Ungeduldig sah Geert de Vogel auf seine Armbanduhr. Ihnen blieben noch fünfzehn Minuten bis zur Abfahrt des Busses. Im letzten Jahr war die Haltestelle an die Umgehungsstraße außerhalb des Dorfs verlegt worden. Das bedeutete einen Fußmarsch von fast zehn Minuten, und wenn Riet weiterhin so trödelte, würden sie es nicht schaffen.
Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen. »Riet, nun mach endlich! Es ist gleich halb fünf. Wenn du dich nicht beeilst, fährt der Bus ohne uns ab und wir müssen eine Dreiviertelstunde auf den nächsten warten.«
Im ersten Stock schlug eine Tür zu und Riet tauchte oben an der Treppe auf. »Immer mit der Ruhe! Ich bin so gut wie fertig, muss nur noch rasch die Tasche packen …«
Seufzend folgte Geert seiner Frau in die Küche. Ihr Sohn Pim, der in der 35 km entfernten Stadt wohnte, hatte sie eingeladen. Wie immer hatte Riet darauf bestanden, das Abendessen vorzubereiten. Sorgfältig stapelte sie die Tupperdosen der Größe nach in der Tasche.
»Trägst du das bitte?«, fragte Riet gut gelaunt und ging an ihm vorbei in den Flur. Während Geert hektisch auf die Küchenuhr blickte, zog Riet sich in aller Seelenruhe die Schuhe an.
»Regnet es noch?« Ohne seine Antwort abzuwarten, griff sie nach dem Schirm.
»Ja, es nieselt. Jetzt lass uns aber gehen.«
»Und die Terrassentür? Hast du die abgeschlossen? Moment noch, jetzt hätte ich fast meine Lesebrille vergessen.« Sie hastete an Geert vorbei ins Wohnzimmer und suchte in den Schubladen des Büfetts nach ihrer Brille. Geert sah ein weiteres Mal auf seine Armbanduhr. »Riet!«, brummte er.
Zufrieden lächelnd hielt sie das Brillenetui hoch und ging an ihm vorbei aus dem Haus.
Es nieselte schon seit Stunden. Riet und Geert trotzten mit gebeugtem Rücken dem heftigen Wind. Inzwischen hatten sie das Dorf hinter sich gelassen und den schmalen Fußweg entlang der Umgehungsstraße eingeschlagen.
»Nicht so schnell, Geert!«, jammerte Riet, die Mühe hatte, mit ihrem Mann Schritt zu halten. »Ich bin nicht mehr die Jüngste.«
Er blieb kurz stehen.
In der Ferne war bereits das Wartehäuschen zu sehen. Geert seufzte und trottete langsam neben seiner Frau her.
Noch ein paar Hundert Meter. Als Geert erneut auf seine Uhr schaute, fuhr der Bus an ihnen vorüber. Rasch hob er die Hand, doch der Bus brauste an der Haltestelle vorbei. Geert unterdrückte einen Fluch und warf seiner Frau einen wütenden Blick zu.
»So ein Pech!«, stöhnte sie und ging mit zügigen Schritten weiter. Sie erreichte die Haltestelle als Erste und ließ sich keuchend auf die Wartebank fallen. Geert wollte sich schon neben sie setzen, als sein Blick auf ein Stück Stoff hinter der Glasscheibe fiel. Mit gerunzelter Stirn blieb er stehen. Riet drehte sich um und folgte seinem Blick. Hinter dem Wartehäuschen, halb verborgen von einem großen Werbeplakat, hockten zwei Mädchen. Zusammengesunken, den Rücken an die Scheibe gelehnt. Neugierig versuchte Riet, an dem Plakat vorbeizuspähen.
»Was machen die denn da?«, flüsterte sie ihrem Mann zu.
Geert zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ruhen sie sich aus.«
»Im Regen? Die werden doch krank!« Sie klopfte an die Scheibe, aber die Mädchen reagierten nicht.
»Hallo, ihr beiden!« Riet stand auf und klopfte lauter. »Die rühren sich überhaupt nicht. Geert, geh doch mal nachsehen!«, drängte sie ihn und schob ihren Mann durch den Regen vor sich her.
Er zog die Brauen zusammen. Irgendetwas stimmte mit den beiden Mädchen nicht. Seine blank geputzten Schuhe sanken im nassen Erdreich ein, als er sich ihnen näherte.
»Hallo?«
Das Mädchen mit dem langen dunklen Haar wandte ihm das Gesicht zu, blickte aber ins Leere. Ihre Augen waren wässrig. Sie verzog kurz den Mund, sagte aber nichts. Ihre Wimperntusche war zerlaufen und die blassen Wangen schwarz verschmiert. Geert schätzte sie auf sechzehn, höchstens siebzehn.
»Was macht ihr denn da im Regen?«
Das andere Mädchen lehnte mit zurückgelegtem Kopf und geschlossenen Augen an der Scheibe. Sie zeigte keinerlei Regung und ihre Haltung kam ihm irgendwie unnatürlich vor. Der Wind trieb ihr ein Stück Zeitungspapier ins Gesicht, aber sie reagierte nicht.
Geert ging neben dem dunkelhaarigen Mädchen in die Hocke und legte ihr die Hand auf die Schulter. Er spürte, wie sie sich verkrampfte. Plötzlich schrie sie wütend: »Fassen Sie mich nicht an!«
Erschrocken zog er die Hand weg und murmelte eine Entschuldigung.
