Über 300 Jahre später

Schmieriger Dunst kroch durch den Wald. Mit jedem Blinzeln verlor Moritz’ Welt mehr an Kontur. Vorbei an schwammigem Ge­­strüpp und von Spinnweben verklebten Baumstämmen sah er die schwach erleuchtete Holzbrücke, wie durch den Dampf von Kochwäsche vernebelt. Dahinter erhob sich das Städtchen Gol­­dau im Schwarzwassertal. Von Felswänden umzingelt, die wirk­­ten, als hätte eine gewaltige Eishexe ihre Krallen an ihnen ge­­wetzt, türmten sich die Häuser in der Finsternis einen steilen Hang hinauf. Eine Ansammlung gespenstisch krummer Zipfel­mützen.

»Hast du alles?«, flüsterte Moritz ins Unterholz.

»Erst verrätst du mir, warum wir überhaupt hier sind.« Seine kleine Schwester Konstanze hantierte in der Düsternis. Mit ih­­­rem dunklen Mäntelchen und der Haube verschmolz sie perfekt mit der formlosen Schwärze zwischen den Bäumen.

»Ich kann auch Helene bitten, mir zu helfen.«

Seine Schwester pfiff leise. »Das möchte ich sehen.«

Moritz ärgerte sich über die eigenen Worte. Wussten doch beide, dass ihre Freundin Helene van Lichtholm derzeit ihr Zu­­hause, den Schindelwagen, kaum verließ. Aus wichtigem Grund.

»Du weißt, wie ich es meine«, zischte er.

»Jaja«, schnaubte Konstanze und ein tiefes Hurreln gesellte sich hinzu. Im Dunkel neben seiner Schwester lauerten monströse Krallen, Zähne und Augen. Eine Kreatur wälzte sich verspielt auf dem durchweichten Waldboden – ein massiger tiefschwarzer Körper, der mit schimmernden Nadeln gespickt war, hob und senkte sich. Zweige, Tannennadeln und uraltes Laub hatten sich zwischen den Metallspitzen verfangen. Das panierte Wesen blähte die Kehle.

»Warum musstest du sie noch mal mitnehmen?«, fragte Mo­­ritz.

»Weil sich Irmgard sonst langweilt«, antwortete Konstanze und tätschelte den Schädel des Monstrums. Die Karikatur einer Rie­­senkatze, die sie im Herbst des vorigen Jahres in Bad Grei­fenstein kennengelernt hatten, leckte sich das langgezogene Maul mit den schiefen Zähnen. Ihre weit nach außen schielenden Ziegenaugen rollten in den Höhlen. Ein neuerliches Hur­reln, lauter noch als zuvor, entrang sich ihren Stimmbändern.

