Die neue Musikantin trat vor. Musik floss durch ihre Fingerspitzen, legte sich auf den Bogen und durchdrang die Saiten der Geige. Konstanzes Bewegungen waren pure Hingabe. Sie entlockte dem Instrument Klänge, die dieses nie gekannt hatte. Seltsame Tonabfolgen, die weit auseinanderdrifteten und doch eine Einheit bildeten. Chaotisch, atonal und neu. Ihre Gesten erinnerten an virtuoses Nähen: Der Bogen war eine glühende Nadel und die Zeit der Stoff, der neu zusammengefügt wurde. Sie lief rückwärts.
Die höllische Umarmung, in die Moritz Helene gezogen hatte, löste sich langsam. Helene glitt sanft auf den Boden zurück, auf dem sie gelegen hatte, und der von gläsernen Adern durchzogene Moritz stand wieder still.
Konstanze versuchte, noch weiter zurückzugehen, doch die Geige wehrte sich. Etwas stimmte nicht – sie selbst fehlte in dem Bild. Konstanzes Platz in der Ecke blieb leer, denn sie stand im Raum und musizierte. Sie konnte, nein, durfte nicht an zwei Orten gleichzeitig sein.
Langsam erspürte sie den letzten Laut, den sie angestimmt hatte: das kleine G, der tiefste Ton der Geige. Sie spielte ihn als melancholisches Vibrato, so flüssig und leicht, dass er wie Katzenjammer klang. Dann ging sie zu Helene hinüber, die in einer Pose erschrockenen Grauens erstarrt war. Sie kniete sich an ihre Seite und berührte sie sanft mit der Hüfte.
»Komm mit mir«, flüsterte sie ganz natürlich. Die Geige ließ sie gewähren.
Und es geschah. Helene begann zu atmen, zu blinzeln, sich zu regen.
»Konstanze«, sprach sie verwirrt. »Was ist passiert?«
»Ich erkläre dir alles später«, murmelte Konstanze, das Kinn an den Rumpf des Instruments gepresst. »Zuerst müssen wir den Splitter entfernen.«
Während Helene sich erhob, wanderte Konstanze hinüber zum Körper der Hexe. Die Baba Jaga lag ruhig und starr. Ihre Lider waren geschlossen, sie sah friedlich aus. Fast hätte man denken können, sie würde nur schlafen … wenn die dunklen, feindseligen Spritzer des Sterns nicht gewesen wären. Wieder kniete sich die neue Musikantin auf den Boden und berührte den Körper mit ihrer Hüfte.
»Komm mit mir«, flüsterte sie erneut. »Du bist frei.«
Die Hexe blieb starr. Konstanze versuchte es ein zweites und ein drittes Mal. Keine Reaktion. Vielleicht musste sie die Geige um Hilfe bitten … Sie konzentrierte sich auf das Vibrato, womit das kleine G an- und abschwoll. Spürte den Tönen nach, die so traurig und tief durch die Stube hallten. Sie wollte ihnen Leben einhauchen. Ein leises Staccato stellte sich ein. Wie Fliegen, die hektisch durch den Raum schwirrten, zog Konstanze den Bogen vor und zurück über die unterste Saite des Instruments und erschuf ein drängendes Hämmern.
Die Lider der Hexe erzitterten im Rhythmus der Töne. Doch sie öffnete die Augen nicht. Ihr Schlaf war zu tief, der Fluch des Sterns zu mächtig.
Konstanze blickte Helene hilfesuchend an. »Es funktioniert nicht«, flüsterte sie, als sie in das dunkle Vibrato zurückkehrte.
Helene spannte die Brust und packte die lange, gebogene Zange vom Boden. »Dann tun wir es allein.« Ihre Lippen formten ein kaum hörbares »Es tut mir leid, Moritz«. Dann hieb sie mit der Spitze des Eisens auf den verkrusteten Bauch ein. Wieder und wieder.