»Gehen Sie!« Nun trat das Mädchen auch noch nach ihm. »Hauen Sie ab, los!«
»So was aber auch! Wenn du mich fragst, sind die sternhagelvoll«, flüsterte Geert seiner Frau zu, während er sich mühsam aufrichtete.
»Meinst du wirklich? Lass mich mal …« Sie schob ihn zur Seite und kniete sich neben das dunkelhaarige Mädchen. »Was ist los mit euch? Habt ihr getrunken?«
»Ich will nach Hause«, wimmerte das Mädchen.
Riet schnupperte. Das Mädchen hatte mit Sicherheit nicht getrunken. Sie schien viel eher Angst zu haben.
»Wir tun euch nichts, wir wollen nur helfen. Seid ihr verletzt? Was ist denn passiert?« Sie legte dem Mädchen die Hand auf die Stirn. »Wie heißt du?«
Eine Weile blieb es still, als müsste das Mädchen angestrengt überlegen.
»Marcia«, sagte es dann leise und begann zu weinen.
Geert stand mit besorgter Miene hinter seiner Frau und bemühte sich, ebenso ruhig und gelassen zu bleiben wie sie, doch es gelang ihm nicht. Seine Hilflosigkeit ließ ihn immer nervöser werden. Bestimmt hatten die Mädchen ein schlimmes Erlebnis gehabt, auch wenn weder Blut noch blaue Flecken zu sehen waren. Aus ihrem Dorf kamen die beiden nicht, sonst hätte er sie bestimmt erkannt. Weiß der Himmel, wie lange sie da schon im Regen saßen. Das Weinen des dunkelhaarigen Mädchens klang seltsam, wie von einem gequälten Tier.
»Hol mein Handy aus der Tasche!« Riets Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er nickte und setzte sich ein wenig unbeholfen in Bewegung.
Geert wohnte schon sein ganzes Leben im Dorf. Fünfundsiebzig Jahre, aber so etwas hatte er noch nie erlebt. Er hatte unzähligen Kälbern auf die Welt geholfen, Schweine geschlachtet und Hühnern den Hals umgedreht, aber mit den beiden Mädchen war er hoffnungslos überfordert.
Mit zitternden Händen kramte er in der Tasche. Endlich fand er das Handy. Er eilte zurück zu seiner Frau.
»Da!« Geert hielt ihr das silberfarbene Gerät hin.
»Was ist? Telefonieren sollst du! Die Mädchen brauchen Hilfe. Schnell!«
»Telefonieren?«, wiederholte er und kratzte sich nachdenklich am Kopf.
»Ja! Ruf die Polizei an!« Mit einer ungeduldigen Geste bedeutete sie ihm, sich zu beeilen, dann wandte sie sich wieder den Mädchen zu.
Zögerlich drückte Geert ein paar Tasten. Handys waren ihm ein Gräuel, er fand sie unpraktisch und viel zu klein für seine großen Hände. Er seufzte, als es nicht auf Anhieb klappte. Dann endlich, nach drei missglückten Versuchen, stellte er erleichtert fest, dass ein Freizeichen ertönte.
»Polizeirevier, was kann ich für Sie tun?«
»Hier spricht de Vogel!« Die Stimme des Mannes überschlug sich vor Aufregung. »Hier sind zwei Mädchen, aus denen ist kein vernünftiges Wort rauszukriegen. Es regnet, die eine heult und … Sie müssen ganz schnell jemanden schicken!«
Der diensthabende Beamte bemerkte sofort die Panik in der Stimme des Anrufers. De Vogel war offenbar völlig außer sich. Er versuchte, ihn zu beruhigen, während er einen Kollegen heranwinkte. »Bleiben Sie bitte ruhig, sonst kann ich Ihnen nicht helfen. Ich brauche noch weitere Informationen.« Rasch notierte er die Nummer des Anrufers, die auf dem Display angezeigt wurde.
»Wo sind die Mädchen genau?«, fragte er.
»Hier! An der Bushaltestelle!«
»Und wo ist hier? Sehen Sie vielleicht irgendwo ein Straßenschild? Oder schauen Sie doch mal auf den Plan mit den Abfahrtszeiten. Ganz oben müsste der Name der Haltestelle stehen.«
Sekundenlang war es still in der Leitung.
»Akkerweg, Haltestelle Nummer 14.«
Der Beamte wiederholte die Angaben für seinen Kollegen, der eine Karte ausgebreitet hatte. Dieser nickte ihm zu und nahm dann per Funk Kontakt mit einem Streifenwagen auf, der in der Gegend unterwegs war.
»Herr de Vogel, sind die Mädchen verletzt?«
»Weiß ich nicht. Ich bin kein Arzt!« Der Mann klang immer aufgeregter. »Ich seh aber kein Blut. Das eine Mädchen redet wirres Zeug und heult die ganze Zeit, das andere ist gar nicht ansprechbar. Bitte, kommen Sie schnell!«
»Ein Streifenwagen ist bereits unterwegs und ich schicke auch gleich einen Krankenwagen. Bitte bleiben Sie bei den Mädchen, lassen Sie sie auf keinen Fall allein.«