Moritz öffnete die Augen. Das Metallkästchen lag aufgeklappt und leer auf dem nassen Steinboden, übersäht von kleinen und großen Dreckspritzern. Helene und Konstanze sahen ihn an – auch sie saßen mit Schmutz besprenkelt auf dem Pflaster.
»Sie ist weg«, sagte Fieswurz und deutete auf einen Punkt hinter Moritz. Der wandte den Kopf und sah, dass die stelzenbeinige Hütte der Baba Jaga verschwunden war. Ob sie den Moment genutzt hatte, um ebenfalls zu verschwinden, oder mit dem Stern in unerreichte Ferne gesaugt worden war, wusste er nicht. Doch es war vorbei.
In der Weite des Marktplatzes konnte er den Wagen stehen sehen, genau da, wo sie ihn tags zuvor abgestellt hatten. Und seltsamerweise wartete jemand auf sie …
»Irmgard!« Konstanze sprang auf.
Tatsächlich war das Riesenbiest von einer Monsterkatze wieder genau dort, wo es hingehörte – eingespannt vor den Wagen. Irmgard saß mit dem Hinterteil auf dem Boden und hurrelte lautstark, als Konstanze zu ihr rannte. Es klang wie das schönste Geräusch der Welt.
Mit leichten Schmerzen im Bauch und auf der Brust erhob sich Moritz und reichte Helene die Hand. Gemeinsam liefen sie zum Wagen, Fieswurz folgte ihnen. Im Näherkommen flackerte ein lang vermisstes Geräusch auf: Fips lummerte in Irmgards Gegenwart. Auch er hatte seine Stimme wiedergefunden.
Ehe sie sich’s versahen, waren sie von Menschen umzingelt, mussten Kutschen ausweichen und wurden von Betriebsamkeit eingekesselt. Das trubelige Leben tauchte ebenso plötzlich wieder auf, wie die Stille zuvor über die Welt gekommen war. Fieswurz rettete sich auf Moritz’ Rücken, um nicht von Karren zermalmt zu werden, und glitt in den Schutz des Wagens, als sie den Kutschbock erreichten. Glücklicherweise schien kaum jemand Notiz von den Kindern zu nehmen.
Konstanze stand bei Irmgard und liebkoste deren unheimlichen Riesenschädel mit den schiefen Zähnen.
»Pass gut auf die beiden auf«, flüsterte sie im Gedränge.
»Was hast du gesagt?«, fragte Moritz und reichte ihr die Hand.
Konstanze trat einen Schritt zurück und stieß fast mit einer vorübereilenden Frau zusammen.
»Es tut mir leid«, murmelte sie.
Moritz ließ den Arm sinken. »Was tut dir leid?«
»Ich kann nicht mit euch kommen. Die Geige, sie braucht mich. Ich bin die neue Musikantin.«
Der Lärm um sie verblasste. Moritz sah, wie seine Schwester das Instrument an sich presste, den Tornister mit Fips auf dem Rücken. Das einzige Wort, was ihm auf die Lippen sprang, war ein seelenvolles »Nein«.
Im Schatten von Marktschreiern, Tagelöhnern und Taschendieben trat Konstanze zu ihm und legte eine Hand auf seinen Arm. »Versprich mir, dass du hin und wieder mit Irmgard spielst. Und wenn du einen Boogelbie triffst, kitzle ihn von mir. Sie mögen das.«
»Geh nicht«, flüsterte Moritz.
»Ich kann nicht bleiben.« Konstanzes Augen waren voller Trauer. Auch Moritz war erfüllt von Traurigkeit.
»So darf es nicht enden«, murmelte er und senkte den Blick.
Die Geschwister standen beisammen, während der Strom des Lebens an ihnen vorüberzog. An diesem Ort, zu dieser Zeit gab es nur sie.
Dann blieben die Menschen plötzlich stehen. Sie verharrten in ihrer Pose und rührten sich nicht mehr. Kinder, die sprangen, hingen in der Luft fest, Säcke, die von einem Karren rutschten, berührten nicht den Boden und Flüche in Köpfen verließen nie die Kehlen. Alles erlahmte, als ein Wind, der kälter und stärker als andere Winde über den Marktplatz fegte, ein stelzbeiniges Hexenhaus mit sich brachte.
»Zum Teufel!«, brüllte jemand aus dem Inneren und das Haus neigte sich, so gut es eben konnte, nach unten, sorgsam darauf bedacht, nicht die Menschen, Kutschen und Stände zu zermalmen. Die Tür flog auf und die Baba Jaga stiefelte heraus.
»Mitkommen!«, befahl sie und verschwand in dem kurzen flurähnlichen Vorraum.
Moritz, Konstanze und Helene tauschten einen Blick.
