»Hexerei.«

Edgars Stimme war wie eine warme Brise. Sie legte sich über die gesamte Stube und hielt in jeder Nische Einzug. Mo­ritz sah ihn vor sich am goldenen Tisch sitzen, während hin­­ter dem Fens­ter wilde Schneeflocken die längst vergangene Dezember­nacht beherrschten.

»Ihr seid die Frau, nach der ich gesucht habe. Die, die man Großmütterchen Jadwiga nennt.«

»So ist es«, antwortete die Baba Jaga und setzte sich zu Edgar an den Tisch. »Lass uns keine Zeit verschwenden. Ich weiß, wa­­rum du hier bist.«

Moritz konnte nicht mehr atmen. Der Wurm legte sich auf sein Herz, schwerer noch als Wackersteine, schwerer als alle Nacht­­albe der Welt.

»Worauf wartest du?«, flüsterte Fieswurz in sein Ohr.

Moritz wollte losstürmen, sich vom Türrahmen loseisen, doch Edgars Worte lähmten ihn.

»Meine Schwester Helene wurde verflucht.« Edgars Stimme waren nur ein Flattern. »Sie wurde …«

»… von einem Nachtalb gebissen und ist seitdem untot«, half die Baba Jaga nach. »Ihr wart in einer Herberge in Prag und du hast zugelassen, dass sie den Köder für eines dieser Schat­tenwesen spielt. Nun machst du dir Vorwürfe und hoffst, ich könnte dir helfen. Du hast mit Jilda Scvablon vom Wittlitz-Hof gesprochen und auch mit der fetten Frau Gruell. Beide haben dich zu mir geschickt.«

Die Worte der Hexe hörten sich routiniert an, als ob sie sie bereits hundert Mal gehört und ausgesprochen hätte. »Komm bitte zur Sache, ich erwarte Besuch.« Ihr Blick glitt zur Tür hinüber und sie erstarrte. Moritz wollte einen Schritt in den Schat­­ten des Türrahmens zurücktreten, doch es war bereits zu spät. Die Hexe fasste ihn ins Auge … sie hatte ihn und den Homunculus gesehen. Ihre gedrungene Gestalt reckte sich, dann wandte sie ihr Gesicht seelenruhig Edgar zu.

»Nein, ich lese keine Gedanken«, antwortete sie auf eine Frage, die Edgar nicht gestellt hatte. »Es ist nur so, dass das, was du vorbringen willst – dein Anliegen – sich auf das Haus aus­­­wirkt.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Sagen wir ein­­fach, du bist ein Echo. Ein Schon-mal-gesehen, das mir immer wieder erscheint, weil der Wunsch, der dich hierher geführt hat, einen komplexen Zauber betrifft.«

»Ein Echo?«, fragte Edgar zögerlich.

»Ich sehe dich heute schon zum vierten Mal. Beim ersten Mal, als du dein Anliegen vorgebracht hast, wurde eine neue Schraube im Haus angebracht. Und weil es ein schwieriger Zau­­ber ist, muss sich dein Wunsch erst festigen. Eine Schraube braucht mehrere Umdrehungen, bis sie fest im Holz sitzt. Erst dann fließt die Zeit wieder in die richtige Richtung. Solange hängen wir hier fest …«

»Warum tust du nichts?«

Moritz war sich nicht sicher, ob Fieswurz zu ihm gesprochen hatte oder der Wurm. Das Untier zuckte wild über seinem Her­zen.

»Aber wenn ich heute schon zum vierten Mal hier bin«, fuhr Edgar fort, »warum erinnere ich mich nicht daran?«

»Weil das, worum du mich bitten wirst, dein Leben für immer verändert. Mein Haus möchte sichergehen, dass es dir ernst ist.«

Moritz’ Gedanken rasten. Er fixierte die Baba Jaga.

»Es ist unhöflich, eine Tasse nicht zu leeren, wenn sie einem angeboten wurde«, sagte sie soeben.

Edgar sah auf. »Aber, wenn ich heute schon vier Mal bei Euch war, dann wisst Ihr, was ich hier will. Warum also die Frage?«

Ein Auge der Hexe wanderte zu Moritz an der Tür. »Weil wir den Kreis nicht durchbrechen dürfen. Du musst dein Anliegen vortragen, wie es beim ersten Mal geschehen ist. Nur so bleibt die Schraube gerade … und es gibt nichts Schlimmeres als krumme Schrauben. Es ist Teil des Vertrages, wenn man so will.«

»Ich möchte meine Schwester erlösen«, flehte Edgar. »Könnt Ihr den Fluch von ihr nehmen?«

»Zuerst trink!« Die Hexe wies auf die Tasse.

Edgar hob das Porzellan an die Lippen und stürzte den Inhalt hinunter. Ein Schweigen legte sich über den Augenblick.

»Und? Könnt Ihr mir helfen?«

»Nein. Nächste Frage«, antwortete die Alte kühl.

»Aber, ich dachte, Ihr wärt …«

»… eine mächtige Hexe? Das ist wahr.« Sie lächelte. »Doch ich bin nicht dumm. Ich werde mich in keine Angelegenheiten einmischen, die mit Zhatka, dem Knochenmann, zu tun haben. Er hat seine eigenen Regeln. Wenn deine Schwester untot ist, hängt sie zwischen den Welten. Sie ist nicht diesseits und nicht jenseits. Falls der grimmige Schnitter bereits seine Hände auf sie gelegt hat, kann ich nichts für sie tun.«

Moritz glaubte, ersticken zu müssen. Diesen Teil der Unter­haltung hatte ihm die Baba Jaga nicht gezeigt.

