Die gewundene, staubige Treppe schien im Nirgendwo zu enden. Endlich tauchte eine geöffnete Luke direkt unter der Decke auf. Die Stufen führten darauf zu. Konstanze steckte ihren Kopf hindurch.

»Helene?«

Niemand – nur ein Raum mit einer Glocke. Sie schimmerte düster, fast schwarz im Zwielicht des Dachstuhls. Die Kammer war hoch, man konnte bis zur Turmspitze hinaufsehen. Graue Balken flankierten die riesenhafte Eisenglocke im Zentrum und schienen sie zu bewachen. Am anderen Ende des Raums befand sich eine verriegelte Doppelflügeltür aus uraltem Holz. Doch es war keine normale Tür, das ahnte Konstanze. Wer aus ihr heraustrat, würde senkrecht am Südturm in die Tiefe stürzen. Es handelte sich um ein riesiges Fenster, um den Glockenschall in die Welt hinauszuschleudern – um die ganze Stadt aufzuwe­­cken.

Konstanze kletterte mit Fips auf dem Rücken in den Dach­stuhl. Die Spuren im Staub wiesen ihr den Weg. Helene hatte eine weitere schmale Treppe seitlich im Gebälk entdeckt. Konstanze folgte den verwischten Fußabdrücken, bis sie eine niedrige Tür im Dach erreichte, die ins Innere eines winzigen achteckigen Giebeltürmchens führte – nicht einmal zwei Meter im Geviert. Und dort, an einem der hohen, geöffneten Fenster stand …

»Helene!«

Sie drehte sich um und sah Konstanze gehetzt, aber glücklich an. Der Wind peitschte ihr dabei frostig ins Gesicht.

»Da ist er«, flüsterte sie heiser und deutete zum Fenster hinaus.

Konstanze ging zu ihr. »Helene, die Hexe weiß Bescheid. Sie hat unseren Trick durchschaut!«

Doch Helene war wie erstarrt. Ihr schlanker, bleicher Finger wies immer noch auf die unheimliche Gestalt, die übergroß, mager und von Eiskristallen umtobt an der Dachschräge des Kirch­­turms hockte. Die Gestalt war gut fünf Meter entfernt, aber so hünenhaft, als wäre sie nur eine Armeslänge weit weg. Ge­vatter Tod.

Seltsam grau sah er aus, im Schattenlicht der aufgehenden Sonne. Die pergamentfarbene Haut war kaum von dem flattern­den Umhangstoff zu unterscheiden. Er war kein blankes Ge­­rippe – eine dünne, hauchfeine Schicht überspannte seine Ge­­bei­­ne und hielt sie wie unsichtbare Fädchen zusammen. Doch die Hülle war nur Beiwerk. Die Knochen darunter traten ohne Fett oder Muskelfleisch ungehindert hervor wie bei einem Ver­hungernden. Eine grausame Erscheinung, aber auch zerbrechlich schön und voller Anmut. Jede ihrer Bewegungen wurde von Schwermut und Grazie begleitet, und der Wind, der an dem Stoffgewand zupfte, spielte zärtlich mit den Fetzen und arrangierte sie zu Gebilden, die eines alten Meisters würdig waren.

Als der Tod den Kopf drehte und die Mädchen ansah, stockte ihnen der Atem. Da waren keine Augen in seinen Höhlen und keine Nase zierte sein Gesicht. Ohren und Lippen hatten sich zurückgezogen. Die Zähne, aufgereiht wie löchrige Perlenketten, lagen frei und waren zu einem klappernden Grienen verzogen. Seltsamerweise trug der Gevatter eine uralte Bandage um den Kopf gewickelt, die an der Stirn zu einer bröckligen Schleife geknotet war. Sie verlieh ihm das Aussehen einer griesgrämigen Tante, die man vergessen hatte, zum Tee einzuladen.

»Hast du gehört, Helene?«, fragte Konstanze mit schreckgeweiteten Augen. »Ich glaube, Moritz wurde entdeckt. Wir müssen zu ihm!«

Helene blickte zuerst auf den Tod, dann zu Konstanze und schließlich hinab in den Korb in ihren Händen.

Edgar war fast kahl. Nur die Federn, die seinen Kopf und den oberen Teil seines Halses bedeckten, waren noch intakt. Die übrigen lagen in einem entsetzlichen Kranz aus Weichheit und Verzweiflung um ihn herum verteilt. Ein Bild des Jammers und des Schmerzes, benetzt von Blutstropfen.

Als Helene hemmungslos zu zittern begann, nahm Konstan­ze den Korb vorsichtig an sich. Ein fast manischer Ausdruck trat in Helenes Augen. Beißende Entschlossenheit verzerrte ihr Ge­­sicht.

»Wir brauchen Hilfe!«, rief sie zum Fenster hinaus. Ihre Stim­me flatterte durch das Peitschen des Windes und zerbrach vor Gefühl. Im nächsten Moment erstrahlte sie mit verzweifelter Stär­ke. Helene stemmte sich auf den Fensterrahmen, krallte sich fest und lehnte sich, so weit sie konnte, hinaus. »Ihr müsst uns helfen! Erweist uns Eure Gnade, Gevatter! Helft uns gegen die Baba Jaga!«

Konstanzes Mund trocknete aus. Frostiges Brausen fegte ins Turminnere und ließ ihre Gedanken und Tränen gefrieren. He­­lene stand da – eine Statue, die der Kälte trotzte.

»Helft uns! Wir bitten Euch!«

Der Tod beobachtete die Mädchen. Leere Augen, leerer Aus­druck, aber ganz blanke Zähne. Dann wandte er sich ab. In der Ferne erklang leises Miauen. Eine einsame, klagende Katze. Das Knochengesicht erhob sich. Mit einer geschmeidigen Geste griff es unter den Umhang, der sich wie Rauch aufbauschte, und holte eine Geige hervor. Sie war grau und alt – das Holz wurmstichig. Die zu großen Klapperhände hielten sie zärtlich wie eine wertvolle Spielzeug-Miniatur.

Eine Weile stand er auf der viel zu schrägen Seite des Daches, als ob die Schwerkraft keine Bedeutung für ihn hätte. Und verschwand schließlich. Eine frostige Böe zerrte an ihm und nahm seine Gestalt mit sich. Er löste sich auf wie dunkle Wolkenfetzen an einem Sommertag.

»Nein, bleib hier«, stammelte Helene. »Wo ist er hin?«

Das Miauen wurde durchdringender.

Konstanze begann zu weinen. Es musste etwas Schreckliches passiert sein. Sie wusste es, spürte es. Die Katze war der Bote einer entsetzlichen Wahrheit.