»Wird’s bald?«, blökte die Alte aus dem Inneren. »Ich werde schließlich nicht jünger!«
Verwundert kletterten die Kinder über Irmgards mächtigen Rücken hoch zum Hexenhaus – es stand so schräg nach vorne gekippt, dass das Betreten zu einer ausgewachsenen Rutschpartie ausartete. Erst als Moritz, Helene und Konstanze den Flur erklommen hatten, geriet das Heim wieder in eine aufrechte Position.
Sie fanden die Stube vollkommen verändert vor. Kein Anzeichen deutete mehr auf die grauenvollen Ereignisse hin, die sich hier abgespielt hatten. Stattdessen bedeckte ein seltsamer orangeroter Flaum Decke, Wände, Fußboden und Teile der Kochecke. Überall wuchsen verfilzte Locken – sogar auf dem riesigen Berg schimmligen Geschirrs, der in einem Waschzuber vor sich hin gärte. Selbst Vasili in der Ecke hatte rötliche Wellen bekommen. Er sah aus, als hätte man ihm eine Perücke verpasst.
»Nun seht euch das an! Zuerst tauchen Dinge aus dem Nichts auf, dann macht er mein wertvolles Teeservice wieder schmutzig, wenn ich es brauche, und jetzt DAS! Seitdem er hier im Haus ist, treibt er mich in den Wahnsinn!«
»Wen meinst du?«, fragte Helene.
»Deinen verdammten Bruder!«, platzte es aus der Hexe heraus. Sie fuchtelte mit dem Finger. »Das ist Erpressung!«
Eine unschuldige rothaarige Schublade öffnete sich von selbst und stieß ihr sanft von hinten in die Seite.
»Au! Unverschämte Vogelscheuche!«, grunzte die Hexe.
Konstanze konnte sich ein Kichern nicht verkneifen und Moritz hätte schwören können, dass auch die Schublade gickelte, als sie sich in das Möbelstück zurückzog. Aber vielleicht fehlte ihr nur etwas Schmiere.
Die Baba Jaga schüttelte sich vor Zorn und baute sich vor Konstanze auf. »Er will, dass ich dich bei mir aufnehme. Als Lehrling. Pah!«, rief sie. »An dieser Stelle möchte ich nochmals betonen, dass das eine ganz hinterhältige Masche ist!«
»Wirklich?« Konstanze strahlte.
»Bist du in den letzten fünf Minuten schwerhörig geworden?«, polterte die Hexe. »Ja, verteufelt noch mal!«
»Aber wie soll das funktionieren?«, fragte Moritz. »Die Geige … ich dachte, Konstanze müsste ihr folgen.«
»Ach, die Kleine hat mehr als genug Zeit hier im Haus!«, brummte die Hexe. »Sie könnte ein Jahr hier verbringen und würde draußen in der Welt nicht eine Sekunde fehlen, schließlich kontrolliert er die Zeit!« Die alte Frau schnaufte. »Das hatte ich übersehen.«
Konstanze blickte Moritz an, mit Augen wie fröhliche Halbmonde. »Dann können wir auch hier zusammen sein! So lange wir wollen!«
»Auf keinen Fall!« Die Baba Jaga wedelte mit den Armen. »Von noch mehr Gästen war nie die Rede!«
Es rumpelte in der Kochecke und eine Reihe neuer, leuchtend roter Löckchen spross auf der Ofenklappe. Sie entzündeten sich in Windeseile und steckten die Küche in Brand.
Die Baba Jaga stürzte zum übervollen Waschzuber und schüttete ihn mitsamt dem empfindlichen Porzellan über den schwelenden Feuerherd. Es schepperte und krachte. Dann zischte es friedlich.
»Na gut«, seufzte sie. »Sonst noch irgendwelche Wünsche?«
Zaghaft zogen sich einige der Locken zurück. Offenbar war Edgar vorerst zufrieden.
»Sieht so aus, als hätte ich eine gute Fee!«, rief Konstanze und tänzelte durch die lockige Stube.
Moritz warf Helene einen seltsamen Blick zu. Diesen Ausdruck hatte er schon einmal gehört.
Die Hexe trat schnaufend an sie heran. »Ich wäre euch sehr verbunden, wenn ihr ein gutes Wort für mich bei ihm einlegen könntet. Ich habe wirklich nicht viel Platz, wisst ihr.« Sie lächelte schief.
Moritz beugte sich zu ihr hinunter. »Ist das die Wahrheit? Können wir im Haus so viel Zeit verbringen, wie wir wollen, ohne dass Konstanze in der Welt fehlt?«
Die Alte lächelte – sie witterte eine Abmachung. Plötzlich ähnelte sie einer Krämersfrau, die sorgsam darauf bedacht war, ihnen besonders billiges Gänseschmalz aufzuschwatzen.»Selbstverständlich«, flötete sie mit Kennermiene. »Der neue Tod – Pardon! – das Tödchen wird zu jeder Zeit, in jeder Sekunde da draußen gebraucht. Gestorben wird immer. Wir müssen nur zusätzliche Zeit im Haus schaffen. Aber das ist für euren Edgar überhaupt kein Problem.« Ihre Fingerknöchel knackten nervös.