Das Glas war hart. Nur sehr, sehr langsam platzten Stücke des Materials ab. Auch wenn Helene bei jedem Schlag zitterte und ihr Tränen über die Wangen liefen, sie hämmerte mit der Zange unermüdlich auf die glänzende Fläche ein, während Konstanze weiter die Tonabfolge hielt. Die Hülle musste durchstoßen werden.
Millimeter um Millimeter kämpfte sich Helene voran – qualvoll und mühsam. Sie gönnte sich keine Pause. Erst als ihre Hände rot und rissig wurden, ließ sie die Zange für einen Moment sinken und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie entledigte sich Moritz’ Jacke, riss einen ihrer vor Nässe triefenden Hemdsärmel entzwei und verband sich die Handflächen. Mit erhitztem Gesicht und angeklebten Haaren und nahm sie ihre Arbeit wieder auf.
Konstanzes Arme wurden immer schwerer. Sie lief auf und ab, versuchte ihre schmerzenden Glieder zu lockern, doch es nützte nichts – das Vibrato musste bestehen.
Ein endloser Morgen schlich im Haus der Hexe voran. Während in der Welt nur wenige Momente vergingen, wichen unendlich viele Splitter über Stunden Helenes tapferen Schlägen.
Das Glas war mit Moritz’ Eingeweiden verwachsen. Das Loch in seiner Bauchhöhle wurde immer tiefer. Dann endlich hatte Helene es geschafft. Sie stieß auf den blinden Fleck in seinem Innersten, der sich von außen als pulsierendes Licht gezeigt hatte. Eine unheimliche, milchige Schicht hatte sich um den Splitter gelegt, gleich dem Dottersack eines Tiers im Mutterleib. Der Stern schien tatsächlich zu leben.
»Wir müssen alles entfernen«, keuchte Helene in der Hitze der Stube. »Wir dürfen kein Stück übersehen.«
Konstanze nickte und spielte das Vibrato weiter, entkräftet und zitternd – lange konnte sie die Geige nicht mehr halten.
Nicht ein Tropfen Blut quoll aus dem Bauchraum heraus, als Helene den Splitter langsam aus dem Fleisch löste. Der an- und abschwellende Ton hielt es zurück. Mit brennenden Händen brachte sie das Kernstück des Sterns aus der Wunde hervor.
Ein atemloser Moment trat ein, als der schwarzblutige Splitter zu Boden fiel. Im selben Augenblick rutschte auch der Bogen von den Saiten und Konstanzes Beine knickten ein.
Die Hülle des Sterns, die Moritz wie ein gläserner Kokon umhüllt hatte, splitterte mit einem maliziösen Kreischen und zerbrach. Die schwarzen Stücke zogen ihn mit sich zu Boden, wo er schwer blutend liegen blieb.
»Schnell!«, rief Helene und presste die Jacke auf Moritz’ Bauch. »Er verblutet.«
Ein starker Strom reinen roten Blutes quoll aus dem Körper heraus und ergoss sich über die Reste des verstreuten Glases, Helenes Hände und die Dielenbretter. Zwar war die Schwärze aus Moritz’ Körper gewichen, aber nun floss auch das Leben unaufhaltsam aus ihm heraus.
Konstanze konnte sich kaum noch rühren. Sie hörte Helenes Wimmern, doch sie war außerstande ihr zu helfen. Tränen schossen ihr ins Gesicht, heiß und innig. Sie war zu erschöpft, viel zu erschöpft.
Plötzlich war da eine Bewegung – ein Schemen im Augenwinkel. Die Hexe erhob sich, war wieder wach und tatendurstig. Der Bann des Sterns war von ihr abgefallen.
Sie lief zu Helene, presste ihre Hände auf die offene Wunde in Moritz’ Bauchhöhle und schrie: »Ist auch der zweite Splitter entfernt?«
Helenes Antwort bekam Konstanze nur noch bruchstückhaft mit. Sie sah die Baba Jaga losrennen und obskure Bestecke holen, gebogene Objekte, die spitz und scharf im Kerzenlicht funkelten.
