Edgar und Helene gleichzeitig sprechen zu hören, erinnerte Moritz unweigerlich an die Komtesse mit ihren unzähligen Stimmen. Und auch die Worte, die die Geschwister benutzten, kamen ihm schmerzlich bekannt vor.
»Ich bin ein Reisender«, summten sie gehüllt in den Schein des Dampfwagens. »Ich fiel vor vielen tausend Jahren auf die Erde. Seitdem hatte ich viele Formen. Zuerst war ich nur ein Klumpen … dann eine Krone … ein Trinkpokal … ein Ring … ein Collier … später eine Maske … ein Dolch … und nun eine …«
Moritz blickte auf seine Hand hinab und entdeckte dort zu seiner Verblüffung den Splitter des schwarzen Glases. Wie war er dorthin gekommen? Und wieso sah er aus wie der abgebrochene Schweif einer …
»Sternschnuppe«, flüsterte er.
Edgar und Helene nickten zustimmend und starrten auf seine Körpermitte. Moritz folgte ihren Blicken und entdeckte einen dunklen Klecks über seinem Nabel. Schwarzes Blut quoll daraus hervor und färbte sein blütenweißes Hemd dunkel. Der Fleck breitete sich unaufhaltsam aus und Moritz wunderte sich darüber, dass er keinen Schmerz empfand. Selbst als er mit der Hand auf die Wunde drückte, spürte er nichts außer einer kleinen, feinen Spitze.
»Er ist in dir«, raunten die Geschwister.
»I-ich bin verletzt?«, murmelte Moritz, wie um sich seiner eigenen Stimme zu vergewissern. »Wie ist das passiert?« Er tastete nach einem Zacken des Glases, versuchte ihn zu packen, ihn herauszuziehen. Ein rasender Schmerz durchzuckte ihn und ließ seine Beine einknicken. Er krachte hart auf den Boden vor den Kissen.
»Tu das nicht«, sagten die Geschwister Seite an Seite. »Es wäre dein Tod.«
Moritz wurde übel. »Ich sterbe?«
»Nicht, wenn du nicht willst«, erwiderten Edgar und Helene im Gleichklang. »Nicht, wenn du mir folgst.«
»Ich will nicht sterben«, keuchte Moritz. »Ich darf nicht sterben.« Er griff nach einem Kissen und presste es auf die Wunde, um das Blut zu stoppen. Der riesige goldene Stern, der darauf gestickt war, tränkte sich innerhalb weniger Sekunden und wurde schwärzer als schwarz.
»Du musst nicht sterben«, psalmodierten die Geschwister. »Wenn du mir folgst, kannst du alles sein und alles haben, was du willst. Du musst nur bei mir bleiben.«
Helene trat vor. »Willst du deine Eltern wiedersehen?«, sagte sie und der Raum veränderte sich. Noch ehe Moritz sich versah, schmolzen die Wände des Dampfwagens dahin und wurden zum sonnengeküssten Stein des Brennerschen Hauses. Mutter und Vater warteten mit Konstanze am Tisch – sie teilten das Brot und tischten Suppe auf – warm und duftend. Ein Stuhl war frei. Er gehörte Moritz.
Helene und Edgar blieben in der Küche und wachten über die Szenerie.
Moritz’ Mutter Luise erblickte ihren Sohn und winkte ihn zu sich. »Wir haben auf dich gewartet, mein Mo.«
Da war es wieder – mein Mo. Es klang so sehnsuchtsvoll, so wahr. Er gehörte zu ihnen, zu seiner Familie. Hierher. So sehr.
Die Wunde in seinem Körper hatte er bereits vergessen. Er wollte einen Schritt auf den Tisch zumachen, als er Helene und Edgar ansah. Auch bei ihnen war ein Stück seines Herzens. Sie waren nicht mehr wegzudenken. Nicht auszulöschen.
Nun trat Edgar vor und umfasste Moritz’ Schulter. »Du kannst für immer hierbleiben und glücklich sein. Wäre das nicht schön?«
Moritz wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Etwas in ihm schrie ihn an, dass dies alles eine Falle sei. Aber es war nicht der Wurm, der ihn warnte. Denn der Wurm war das Bild: Er war Edgar, Helene, die Eltern, der Raum, das Essen, der Tag, die Welt und das Nichts dahinter.
»Du kannst viel mehr sein, als du bist«, sprach sein Vater am Kopf des Tischs plötzlich.
Moritz schüttelte langsam den Kopf. »Das will ich gar nicht. Ich möchte lieber nach Hause.«
Edgar lächelte. »Aber du bist zuhause.«
»Ich meine nicht Ravenbrück. Ich möchte zurück zu meiner Schwester und zu Helene.« Er blickte die falsche Helene an, deren Augen unnatürlich groß wirkten. »Zur echten Helene. Das hier ist nicht wirklich.«
»Aber ich kann dir jeden Wunsch erfüllen, mein Mo«, sagte die Mutter voll Traurigkeit.
»Ich möchte lieber zurück«, sagte er schlicht und schloss die Augen, bis seinem Wunsch entsprochen wurde.
Helene und Edgar standen im Dampfwagen, der angefüllt war mit goldenem Licht, gedämpftem Klicken und dem Duft der Behaglichkeit. »Du kannst alles haben, was du dir wünschst«, wiederholten sie.
»Nein, das ist nicht echt«, erwiderte Moritz. »Und ihr seid es auch nicht!«
»Aber zusammen können wir es sein. Wenn du mich annimmst. Vereine dich mit mir!«, sprachen die van Lichtholms im Chor.