Moritz sah Helene an. »Was denkst du?«
Sie ergriff seine Hand und küsste ihn leicht auf die Wange. »Lassen wir den beiden den Spaß.«
Er seufzte, halb vor zerfließender Wärme, halb vor Unentschlossenheit. »Aber würde meine Schwester hier drin nicht viel schneller altern als draußen?«
Das Eisenauge der Baba Jaga funkelte. »Ich habe einen Trank, der …«
»Auf keinen Fall!« Moritz hob abwehrend die Hände.
Die Hexe zeigte ihr hübschestes Festtagslächeln. »Für euch ist es umsonst … ihr gehört ja praktisch zur Familie. Nennt mich Großmütterchen.« Sie kicherte lieblich.
Moritz konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Wir denken darüber nach«, sagte Helene und drückte seine Hand.
Konstanze hüpfte auf ihrem Weg durch die Stube wieder an ihnen vorbei. »Und wann fangen wir mit dem Unterricht an?«
»So schnell als möglich, furchtloses Mädchen«, rief die alte Frau und begleitete Konstanze zum goldenen, derzeit leicht behaarten Tisch hinüber.
Die beiden nahmen in der Sitzecke Platz.
»Isst du eigentlich auch kleine Kinder?«, erkundigte sich Konstanze nicht ohne eine gewisse Begeisterung.
»Nein«, antwortete die Hexe. »Und ich mache keine Ausnahmen für dich!«
»Schade.«
»Aber ich werde dir alles zeigen.«
»Alles?«, fragt das Tödchen.
»Alles, was ich weiß. Die Wunder, das Leben, wie man Knochenschach spielt und mit dem Roquefort in der Vorratskammer verhandelt.« Sie lächelte offen. »Und danach zeigst du mir, was du weißt.«
»Das dauert aber lange«, seufzte Konstanze.
»Das hatte ich befürchtet«, entgegnete die Hexe.
Unbemerkt zogen sich Moritz und Helene in den Vorraum zurück, während Konstanze begann, den Einrichtungsstil der Baba Jaga unverblümt zu kritisieren. »Hängst du an dem Tisch? Er sieht klobig aus und ich brauche Platz zum Üben für die Geige«, begann sie. »Außerdem wären ein paar bunte Vorhänge und Tücher schön …«
Die Hexe stöhnte schicksalsergeben.
»Und«, hob Helene an, als sie außer Hörweite waren, »willst du ein Leben im Hexenhaus führen?«
Moritz schüttelte den Kopf und sah den Flur hinunter. Dort kauerte eine unscheinbare Gestalt. Als Fieswurz seinen Blick bemerkte, drehte er sich um und wollte das Haus verlassen.
»Wo willst du hin?«
Der Homunculus stoppte mitten in der Bewegung. Er ließ die Schultern hängen, drehte sich aber nicht um. »Zurück zu meiner Brücke …«
Helene umfasste Moritz’ Hände und nickte ihm zu.
»Die Brücke gibt es leider nicht mehr«, sagte er. »Sie wurde von einem Steinschlag im Gebirge zerstört. Schlimme Sache. Es ist nichts davon übrig geblieben.« Moritz ließ die Worte wirken. »Ich fürchte, du musst uns wohl oder übel auf unserer Reise begleiten.«
Der Körper des Homunculus zitterte im Gegenlicht. »Wenn das so ist«, sagte er langsam, »habe ich keine andere Wahl. Aber gewöhnt euch nicht daran. Sobald ich eine akzeptable Ersatzbrücke gefunden habe, bin ich weg.« Er hüpfte leichtfüßig dem Tageslicht entgegen und murmelte: »Der Junge braucht dringend Unterricht im Flunkern. Wenn er die Geschichte wenigstens ausgeschmückt hätte, mit einem Berggeist oder zweien … hach, ich habe viel Arbeit vor mir.« Er sprang auf den Marktplatz hinunter.
Helene sah Moritz forschend an. »Unsere Reise? Heißt das, dir ist immer noch nach borstigen, feurigen, versteckten und unsichtbaren Monstern?«
Moritz nickte. »Mock, Mock, Mock!«
Sie lächelte. »Dann ist es jetzt Zeit.«
»Wofür?«
»Um gemeinsam zu leuchten.« Sie zog ihn an sich und küsste ihn erneut. Diesmal erwiderte er den Kuss.
Und während sie ineinander versunken in der Stille des Vorraums standen, wussten sie, dass von nun an ein neuer Tod über sie wachen würde. Ein vorlautes Tödchen, das auf Dächern herumkletterte, einen Boogelbie bei sich trug und griesgrämigen russischen Katern rosa Schleifen ins Fell band.