»Kommst du noch eine Stunde mit zu mir?«, fragte Floor, als sie aus dem Bus stiegen.
»Gern. Wir können ja mal nachsehen, ob jemand auf dein Profil reagiert hat. Bist du nicht auch neugierig?«
»Doch, schon«, gab Floor zu. »Und vielleicht hat Fabian gemailt.«
Marcia legte den Arm um Floors Schultern und zog sie an sich. »Spannend, was?«
Mit Gebäck und Limo setzten sich die Mädchen erwartungsvoll vor den Computer. Floor öffnete ihre Mailbox und bekam Herzklopfen, als sie sah, dass Fabian geschrieben hatte.
Hallo, Floor,
Erik hat mich gefragt, ob ich am Samstag mit nach Herzogenbusch komme. Erst hatte ich keine Lust, aber dann habe ich dein Foto gesehen … Ich würde dich gern kennenlernen. Bis Samstag.
Fabian
Mit vor Aufregung geröteten Wangen knabberte Floor an ihren Fingernägeln. »Jetzt muss ich ihm zurückschreiben, oder? Was soll ich bloß antworten? Ich kenne Fabian doch gar nicht.«
»Ganz einfach: dass dir sein Foto auch gefallen hat und dass du … Los, rutsch mal! Ich mach das schon.«
Rasend schnell tippte Marcia eine Antwort. »Wird allmählich Zeit, dass du lernst, wie das mit den Jungs läuft. Du musst selbstbewusst sein! Mit deinen ganzen Komplexen vergraulst du sie nur.«
Floor machte eine gekränkte Miene, sodass Marcia ihre Bemerkung sogleich bereute.
»Komm, wir sehen mal nach, ob du schon ein paar Verehrer hast«, sagte sie rasch, um Floor versöhnlich zu stimmen. Marcia klickte Floors Profil auf der Flirtsite an und zählte die eingegangenen Nachrichten.
»Sieben! Ich hab’s dir ja gesagt!« Marcia las die erste Nachricht laut vor:
Ich heiße Tim und bin 16. Gutes Foto. Wie ich sehe, stehst du auf Motocross. Finde ich cool! Fährst du auch selber? Ich bin eher Skater.
Die Mädchen betrachteten das mitgeschickte Foto. »Seine Frisur ist irgendwie doof«, meinte Marcia. »Und außerdem ist er erst sechzehn.«
»Und wir fünfzehn!«, erinnerte sie Floor. »Er ist wenigstens ehrlich.«
»Oder auch nicht. Vielleicht ist er in Wirklichkeit erst zwölf. Was soll ich ihm antworten?«
»Was Nettes. Schreib, dass ich Skaten auch gut finde.«
»Soll ich fragen, wo er wohnt?«
»Ja. Und in welche Schule er geht und ob er auch ein Profil hat.«
»Siehst du, dir fallen ja doch Fragen ein. Noch ein bisschen üben, dann hast du’s drauf.« Marcia schrieb ihm schnell zurück. »So, jetzt der Nächste.«
Hallo, Xandra,
wie ich sehe, wohnst du in Gelderland. Ich auch. Ich heiße Wouter und wohne in der Gegend von Tiel. Mein Foto hab ich mitgeschickt, aber es ist leider nicht sonderlich gut. Ich höre gern Hardcoremusik, du auch?
Die Mädchen hatten die Plätze getauscht. Floor betrachtete das verwackelte Foto des Jungen, dann drückte sie auf »Antworten«.
Hallo, Wouter,
das Foto ist wirklich nicht gut. Wie alt bist du? Ich habe zwar ein paar Hardcore-CDs, höre sie aber nicht jeden Tag. Sonst drehen meine Eltern durch.
»Und jetzt?« Floor sah Marcia an.
»Abschicken und die nächste Nachricht lesen.«
Ein Signalton erklang und unten erschien die Meldung: Ruud sucht Kontakt.
Floor klickte seinen Namen an.
Hi, Xandra, ich bin Ruud aus Haarlem und sehe, dass du online bist. Kommst wahrscheinlich gerade aus der Schule, was?
Hallo, Ruud. Ja, wir sind erst vor Kurzem nach Hause gekommen.
Wir?
Meine Freundin und ich.
Und wie heißt deine Freundin?
»Wie war das gleich? Fett60 …?« Floor bekam einen Rippenstoß von ihrer Freundin und rieb sich die schmerzende Stelle.
»Lips17, du Nuss! Frag ihn, ob er uns ein Foto von sich schickt.«
Floor tat, wie ihr geheißen.
»Kein Foto«, las Floor laut vor. »Er will wissen, ob ich eine Webcam habe.«
Ja, habe ich.
Gib mir deine MSN-Hotmailadresse, dann reden wir auf MSN weiter.
»Meinst du, das sollen wir machen?« Floor war unschlüssig.
»Kein Problem. Du kannst ihn ja jederzeit blocken. Ich mach das auch oft.«
Floor gab ihre Hotmailadresse ein und klickte auf »Senden«.
Nach kaum einer Minute meldete Ruud sich auf MSN.
Hier bin ich, Mädels. Die Webcam wird gleich aktiviert. Ich fand dein Foto auf der Flirtsite übrigens total geil. Hast du noch mehr solcher Bilder?
»Geil …!« Marcias Stimme überschlug sich und Floor musste kichern.
Ein Schwarz-Weiß-Bild von zwei Händen auf einer Tastatur erschien. Marcia schubste Floor beiseite und begann zu tippen:
Du bist noch nicht im Bild. Deine Webcam ist zu weit nach unten gerichtet.
Das hängt davon ab, was du sehen willst. Ich sehe zwei knackige Mädels. Wer ist wer?
Marcia lachte in die Kamera und winkte.
