­man­­tisch.

Das Innere des Buches war nicht weniger aufsehenerre­­gend. Auf cremefarbenem Büttenpapier war eine feine, schräge Hand­schrift zu sehen, wie man sie in Eleganz und Ausgewogenheit nur sehr selten fand. Es war die Handschrift des Autors Aldus Piri.

»Möchtest du, dass ich eines für dich heraussuche?«, fragte Edgar wie jeden Abend. Es war ein Ritual mit immer gleicher Ab­­folge, von der die Geschwister selbst in schlimmsten Zeiten nie abwichen.

»Ich denke, ich kann dir vertrauen«, antwortete Helene.

»Wie wäre es mit La mélodie mortelle

»Wenn du darauf bestehst.« Ein Lächeln.

Edgar musste nicht erst nach der Stelle im Buch suchen, es sprang auf und präsentierte die Zeilen des Gedichtes von selbst. Jahrelanger Gebrauch hatte das Buch geschult.

Mit ruhiger Stimme las er: »La mélodie mortelle …«

»Auf Deutsch, bitte«, unterbrach ihn Helene.

»Wie du wünschst.« Edgar räusperte sich und konzentrierte sich auf die handschriftliche Übersetzung, die er auf einem losen Blatt für die Verse festgehalten hatte. Von Zeit zu Zeit hatte er sie verfeinert, die Reime geschliffen.

Todesmelodie.

Dein Atem von den Lippen glüht,

Vergeht wie Amors letzter Kuss,

Die schwarze Blume ist erblüht,

Weil du mich nun verlassen musst.

Die Erde nimmt dich in sich auf,

Es friert mir ein die Seele,

Die finst‘re Kraft zieht ihren Lauf,

Sie schnürt mir zu die Kehle.

Mein Blut verwandelt sich in Eis,

O steter Fluss aus Schmerzen,

Ich spiel‘ die Geige, doch ich weiß,

Berühr‘ ich nie die Herzen.

Die Stille, die das Land erfasst,

Dröhnt donnernd wie ein Schlag,

Ich rufe klagend meine Last,

Hinaus an jedem Tag.

Und oben auf des Turmes Spitze,

Sitzt Tod und lacht mich aus.

Sein Klappern dringt durch jede Ritze,

Füllt meinen Geist mit Graus.

Voll Zorn ergreif‘ ich seine Geige,

Das knöchern‘ Instrument,

Sodass die Liebste aufersteige,

Uns zwei nun nichts mehr trennt.

Der Bogen blitzt, die Saite singt!

Wie heiße Klinge kalten Leib

So öffnet sich die Grub geschwind:

Und aufersteht das tote Weib.

Die Schönheit trifft mich wie ein Speer,

Doch packt mich auch Entsetzen,

Ist sie doch tot und fühlt nichts mehr,

Umgarnt von Spinnennetzen.

Das Lachen fern, die Hand ganz fahl,

Verändert ihr Gemüt,

Ihr Odem fehlt zu meiner Qual,

Ihr Blick der Welt entflieht.

Sie ruft mich an: »Lass mich in Ruh!«,

Ganz madig ihr Gekröse,

Sie hält sich wild die Ohren zu,

Auf dass ich sie erlöse.

Und ich gehorch‘ in meiner Pein,

Es schweigen Hand und Bogen,

Die Liebste sinkt ins Grab hinein,

Lässt mich zurück betrogen.

Fort ist die Liebste, fort der Lohn,

Und auch Gevatter Tod,

Er nahm Reißaus beim ersten Ton,

Verscheucht durch meine Not.

Ich bin verdammt zu spielen nun,

Gehüllt ins Leichentuch,

Bis einer kommt, ’s mir gleichzutun,

Und weiterträgt den Fluch.

Edgar schloss die Tür.

Er stellte den Käfig mit dem leise zarrenden Boogelbie auf dem Dielenboden ab, legte die Radschlossbüchse und den Sack mit den Eisenmaschen daneben und ließ sich im Türrahmen nieder. Sachte hielt er ein Ohr an die Tür.

Helene atmete ruhig und gleichmäßig. Sie war bereits eingeschlafen, bevor er die letzten Zeilen des Gedichts beendet hatte. Ob sie den Schluss überhaupt kannte?

Edgar blinzelte angestrengt und starrte die schmale Treppen­stiege des Tenký dům hinunter, die sich wie ein schwarzer Berg­bautunnel in die unteren Etagen wand. Das Dünne Haus – was für ein lächerlicher Name für eine Herberge. Er schmunzelte.

Jetzt schlug die Erschöpfung erbarmungslos zu und forderte ihren Tribut. Drei Tage akribischer Arbeit. Drei Tage gefüllt mit Denken, Planen, Fallenstellen. Drei Tage ohne Schlaf.

