»Nun zu dir, junger Brenner.« Die Stimme der Baba Jaga ließ Moritz erschaudern. »Ich denke, du besitzt etwas, das mir gehört.«
Moritz wusste nicht, was sie meinte.
»Unser Handel«, half sie nach. »Mir gehört das, was sich in deiner Hosentasche befindet.«
Moritz trocknete seine Tränen. Seine Stirn war ein Meer aus Falten. »Aber der Splitter … Ihr habt ihn doch längst.«
Die Baba Jaga reckte ihre Nase in die Luft, lauschte dem Haus, das hinter ihr im Wind knackte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Es ging um das Kostbarste und Machtvollste, das sich in deiner Tasche befand.«
Moritz schluckte. Seine Hand fuhr in die Hosentasche. Es war doch überhaupt nichts mehr darin … Dann berührte er ein Stück gefaltetes Papier und zog es heraus. Es war mit Blut besudelt. Nun lag es auf seiner geöffneten Handfläche.
Die Baba Jaga nahm den Brief mit spitzen Fingern. Moritz wollte bereits protestieren, doch die alte Frau brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.
Sie entfaltete das Schriftstück, dessen Hälften vom Rot verklebt waren. »Was für eine Sauklaue«, murmelte sie und kniff die Augen zusammen. Sie studierte die Zeilen und stutzte. »Wie lautet der letzte Satz?«
Moritz’ Arme wurden kalt. Plötzlich konnte er sich nicht mehr rühren.
Helene trat an seine Seite. »Der letzte Satz wovon?«
»Nichts«, erwiderte Moritz.
»Das würde ich nicht sagen«, entgegnete die Baba Jaga. »Möchtest du es hören?«
»Bitte nicht«, flüsterte er.
Die Baba Jaga sah ihn lange an. »Es gehört mir und ich kann damit machen, was ich will.« Sie räusperte sich und begann langsam vorzulesen.
Helene, ich weiß, es ist nicht unsere Zeit. Aber ich möchte,
dass du weißt, dass ich auf dich warte. Wie ein Boogelbie.
Ich werde bobbeln, wenn du den Raum betrittst,
chrachern, um dich vor Gefahr zu bewahren,
lummern, wenn ich von dir träume,
pleurren, wenn jemand dir zu nahe tritt,
rooteln, wenn ich dich vermisse,
schränzen, wenn du mich ignorierst,
wuppern, wenn sich unsere Blicke treffen,
zergeln, bis du mich aus meinem Käfig befreist,
brennen, wenn du mich anlächelst,
singen, wenn du meine Hand ergreifst.
Und wenn es so weit ist, dann …
Helene blickte Moritz an, abwartend.
»… dann werden wir gemeinsam leuchten, um die Dunkelheit zu erhellen.« Moritz sah zu Boden, traute sich nicht, auch nur eine Sekunde aufzusehen. Dann spürte er, wie jemand sein Gesicht sanft in beide Hände nahm und ihn küsste. Es fühlte sich warm und weich an und schmeckte nach Leben. Er zitterte leicht, als sich Helene von ihm löste. Der Moment gehörte nur ihnen und dem Wahnsinn und Taumel des ersten Kusses.
»Das hat er von mir.« Fieswurz’ Stimme schnitt in die Verträumtheit des Augenblicks. »Ich habe ihm Tipps gegeben, wie man so etwas schreibt, müsst ihr wissen. Er ist zwar kein Dante, aber …« Er verstummte und wischte sich eine kleine Träne fort.
»Den Splitter könnt ihr behalten«, seufzte die Baba Jaga und drückte Moritz das Metallkästchen in den Arm.
»Aber wir wollen ihn gar nicht.« Helene schüttelte abwehrend den Kopf.
»Das ist nicht länger mein Problem«, rief die Hexe mit wedelndem Finger. Sie wandte sich ab.
»Wir müssen ihn loswerden«, sagte Moritz. »Irgendwohin bringen, wo er niemandem mehr schaden kann.«
»Das wird nicht funktionieren.« Die Stimme der Baba Jaga schallte zu ihnen herüber. Sie war zu den Stufen ihres Hauses hinübergewatschelt und stehen geblieben.
»Was sollen wir dann tun?«, fragte Helene.
Die alte Hexe sah sie an – eine Brise umwehte ihren Rock. »Ich würde die furchtloseste Person fragen, die ich je erlebt habe.« Dabei sah sie an Moritz und Helene vorbei und das kleine Mädchen in zweiter Reihe an.