Dann glitt Konstanze in einen unersättlichen Schlaf hinüber, an dessen Ende, wie sie hoffte, neue, fröhlichere Musik wartete. Vielleicht etwas in Dur.
Als Konstanze erwachte, lag Moritz ausgebreitet auf dem goldenen Tisch, ein weiches Schaffell unter sich. Der Caladrius saß auf seinen Füßen, gehüllt in ein Schachbrettmuster aus grauweißem Flaum. Er blickte auf den Körper hinab und allmählich hellten sich die Federn auf.
Die Baba Jaga beobachtete das Tier und betupfte Moritz’ Stirn – ihren seltsamen, besudelten Schlafrock hatte sie gegen eine ordentliche Tracht getauscht. Immer wieder murmelte sie fremdartige Worte, während Vasili sich an ihre Hahnenfüße schmiegte und eine leise Melodie schnurrte. Die Laute ließen Konstanzes Lider schwer werden.
Sie kämpfte gegen die Müdigkeit an und setzte sich schwerfällig auf. Man hatte sie nahe der geöffneten Stubentür auf eine muffige Decke gebettet. Der Tornister mit Fips stand neben ihr. Das kleine Monsterchen darin hatte Gesellschaft bekommen. Fieswurz kuschelte sich mit einem dicken Verband um den Kopf an den schuppigen Körper. Die beiden dösten, wobei der Homunculus im Halbschlaf an seinem Daumen nuckelte.
Doch wo war Helene? Konstanze blinzelte den Flur hinunter. Draußen im kühlen Morgenlicht saß ihre Freundin, den Korb mit Edgar auf dem Schoß und ein viereckiges Kästchen neben sich. Sie rührte sich nicht, so als wäre sie eingefroren. Jenseits der Tür, jenseits der Zeit …
Die Stimme der Baba Jaga drang leise an Konstanzes Ohr. Sie sah die Hexe schlaftrunken an.
»Ihr habt vergessen, meinen Kater zu füttern.«
»Kommt nicht wieder vor«, murmelte das Mädchen mit unendlich schwerer Zunge.
»Ich verzeihe euch«, lächelte die Alte. »Ein sehr schönes Instrument, das du da ergattert hast.«
Konstanze drückte Geige und Bogen, die auf ihrem Bauch lagen, noch etwas fester an sich. »Die habe ich überreicht bekommen«, nuschelte sie. Es fiel ihr nicht leicht, in Gegenwart der süßen, verlockenden Katermusik die Augen offen zu halten.
»Keine Sorge, niemand nimmt sie dir weg. Sie ist dein Eigen.« Die verschwommene Gestalt der Baba Jaga ging vor ihr in die Hocke, um mit ihr von Angesicht zu Angesicht zu sprechen. »Und die Pfeife, die ich dir gegeben habe, darfst du auch behalten, furchtloses Mädchen. Durch deinen Bruder bin ich heute in den Besitz eines zweiten Exemplars gekommen.« Sie tätschelte zwinkernd eine verborgene Tasche in ihrer Schürze, in der sich ein bauchiger Pfeifenkörper abzeichnete. »Verrate es ihm aber nicht.«
Konstanze nickte matt. »Danke.«
»Schlaf weiter, du hast es dir verdient. Man hat mir erzählt, du hättest wunderbar gespielt.« Das Lächeln der alten Frau verblasste zu bunt glitzernden Schlieren, als Konstanze wieder einschlief.
Helene wusste nicht, wie viel Zeit im Hexenhaus vergangen war. Der Minutenzeiger der Rathausuhr war unaufhörlich in Richtung neun Uhr morgens vorgerückt. Immer noch sträubte sich ihr wacher Geist dagegen, zu glauben, dass in der Welt nur wenige Stunden verstrichen waren, während im Haus ein ganzer Tag oder gar eine Woche vorübergegangen war.