»Heißt das, meine Schwester ist für immer verloren?«

»Das habe ich nicht gesagt.« Die Hände der Hexe bewegten sich in Wellen. »Wenn sich die Welten der Menschen und die der Monster überschneiden, gibt es gewisse Besonderheiten. Häu­­fig ist es so, dass nur eine der beiden Seiten einen Fluch wieder aufheben kann. Wenn also ein Schattenwesen wie ein Nachtalb für den Zustand deiner Schwester verantwortlich ist, dann würde ich dort nach einer Lösung suchen. In der Welt der Monster.«

Edgars Blick wurde fahrig. Seine Finger trommelten nervös und spinnengleich auf den Rändern der Tasse herum – eine wohlbekannte Geste. Er schien in Gedanken eine Bibliothek mit zahllosen Kreaturen zu durchforsten.

Schließlich schüttelte er den Kopf. »Ich habe nicht genügend Zeit …«

»Ah«, ließ sich die Hexe vernehmen. »Da haben wir es.«

Edgar hob den Blick. »Was?«

»Dein Anliegen.« Sie lächelte.

Moritz’ Herz wurde schwer. Er wusste, was nun folgte. Und der Wurm wusste es auch.

»Du liebst deine Schwester sehr.« Die Worte der Baba Jaga waren leise, fast zartfühlend.

»Ja«, hauchte Edgar.

Ungewollt entschlüpfte auch Moritz im Dunkel der Tür ein zartes »Ja«.

Die Hexe ergriff Edgars Hand. »Und du würdest alles für sie tun, nicht wahr?«

Edgar nickte.

Die Baba Jaga tat es ihm gleich. »Was wir aus Liebe tun, ist niemals falsch«, sagte sie.

Jäh schossen Tränen aus Moritz’ Augen. Bis zu diesem Mo­­ment hatte er nicht geahnt, dass Wasser derartige Kräfte besaß. Er spürte eine Hand auf seiner Wange, winzig klein, rau und doch weich. Der Homunculus. »Die Liebe bewegt alles«, flüsterte er. »Uns, die Welt, die Sonne, die Sterne

Moritz biss sich auf die Lippen, um nicht vollends die Fas­sung zu verlieren.

»Ich kann dir Zeit verschaffen«, sagte die Hexe leise. »Dann kannst du nach einer Lösung für dein Problem suchen.«

Das Knacken im Ofen wurde so laut, dass Moritz glaubte, die Küche würde in Flammen aufgehen. Doch es war nur ein umgekippter Holzscheit.

»Was schlagt Ihr vor?«, fragte Edgar heiser.

Die Hexe beugte sich vor. Moritz sah weg. Er wollte nicht länger zuhören – wollte die Szene durchbrechen und den Freund aus seiner Qual befreien. Ihn erlösen.

Erlösung. Das war es, was Edgar ersehnte. Für seine Schwes­ter Helene. Nichts anderes hatte sein Denken und Fühlen be­­herrscht, als er die Hexe aufgesucht hatte. Moritz konnte das nur zu gut nachempfinden. Kein Mensch und kein Monstrum hatten ihn aufhalten können, als es um Konstanze gegangen war. Er hatte sie überall gesucht und nicht aufgegeben. Und er hätte es weiterhin getan, egal wie lange es gedauert hätte. Bis er alt und grau und zahnlos gewesen wäre.

Die Baba Jaga hatte weitergesprochen. Sie berichtete von dem Trank und machte ihre Offerte. Moritz seinerseits suchte in seinem Inneren nach einem Funken Licht. Doch da war nur Fins­­ternis, nur der Wurm, der alles überlagerte und ihn mundlos, augenlos und gehörlos anstarrte. Sein dunkler Fellkörper erinnerte Moritz an ein widerwärtiges Stück Fleisch, bedeckt mit einem Flaum aus dichten Spinnenbeinen.

Was, wenn er jetzt losstürmen würde? Wenn er zu Edgar rennen und ihm alles erzählen würde, was seit seiner Unterschrift geschehen war … was in der Zukunft lag.

Ihr Treffen in Ravenbrück, ihr Abenteuer auf dem Schiff der Komtesse, seine Reise nach Bad Greifenstein und das Versteck des Ersten unter der Wesselburg. All das hätte er ihm sagen können. Doch dann würden die Entscheidungen der Vergangen­heit nicht länger die Gegenwart formen und zur Zukunft werden. Entscheidungen würden nie getroffen werden, Kinder nie geboren und Kriege nie beendet … die Worte der Baba Jaga. Wenn er Edgar nie träfe, würde er niemals vom Mock erfahren und sich auf die Suche begeben. Das Band, von dem die Frau hinter dem Schleier gesprochen hatte, würde nicht entzweit, sondern zerfetzt werden!

Nichts von dem, was er jetzt wusste, würde sich noch in seinem Kopf befinden. Keine Erinnerung, kein Gedanke. Er selbst würde niemals an dieser Stelle stehen und auf die Szene von damals blicken, denn er befände sich immer noch irgendwo da draußen. Allein. Auf der Suche nach seiner Schwester. Ohne Helene und Edgar jemals kennengelernt zu haben.

Der Wurm verdunkelte alles.

Ein Auge der Hexe schielte in Moritz’ Richtung, als Edgar voller Überraschung fragte: »Ewiges Leben?«

»Nicht ganz«, wandte sie ein und blickte zu Edgar zurück. »Mein Trank verlängert das Leben – er lässt es nicht ewig währen. Sonst kämen wir wieder mit Gevatter Tod in Konflikt. Der Trank verliert mit den Jahren seine Wirkung, aber wenn man genug davon trinkt und immer wieder und wieder …«

Und während die Stimme der Hexe zu einem Echo der Zeit wurde, zog sich Moritz mit Fieswurz langsam in die Schatten zurück und schloss lautlos die Tür.