Es dauerte einen stolzen Augenblick, bis Konstanze reagierte. »Aber ich weiß auch nicht, was wir damit machen können.«
Die Baba Jaga hob eine Augenbraue. »Nun, stell dir mal vor, du bist ein einsamer Stern, weit weg von zu Hause. So allein und hungrig nach der Berührung der Deinen, nach einem Miteinander, dass du mit jedem Jahr, das ins Land zieht, immer schwärzer wirst, verzweifelter und leerer. Du möchtest gern erlöst werden, denkst immerzu an das, was du dir am meisten ersehnst … Was würdest du tun?«
Konstanze überlegte lange. »Ist das so ähnlich, wie wenn ich will, dass mein Bruder etwas für mich tut und ich weiß, dass er eigentlich überhaupt keine Lust dazu hat?«
Die Hexe lächelte und entblößte dabei einmal mehr den Rost an ihren Zähnen. »Das könnte man so sagen.«
»Dann würde ich ihm einen Gefallen tun, damit er mir auch einen Gefallen tut.«
»Ah!« Die Baba Jaga breitete die Arme aus. »Da haben wir es. Tun wir nicht alle das, was wir uns selbst von unseren Mitmenschen erhoffen?«
Die drei Kinder standen im Kreis, das Kästchen in ihrer Mitte. Ein stilles Rauschen strich durch die Welt. Der Wind war zurückgekehrt und trieb dünnes Laub durch die Straßen von Prag.
»Was tut der Stern?«, flüsterte Moritz.
»Was hat er die gesamte Zeit über getan?«, überlegte Helene.
»Warum ist er einsam?«, fügte Konstanze hinzu.
»Wie mag er wohl schmecken?«, grübelte Fieswurz.
Fips zergelte lautlos.
»Er erfüllt Wünsche«, sagte Moritz leise.
»Weil er sich selbst etwas wünscht«, ergänzte Helene.
»Weil er nicht da ist, wo er sein sollte«, murmelte Konstanze.
»Ich lecke an ihm, wenn niemand hinschaut«, beschloss Fieswurz.
Fips bobbelte stumm.
Konstanze legte eine Hand auf das Kästchen mit den Fragmenten des schwarzen Sterns. »Er braucht jemanden, der sich etwas für ihn wünscht. Er muss nach Hause zurück.«
»Dann lasst uns ihm helfen«, sagte Moritz.
Jedes der Kinder legte eine Hand auf das Kästchen und gemeinsam schlossen sie die Augen. Sie spürten die Wärme des jeweils anderen unter ihren Fingern und sprachen gleichzeitig den Wunsch aus.
»Kehre dahin zurück, wo du hergekommen bist …«
Ein schwarzes Licht loderte plötzlich aus dem Inneren des Kästchens hervor. Sein dunkler Schein war so intensiv, dass Moritz, Helene und Konstanze die Augen noch fester zusammenkniffen, um nicht wahnsinnig zu werden. Selbst die Baba Jaga schloss ihr gutes Auge und besah sich das flammende Wunder nur mit der Unverwüstlichkeit der Eisenkugel in ihrem Kopf. Fieswurz bedeckte das Gesicht und Fips fiel vorsichtshalber in Ohnmacht.
Ein seltsames Wogen ergriff die Stadt. Häuser, Türme, Karren, Droschken, Kirchen, ganze Straßenzüge, alles bog sich im Sog einer unheimlichen Kraft gen Himmel. Die Gebäude, unverrückbar und steinern, krümmten sich den Wolken entgegen, als ob sie aus weichem Teig bestünden. Das schwarze Leuchten ließ Wände wackeln und lockerte Pflastersteine. Staub und Nässe sausten wie milchige Tropfen aus den tiefsten Ritzen der Stadt empor und schossen in die Höhe. Selbst der Himmel reagierte und die Wolken verflüssigten sich zu schwarzen, saugenden Bändern, als sämtliche Farbe aus der Welt wich. Das Blau des Tages verwandelte sich in ein zähes Grau.
Dann brach sich das finstere Licht Bahn. Moritz, Helene und Konstanze zogen die Finger von eisiger Kälte verbrannt zurück, als sich der Deckel des Kästchens öffnete und zwei ungleiche Sternschnuppen senkrecht himmelwärts rasten. Eine zierlich und klein, die andere gewaltig und groß. Sie vereinten sich zu einem einzigen Objekt, bevor sie eine tiefe Wunde in den unheilvollen Gewitterhimmel rissen und in der unbekannten Weite dahinter verschwanden.
Ein Prasseln setzte ein, als die Fuge in der Welt ihre Pforten wieder schloss. Steine und Schmutz, alles, was vorher in die Luft gehoben worden war, sauste nun dem Erdboden entgegen und hämmerte auf Prag ein. Die Kinder schrien auf, als mit ohrenbetäubendem Trommeln ein kurzer Schauer auf sie herniederregnete.
Schließlich setzte sich die Stadt wieder zusammen, neu und doch alt, rein und doch schmutzig, golden und doch grau. Jedoch ewig wie immer. Eine wiedererweckte Stadt, geküsst von einem neuen Anfang.