Moritz’ Gedanken rasten. »Mich vereinen? Mir dir?«, platzte es aus ihm heraus. »Aber ich weiß noch nicht einmal, wer oder was du bist.«
Die Geschwister sahen ihn lange an, ohne sich zu rühren. »Weißt du es denn immer noch nicht?«
Moritz blickte zuerst die Geschwister an, dann sah er zu Boden. Dort lag das goldbestickte Kissen mit dem Stern in der Mitte. Er schimmerte dunkel und verschlingend im Licht der Kerzen. Moritz’ Blick glitt über die anderen Kissenbezüge … dann über die Vorhänge, Buchrücken, Pergamentrollen, Bretter- und Nietendielen und sogar über die Teller, an denen noch die Überreste von Helenes ungenießbarem Abendessen klebten. Ringsherum waren feine Ornamente zu erkennen. Sterne. Sie befanden sich überall. Moritz war umgeben von ihnen. Er besah sich den Boden genauer, auf dem er hockte, und entdeckte sogar in der Maserung des Holzes sternhafte Strukturen. Wie Adern durchzogen sie das Fahrzeug und schufen ein lebendes Gebilde auf Rädern. Als Moritz aufblickte, erkannte er noch mehr Formen. Diesmal in Helenes blutrotem Rocksaum. Er war mit einem Sternenstich abgenäht und der Stoff selbst war in Kaskaden aus Sternenmustern zusammengewebt. Er brauchte gar nicht erst Edgars Hosenaufschläge zu begutachten. Er wusste, dass sie ähnlich aussahen.
»Ein Stern«, murmelte Moritz. »Du bist ein Stern.«
»Nicht irgendein Stern«, summten die Geschwister leise und erinnerten dabei so sehr an die Stimmen der Komtesse. »Ich bin der mächtigste und schönste von allen.«
Moritz schluckte. Noch immer konnte er nicht glauben, was die Stimmen ihm begreiflich machen wollten. »Zeig mir deine wahre Gestalt«, bat er.
»Das kann ich nicht«, erwiderten die Geschwister vereint. »Niemand kann meine wahre Gestalt ertragen.«
»Warum?«, fragte Moritz leise.
»Du würdest an meinem Glanz zerbrechen.«
Moritz überlegte. »Wenn du willst, dass ich mich mit dir vereine, musst du mir deine wahre Gestalt zeigen.«
Die Geschwister schwiegen, dann blickten sie sich an und fassten sich bei den Händen. »Schließ die Augen.«
Zögernd tat Moritz, wie ihm geheißen.
Eine ganze Weile passierte gar nichts. Dann spürte er eine Veränderung durch seine geschlossenen Lider. Unbändiger Druck traf ihn und sämtliche Geräusche schienen aus der Welt zu verschwinden. Plötzlich fiel ihm das Atmen schwer.
Sieh mich an.
Die fremde Stimme durchdrang ihn. Sie wand sich um seinen Körper und drückte ihn mit jeder Silbe zusammen. Moritz glaubte, ihren Tonfall zu erkennen. Es war derselbe, den er auf dem Schiff der Komtesse gehört hatte, als er auf die schwarze Maske aus Glas zugestürmt war. Mit quälender Langsamkeit öffnete er die Augen.
Der Stern hatte seine Gestalt enthüllt. Er schwebte direkt vor ihm. Und er war schön und schrecklich und groß und dunkel und grausam und traurig und vor allem … leer. Er brannte vor Schmerz und ewiger Einsamkeit.
Ein schwarzer Stern.
Moritz starrte die unbeschreibliche Existenz an, so wie damals im November 1811. Da war dieselbe Mischung aus Verlangen, Wut, Trieb und Impuls, die auf ihn einströmte.
Komm zu mir.
Moritz zögerte, fasziniert und angewidert zugleich. Der Stern pulsierte, stülpte sich nach außen. Er öffnete ein nicht vorhandenes Maul und sog die Luft ein.
Sei bei mir.
Mit einem Mal konnte Moritz nicht mehr atmen. Sein Kopf wurde zusammengedrückt und allmählich geleert. Ein ganzer Wald an Erinnerungen und Gefühlen fiel der Macht des Sterns zum Opfer. Die Landschaft seines Selbst. Panik überfiel ihn. In seiner Verzweiflung sammelte er den letzten, goldenen Gedanken und hielt sich an ihm fest. Er versuchte, ihn zu verschließen, ihn irgendwo zu verstecken, wo der Stern ihn nicht finden konnte. Er brauchte ein Behältnis, ein Erinnerungsstück. Etwas Echtes, klein und unscheinbar. Und er fand es – silbrig fein – bevor der Stern über ihn kam.
Sei mein.
Der Stern öffnete sich noch mehr und das Saugen verstärkte sich. Trügerische Bilder tauchten vor Moritz auf. Sie manifestierten sich in der Tiefe des Mundes und riefen nach ihm. Helene. Sie stand vor ihm – die mit der Nacht bekleidete Frau. Ihre Augen waren gesprenkelte Sterne und ihre Lippen Mondstaub. Moritz ließ das rettende Erinnerungsstück zu Boden sinken, als die finstere Schönheit zu ihm sprach.
Komm.
Da war ein Leben ohne Sorgen, ohne Schmerz, ohne Verlust und ohne Tod. Moritz’ Hand bewegte sich unmerklich auf die Schwärze zu.