Ohne das verdutzte Gesicht seiner Schwester zu genießen, schlich Moritz näher auf die nebelhaft erhellte Brücke vor den Toren Goldaus zu. Konstanze und Irmgard folgten ihm durch das Unterholz, wobei die massige Monsterkatze im Gegensatz zu dem kleinen Mädchen deutlich weniger Geräusche verursachte.
Als Moritz nur noch wenige Meter vom Waldrand entfernt war, schlitterte er in eine mit nassem Laub bedeckte Senke und wartete, bis Konstanze zu ihm aufgeschlossen hatte.
»Der Ohrendieb?«, japste sie. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?!«
Sofort bei ihrer Ankunft in dem malerischen Goldau hatten sie bemerkt, dass in dem Örtchen in den mächtigen Schatten des Schwarzwassertals etwas nicht stimmte. Einige Bürger trugen absonderliche Hüte, Hauben und Flechtfrisuren, die lang an den Seiten ihrer Gesichter herabhingen. Darunter verbarg sich ein Geheimnis: halbe, teilweise ganz fehlende Ohren. Angenagt und abgebissen von einem Wesen, das gemeinhin als Ohrendieb bekannt war. Seit mehreren Monaten schon trieb der Unhold auf der alten Brücke, dem einzigen Zugang zur Stadt, sein Unwesen, wie Moritz erfahren hatte. Das beißfreudige Wesen kam mit Anbruch der Dunkelheit und hockte sich auf die Schultern der Vorübergehenden. Jeder, der das hölzerne Bauwerk überqueren wollte, musste bezahlen: Gold her oder Ohren!
Was im ersten Augenblick wie ein schlechter Scherz anmutete, hatte bereits über dreißig brave Bürger ein Ohr gekostet. Sie versteckten das, was von den Angriffen übrig geblieben war, schamhaft. Die übrigen achteten darauf, sich nicht nach Sonnenuntergang auf der Brücke herumzutreiben, um nicht eines Ohrläppchens oder mehr verlustig zu gehen.
Natürlich gab es Mutproben. Halbstarke Frauen und Männer, die sich einen Jux daraus machten, die Brücke in den Abendstunden zu überqueren. Noch Wochen später liefen sie mit dicken Verbänden durch die Gassen und wurden von den Älteren für ihre Dummheit gescholten.
Die Stadt der halben Ohren, wie Moritz sie im Stillen nannte, hatte ein Problem. Und da die Bürger und besonders der Pfarrer der Gemeinde den fremden Kindern, die schon seit zwei Wochen im angrenzenden Wald lagerten, hin und wieder Essen aus der Armenkammer zusteckten, wollte sich Moritz erkenntlich zeigen. Auch wenn es riskant war – was nicht allein daran lag, dass er sehr an seinen Ohren hing.
Vier Monate waren sie bereits umhergezogen. Verborgen in tiefen Schluchten und dichten Wäldern. Selten hatten sie länger als ein paar Tage an einem Ort verweilt aus Sorge, von der Baba Jaga entdeckt zu werden.
Zwar gab es nirgends ein Zeichen von ihr, doch Moritz konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass dies nur dazu dienen sollte, sie zu zermürben. Ein nie endender Quell der Furcht, der Sorge, des Schmerzes …
»Was glaubst du, was es ist?«, fragte Konstanze in die Stille hinein.
»Du weißt, was die Menschen von Goldau erzählen. Und du kennst die vier Hauptgattungen der Monster. Als angehende Professorin für Monsterkunde kannst du dir diese Frage selbst beantworten.« Er zwinkerte ihr zu.
»Haha«, machte Konstanze, doch er sah, dass sie sogleich angestrengt überlegte. »Da wären die Borstigen, die Feurigen, die Versteckten und die Unsichtbaren –« Sie stockte und fügte leise hinzu: »Obwohl noch niemand ein unsichtbares Monster gesehen hat, weshalb ich die letzte Kategorie für unglaubwürdig halte.«
Moritz verzog das Gesicht. Er mochte es nicht, wenn seine Schwester an Edgars Theorien kratzte.