Edgars Lider brannten und sein Körper schmerzte. Sein Geist nahm die Umgebung nur noch in verschwommenen Schemen wahr. Das Licht des Dezembermondes fiel durch die bemalten Fenster hinter ihm und sprenkelte alles in vielfarbigem Scher­ben­­glanz. Edgar betrachtete den Saum seines Gehrocks, die Auf­schläge der Manschettenärmel und stellte fest, dass die bunten Lichtpunkte sein Gewand in das eines Harlekins verwandelt hatten. Er war ein Narr. Ein Narr, der seine Schwester zum Köder für ein Monstrum machte.

Die Schatten wurden länger. Irgendwo bellte ein Hund. Das monotone Zarren des Boogelbies wirkte hypnotisch. Edgars Li­­der wurden schwerer und schwerer. Er schloss die Augen – nur einen Moment –, wollte ihnen eine Minute Ruhe gönnen. Doch sie blieben geschlossen.

Ein seltsames Geräusch drang an sein Ohr, fremd und doch vertraut. Ein Schnarren, das stetig lauter wurde. So laut wie ein Schrei.

Der Boogelbie!

Edgar erwachte und starrte in das weit geöffnete Maul des kleinen Geschöpfes. Es schränzte aus vollem Halse. Sein schuppenbesetzter Körper hob und senkte sich wie ein Blasebalg. Ein Blick zur Tür. Helene! Edgar packte den Sack mitsamt der Büchse, sprang ins Zimmer und erstarrte.

Ein haariges Wesen mit Ohren, lang und spitz wie Messer­klingen, hockte im Halbdunkel auf Helenes Brust. Man hätte es für eine fette Katze halten können, wären da nicht die fledermausartigen Flügel und das seltsam dunkle Flirren gewesen. Eine schwarz-violette Woge aus flackernder Dunkelheit um­­hüllte die Kreatur, als ob sie zwischen zwei Welten festhängen wür­de – dem Diesseits und dem Jenseits.

Ein Nachtalb.

Helenes Kopf zuckte unruhig im Schlaf. »Nein, Edgar! Pass auf!«, murmelte sie, während der Nachtalb über sie kam. Er öffnete sein Maul, das unter nachtschwarzem Fell verborgen gewe­sen war. Spitze Fangzähne blitzten auf.

Der Boogelbie schronzte!

Der Laut wirkte wie eine Ohrfeige. Vergessen war der Sack mit den Eisenmaschen, mit dem Edgar den Unhold fangen wollte – er spannte den Hahn seiner Büchse und richtete den Lauf auf den Rücken der Kreatur.

Der Kopf des Nachtalbs ruckte herum. Er keifte. Der grelle, spitze Ton durchbohrte Edgars Knochen, wie das Geräusch von Fingernägeln auf einer Schiefertafel.

Noch bevor er begriff, was geschah, hörte er einen unartikulierten, rohen Aufschrei. Es war sein eigener: »Helene!«

Ein Ruck durchfuhr den Körper seiner Schwester. Sie erwachte aus ihrem Albtraum, nur um sich einem neuen gegenüber­zusehen – von Angesicht zu Angesicht.

Der Nachtalb fixierte das Mädchen. Helene öffnete den Mund, wollte schreien, doch es kam kein Ton heraus.

»Helene, jetzt!«, brüllte Edgar. Er fürchtete, dass seine Schwes­ter ihn nicht gehört hatte, aber wenige Augenblicke später wurde das Zimmer in eisiges Licht getaucht. Die feurigen Ladun­­gen aus Magnesia, die im Zimmer versteckt waren, explodierten und hüllten alles in nervenzerfetzendes Weiß.

Helene hatte ihn gehört.

Blasse Schemen tanzten vor Edgars Augen, ein beißender Ge­­­­­ruch stieg ihm in die Nase. Als sich die zischenden Nebel­schwa­­­­den klärten, hockte der Nachtalb immer noch auf Helene. Er drehte sich orientierungslos im Kreis. Spuckend und speiend suchte er nach einem Ausweg, einem Schatten, einem Spiegel­bild, irgendetwas. Sein Blick irrte durch das Zimmer, fand den einzigen Spiegel in seiner Nähe und setzte zum Sprung an.

Edgar war schneller. Er löste die zweite Falle aus. Mit der Spitze des Schuhs berührte er eine Kordel am Türrahmen. Ein Vorhang sackte vor dem Spiegel in die Tiefe und versperrte der Kreatur den Fluchtweg.

Der Nachtalb stieß einen Schrei aus – giftig, gallig! Dann wur­de er still. Die Augen des Monsters wurden zu schwarzen, glanz­losen Teichen aus Hässlichkeit. Langsam wandte der Nacht­­alb den Kopf und starrte Helene an.

Dann biss er zu.

»NEEIIN!«

Edgar packte den Eisensack und wollte vorwärts stürzen, um die Kreatur einzufangen, als ihm die Büchse entglitt. Er verlor die Balance und ein Schuss löste sich. Eine Kugel bohrte sich in einen der Bettpfosten. Edgar taumelte, fiel der Länge nach hin und schlug mit dem Kinn auf der Bettkante auf. Und während ihm die Sinne schwanden, hörte er den Schrei seiner Schwester, deren Stimme von Todesangst zerfetzt wurde.