Geräusche wie diese waren für Moritz keine Besonderheit. Ein Chrachern, Rigoulen oder Klonzen entlockte ihm nur ein mat­­tes Lächeln. Selbst wenn jemand in seiner Nähe truffte und pig­­gerte, war er kaum überrascht. Seit über zwei Jahren durchstreifte er mit seiner Schwester Konstanze Brenner das Königreich Preu­ßen im Schatten von Napoleon Bonapartes Grande Armée und spürte verborgenen Kreaturen und unheimlichen Erscheinungen nach. Sie waren Monster- und Dämonenjäger, ein Begriff, den Moritz’ Freund und Lehrmeister Edgar van Lichtholm geprägt hatte. Im November des Jahres 1811 hatte Moritz ihn und dessen dreizehnjährige Schwester Helene kennengelernt und war in eine Welt eingeführt worden, die er sich während der Zeit im Waisenhaus von Ravenbrück niemals hätte träumen lassen. Ein Jahr nach dem Tod der Eltern Lutz und Luise Brenner hatte dort seine Reise begonnen – mit einem Schrei. Konstanzes furchtbarer Schrei, als die damals Sechsjährige von einem unheimlichen fliegenden Monstrum aus ihrem gemeinsamen Zimmer entführt worden war. Die zuständige Leiterin des Hauses, Fräulein Auguste Bimmel, hatte Moritz natürlich kein Wort geglaubt. Des­­halb hatte er sich selbst auf die Suche gemacht und war so in Edgar van Lichtholms Monsterfangnetz gelandet. In dessen Dampfwagen hatte er seltene Kampftechniken geübt und obskures Wissen über allerlei Schattenwesen erlangt. Und er hatte von den Boogelbies erfahren. Kleine, hilfreiche Kreaturen, die dank eines hochsensiblen Gehörs jede feindliche Monsterbewegung im Umkreis von einer Meile aufspüren konnten. Sie wurden ihm zu treuen Gefährten und einer unschlagbaren Waffe im Kampf gegen die finstere Macht, die Konstanze entführt hatte. Mit ihrer Hilfe bahnten sich Moritz und Edgar einen Weg in das Versteck der unheimlichen, kindlichen Komtesse Emilia Flavée und zerschlugen die schwarze Glasmaske, die die Lebensfunken unzähliger kleiner Mädchen in sich aufgesaugt hatte. Zwar wurden Konstanze und zahllose weitere Entführte befreit, doch der Einsatz blieb nicht ohne Folgen: Edgar starb in den Armen seiner Schwester Helene. Zumindest hatte Moritz das bis vor wenigen Monaten geglaubt. Er ahnte damals nicht, dass die Geschwister van Lichtholm ein tragisches Geheimnis hüteten: Helene war eine Untote. Verflucht durch den Biss eines Nachtalbes war sie dazu verdammt, ewig über diese Erde zu wandeln, ohne Gefühle empfinden zu können, weder Freude noch Leid, weder Durst noch Hunger, ohne Aussicht auf Erlösung. Ihr Bruder Edgar, der das Schicksal seiner geliebten Schwester nicht ertragen konnte, hatte nur noch ein einziges Ziel – ein Heilmittel für Helene zu finden. Um Zeit zu gewinnen, war er einen Handel mit der Großmutter aller Hexen eingegangen, der Baba Jaga, und erhielt von ihr einen lebensverlängernden Trank im Tausch für seine unsterbliche Seele. Den Handel hatte Edgar jedoch mit einer Bedingung verknüpft:

Dieser Zusatz stellte sicher, dass die Hexe erst Anspruch auf seine Seele hatte, wenn Helenes Fluch gebrochen war.

So kam es, dass sich Edgars Seele im Moment des Todes in die unscheinbare Elster geflüchtet hatte, die Moritz seit dem ers­­ten Tag seiner Suche nach Konstanze begleitet hatte. Nur He­­­­le­­ne wusste von diesem Körpertausch und hatte das Ge­­heim­­­­nis niemandem – selbst Moritz nicht – verraten, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, an Edgars Stelle nach einem Heil­­mittel für sie zu suchen. Zwei Jahre lang hatte die Untote Still­­schweigen be­wahrt, um Moritz nicht in einen unlösbaren Kon­­flikt zu stürzen: Denn wenn es ihm gelänge, sie zu erlösen, würde er damit Edgar unweigerlich der Hexe ausliefern – täte er es nicht, bliebe sie auf ewig verflucht. Ihr Schweigen hatte ihm die Entscheidung abgenommen.

Dann, im Herbst letzten Jahres, war das Unvorstellbare ge­­sche­­hen. Moritz und seine Freunde fanden heraus, dass ein hei­­len­des Wesen, der Erste, unter der Wesselburg nahe Bad Grei­­fen­stein vor sich hindämmerte. Ein schlafender Gigant, der im Versteckten seine Wunder tat. Einst hatte es einen Pakt zwi­schen Menschen und Monstern gegeben, um die Kraft des mächtigen Heilers zum Wohle aller Lebewesen zu nutzen. Doch die Gier und die Angst der Menschen hatten das Abkommen zerstört und die Schattenkreaturen gegen sie aufgebracht.

Als Moritz bei seinem Versuch, die Monster in der Höhle des Ersten zu schützen, mit dem Splitter der schwarzen Glasmaske tödlich verwundet worden war, hatte sich der Gigant erbarmt und ihn von den Toten zurückgeholt. Und da Moritz’ Opfer neue Hoffnung in die Gedanken des Riesen und seiner Monsterkin­der, den Mock, streute, hatte der Erste auch Helene von ihrem Fluch erlöst.

Der Vertrag der Hexe hatte sich somit erfüllt und seither bang­ten die drei um Edgars Leben. Denn eine schreckliche Ver­änderung hatte den Körper der Elster nach Helenes Rettung er­­fasst. Etwas, für das es nur ein Wort gab: Hexerei!