»Schon gut«, sagte sie leichthin. »Keiner der Leute hat etwas von Feuer gefaselt und von Borsten hat auch niemand berichtet. Wenn es also kein unsichtbares Monster ist …«, sie grinste frech, »handelt es sich vermutlich um ein verstecktes Wesen.«
»Bist du dir sicher?«, fragte Moritz.
Konstanze runzelte die Stirn. »Bis eben war ich’s noch.«
»Welche Geschöpfe gehören zur Kategorie der Borstigen?«, half er nach.
Konstanzes Augenbrauen arbeiteten emsig. Sie murmelte leise Worte, jedes von ihnen eine Kreatur, die ihr Moritz und Helene beigebracht hatten. »Wolpertinger, Zergelböcke, Bilwisse … Aufhocker!« Sie erstarrte. »Etwas hat sich auf die Schultern der Menschen gesetzt, um ihnen Angst zu machen. Es ist ein Aufhocker!«
»Sehr gut«, sagte Moritz. »Und was habe ich dir über Schwächen gesagt?«
Konstanze räusperte sich. »Jedes Wesen, jedes Monster hat eine Schwachstelle, einen wunden Punkt«, zitierte sie. »Wenn wir den kennen, können wir es einfangen und besiegen.«
Moritz’ Herz wurde eng. Es waren Edgars Worte. Gesprochen im November 1811, während ihrer ersten Nachtwache in Ravenbrück. Damals hatten sie gemeinsam auf der Lauer gelegen, um das Ungeheuer zu fassen, das Konstanze entführt hatte.
»Wolltest du deswegen das Gold?« Seine Schwester tätschelte Irmgards Riesenschädel, der sich zwischen die Geschwister drängelte und warmen, fischigen Atem verströmte.
Moritz nickte und rückte beiseite. Es war besser, mit der Bestie nicht zu sehr auf Tuchfühlung zu gehen – zumindest, wenn man nicht Konstanze war. »Der Aufhocker scheint es auf das Gold der Opfer abgesehen zu haben und wenn er es nicht bekommt … HAPPS!«
»Wie wunderbar!« Das Gesicht seiner Schwester glühte vor Begeisterung.
»Nicht ganz das, was ich sagen würde, aber gut.« Moritz setzte den Tornister ab. Er platzierte den sanft glühenden Fips in der Senke. Dann reckte er den Hals. Die Brücke war nicht mehr als ein nasses, schwach beleuchtetes Gemälde, verborgen hinter schwarzen Baumstämmen. »Ich spiele den Köder. Du bleibst mit Irmgard hier und achtest auf den Boogelbie. Wenn der Ohrendieb auftaucht, schlägt Fips Alarm und du kannst dazukommen. Du musst die Aufmerksamkeit des Aufhockers auf den Löffel lenken. Tu so, als ob er aus Gold wäre – bei der schlechten Beleuchtung bemerkt man den Unterschied bestimmt nicht. Halte den Löffel sichtbar in den Händen und lass ihn anschließend in den Sack fallen, damit er da hineinspringt. Wenn wir ihn haben …«
»… verhandeln wir«, beendete Konstanze den Satz.
Moritz nickte.
»Und wenn der Aufhocker zu groß für den Sack ist?«
Moritz warf ihr einen wissenden Blick zu. »Hast du dir die Bisse der Leute angesehen? Das Wesen ist klein, darauf verwette ich mein …«
»Ohr?« Konstanze gluckste. »Hoffen wir, dass du die Wette nicht verlierst.«
Moritz küsste sie auf die Stirn. »Los geht’s!«
»Mock, Mock, Mock!«, flüsterte seine Schwester zum Abschied, während er durch das schemenhafte Unterholz zum breiten Waldweg schlich.