Ihre Arme und Hände schmerzten heftig von der Anstrengung, mit der sie den Splitter entfernt hatte. Und danach war es nicht vorbei gewesen. Die Hexe hatte recht behalten. Es befand sich ein weiterer kleiner Splitter in Moritz Brust, den sie mit großer Sorgfalt und Ruhe herausgelöst hatte, nachdem Moritz heftig blutend zusammengebrochen war. Das zweite Stück des Sterns war so fragil, spitz und lang gewesen, dass es fast wie ein Haar anmutete. Der Kampf mit dem Werwolf vor wenigen Monaten war also nicht folgenlos geblieben.
Nun ruhten beide Splitterteile in einem schmucklosen Kästchen auf den Stufen neben Helene.
Edgars Seele im Weidenkörbchen schlief ruhig. Von den Strapazen des Morgens und dem Kampf hatte er nichts mitbekommen. Ein sonderbares Gefühl stahl sich in Helenes Herz. Eigentlich war es unmöglich, dass ihr Bruder nichts davon bemerkt hatte. War dies das Werk der Hexe? Schonte sie ihn vor seinem letzten Gang?
Schritte näherten sich und jemand berührte Helene an der Schulter. »Er ruft nach dir«, flüsterte die Baba Jaga.
Eilig erhob sich Helene mit dem Körbchen und folgte der Hexe ins Haus. Am Ende des Flurs wartete bereits Konstanze mit Fips und Fieswurz auf dem Rücken. Das Mädchen war putzmunter und lächelte zuversichtlich.
»Es geht ihm schon viel besser«, sagte sie. Als ihr Helene einen fragenden Blick zuwarf, antwortete das Mädchen: »Sie spürt es.« Dabei deutete sie auf die Geige in ihren Händen.
»Das Ding ist praktischer als jeder Caladrius«, brummte die Hexe. »Und es kackt nicht in die Ecken.«
Gemeinsam gingen sie zu Moritz hinüber, der ruhig und gleichmäßig atmend auf dem Tisch mit dem Schafsfell lag. Schwerfällig wandte er den Kopf und blickte sie an. Ein sanftes Lächeln flatterte über sein Gesicht. Helene nahm seine Hand und drückte sie leicht. Und als sie die warme Haut spürte, so fest und voller Leben, wusste auch sie, dass das Schlimmste überstanden war.
Moritz erwachte. Er war allein in der Stube, nur der Kater lag zusammengerollt nahe der Feuerstelle. Das Tier blickte kurz auf, säuberte mit seiner großen Zunge Schnauze und Schnurrhaare und ignorierte ihn dann wieder.
Langsam und bedächtig setzte sich Moritz auf. Seine Glieder schmerzten zwar, doch er konnte sich aufrecht halten. In seinem Magen rumorte es – er hatte Hunger. Als er mit der Hand seinen Körper abtastete, bemerkte er den dicken Verband, der seinen Bauch zierte. Ein ziepender Druck schlummerte irgendwo in Höhe der Brust. Er schob sein blutdurchtränktes Hemd zur Seite und entdeckte eine zweite Bandage direkt über dem Herzen.
Ein Hustenreiz überkam ihn und die Schmerzen nahmen ihm für einen Moment die Luft. Als der Augenblick der Qual und Atemlosigkeit vorüber war, entdeckte er seinen Waffensack nahe der Tür. Er glitt vom Tisch hinunter und nahm ihn an sich. Mit traumwandlerischer Sicherheit verließ er die Stube, passierte den Flur und stieg die kurzen Treppenstufen des Hexenhauses hinab. Auf dem Pflaster vor den Stufen warteten drei Frauen, zwei Monster und eine Elster auf ihn. Die Turmuhr schlug stumm die neunte Stunde.