Ein Knacken riss Moritz aus seinen Gedanken. Sein Blick huschte durch die Dunkelheit und fand das Wesen, das in zwei Metern Entfernung in einem ledernen Tornister auf dem Waldboden hockte. Ein kleiner Boogelbie mit fast goldenen Schuppen und in der Düsternis schimmernden Langohren, der genüsslich auf einem Zweiglein herumkaute. Sein schuppen­besetzter Körper wurde von einem schwachen bläulichen Leuch­ten erhellt. Das war Fips.

Die Kreatur, die in der Sprache der Mock Tum-Blat genannt wurde, blickte aufmerksam in Richtung der Brücke und erinnerte ihn an sein Vorhaben.

»Dann schnappen wir uns mal das Monster«, murmelte Mo­­ritz.

Konstanze reagierte sofort. »Wir sind also wegen eines Mons­ters hier?!« Ihre Augen leuchteten in der Dunkelheit. »Ich dachte, es wäre Schluss mit Jagen und Kämpfen.«

Moritz wiegte den Kopf. Offene Käfige, das war der Gedanke, der ihm gekommen war, nachdem er in der Höhle des Ersten von dem empfindlichen Gleichgewicht zwischen Menschen und Monstern erfahren hatte. Nun war es an ihnen, jeden Tag zu beweisen, dass nicht alle Menschen auf Krieg und Kampf aus waren. Kein Wesen sollte sie mehr aus Zwang begleiten.

»Es muss ja keine klassische Jagd sein«, erwiderte er. »Viel­leicht können wir, äh, verhandeln. Als Monsterflüsterer. Mock, Mock, Mock, verstehst du?«

Konstanze nickte zufrieden. »Und wenn ich erst anerkannte Professorin für Monsterkunde bin«, sagte sie feierlich, »werden Irmgard, Fips und ich für Frieden sorgen.«

Moritz schmunzelte. Die Titel seiner Schwester wechselten bei­­nahe stündlich. Sie schwankten zwischen Lehrling, Studen­­tin, Doktorin, Großmeisterin, Expertin und – ganz neu – Pro­­­fes­­sorin. Bei diesem Tempo würde sie bald das Amt der Bürger­meis­­terin von Boogelbiehausen bekleiden. Mit Schärpe natürlich.

»Lach nicht! Ich weiß schon jetzt Dinge über Fips, da würden dir die Augen übergehen. Und wenn du mir nicht langsam verrätst, warum wir überhaupt hier sind, gehe ich zum Wagen zurück.«

Irmgard hurrelte zustimmend.

»Schon gut«, sagte Moritz und ging vor seiner Schwester in die Hocke. »Hast du die Sachen, um die ich dich gebeten habe?«

Konstanze nickte. »Den Sack habe ich im Wagen gefunden und den Silberlöffel musste ich dem Pfarrer abschwatzen.« Sie reckte einen Teelöffel in die Düsternis.

»Silber? Ich hatte gesagt, du solltest nach etwas aus Gold suchen!«

»Versuch du mal, in einer so kleinen Stadt Gold aufzutreiben!«, blaffte Konstanze. »Man kann nicht einfach von Tür zu Tür gehen und fragen: Oh, hätten Sie vielleicht etwas Gold für mich? Ja, natürlich, wertes Fräulein, wie viel benötigst du? Vier oder fünf Pfund? Ach warte, hier hast du zehn!«

Moritz hob beschwichtigend die Hände. »Ich dachte, vielleicht hätte irgendjemand noch einen Louis d’or in der Tasche.«

»Die Leute mögen das französische Geld nicht.«

Moritz ahnte warum. Nach der Niederlage in der Völker­schlacht bei Leipzig im vergangenen Oktober 1813, hatte sich Na­­­poleon mit den versprengten Resten seines Heeres zurück­gezogen. Auch wenn der letzte Kampf noch nicht geschlagen war, keimte zaghafte Hoffnung unter den Menschen auf. Jetzt, im Spät­­januar des Jahres 1814, war hinter vorgehaltener Hand von Be­­frei­­ung die Rede. Er griff nach dem Teelöffel. »Ist es denn wenigstens echtes Silber?«

Konstanze zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Bin ich Silberologin?«

»Ich denke nicht, dass das so heißt«, murmelte Moritz.

»Und ich denke, dass du mir endlich verraten solltest, welches Monster wir heute nicht jagen.«

Moritz grinste breit und langte nach dem Tornister mit Fips. »Heute Abend schnappen wir uns den Ohrendieb.«