Ich bin Lips17. Meine Freundin Xandra sitzt neben mir.
Sagt mal ehrlich … wie alt seid ihr?
Floor zuckte zusammen. »Lieber Himmel, ich hab total vergessen, meinen BH aufzupolstern! Da kannst du mal sehen: Der hat das sofort gemerkt!«
»Ach was, dafür sind die Webcam-Bilder viel zu undeutlich. Guck mal, er hat wieder was geschrieben.«
Mir macht das nichts aus, im Gegenteil: je jünger, desto besser. Jetzt aber mal ehrlich … wie alt seid ihr?
Sag erst, wie alt du bist!
Ich bin 28 und chatte oft mit jungen Mädchen. Ich komme mit jungen Mädchen viel besser klar. Ich finde es toll, über Sex zu reden. Ihr auch?
»Sex! Der hat sie wohl nicht alle! Ich rede doch nicht mit so ’nem alten Kerl über Sex. Den blocken wir!«
»Moment, erst mal sehen, was er genau will.« Marcia amüsierte sich über Floors ängstlichen Blick.
»Was wird der schon wollen!?« Floor hatte den Kopf gesenkt, weil sie plötzlich fürchtete, ihr Chatpartner könnte womöglich Lippenlesen. »Los, klick ihn weg!«
»Ach komm! Ist doch witzig!« Marcia tippte eine Antwort.
Was soll das?
Soll ich euch was zeigen?
Marcia stieß Floor an und grinste.
Was denn?
Schaut mal gut hin!
Er öffnete den Reißverschluss seiner Hose und griff hinein.
»Mach aus, klick ihn weg!«, kreischte Floor.
Die Hand kam wieder zum Vorschein, mit seinem Penis.
»Marcia! Ich will das nicht sehen!«
Das Schwarz-Weiß-Bild verschwand und Marcia lachte aus vollem Hals. »Mann, bist du verklemmt!«, kicherte sie. »Krieg dich wieder ein, ich hab ihn ja geblockt. Gehen wir lieber wieder auf die Flirtsite.«
Ein Signal ertönte und gleich darauf erschien die Meldung, dass Badman Kontakt suchte. Marcia schob Floor die Tastatur hin. Ein wenig widerwillig klickte sie den Nickname an.
Hallo, Süße! Super Foto. Was machst du denn gerade? :-)
Nachsehen, ob nette Jungs hier sind.
Bin zur Stelle. :-D
Wie alt bist du?
18. Und du?
15 …
»Mist! Jetzt hab ich aus Versehen mein richtiges Alter angegeben!«, stöhnte Floor.
»Mal abwarten, wie er reagiert.«
15? In deinem Profil steht aber 17.
Tut mir leid, das ist falsch.
Kein Problem. Bist du an einem Sexdate interessiert?
Nein, auf keinen Fall!
Dann tschüs.
Kaum war Badman weg, blinkte auch schon der nächste Name auf.
Willst du Geld verdienen? Dann nimm auf MSN Kontakt mit mir auf. Abruyok.
Geld verdienen? Womit?
Mit Sex.
Ärgerlich klickte Floor auf »Ignorieren« und Abruyok verschwand vom Monitor.
Unten warteten bereits zwei weitere Kandidaten.
Hallo, meine Schöne! Wie sind deine Maße?
Maße?
BH-Größe, was sonst?
Geht dich nichts an, BLÖDMANN!
»Sind die alle so? Das ist ja voll daneben!« Entrüstet schob Floor die Tastatur von sich.
»Mach dir nichts draus. Es sind immer ein paar Typen dabei, die komisch drauf sind. Die ignorierst du einfach. Ansonsten musst du dranbleiben, dann findet sich schon der Richtige.«
»Wenn du mich fragst, sind das alles irgendwelche widerlichen sexgeilen Kerle.«
Marcia deutete auf den Bildschirm: »Hast du die Nachricht hier schon gesehen? Sie ist von Make It, einer Modelagentur.«
Hallo, Xandra,
wir sind durch dein Foto auf dich aufmerksam geworden. Unsere Agentur sucht ständig neue Gesichter für Modefotos in Mädchenzeitschriften.
Dir ist sicherlich bekannt, dass es auch unseriöse Fotografen und Agenturen in unserer Branche gibt. Du kannst dir einen Eindruck von der Seriosität unserer Firma verschaffen, indem du dir unsere Website ansiehst. Wir zählen zu den Profis in der Branche und machen nur Fotos auf professionellem Niveau.
Wenn du Interesse an einer Zusammenarbeit hast, freuen wir uns auf eine Mail an die unten genannte Adresse.
Mit freundlichen Grüßen
Hans Groesbeek
Geschäftsführer
Modelagentur Make It
Die Mädchen hatten kaum zu Ende gelesen, als schon wieder zwei Namen aufblinkten.
»Floor, das ist fantastisch! Das musst du unbedingt machen. Ach, ich würde ja auch so gern …«
Floor gab sich gleichgültig. »Mal sehen. Wenn ich Zeit hab, seh ich mir die Website heute Abend an.«
Mit gemischten Gefühlen las Marcia die Nachricht ein zweites Mal. Das war eine Superchance für Floor, ein einmaliges Angebot … und sie tat, als würde sie das Ganze nicht die Bohne interessieren! Sie, Marcia, würde keinen Moment zögern. Schon seit sie zehn war, träumte sie von einer Karriere als Model.
»Wenn ich denen nun auch ein paar Fotos von mir schicke? Dann könnten wir vielleicht zusammen hin …«
»Es ist halb sechs!«, mahnte Frau Kloostermans unten an der Treppe. »Marcia, musst du nicht nach Hause?«
»Doch, sogar dringend!«, rief Marcia zurück. Sie stand auf und nahm ihre Schultasche. »Ich hab versprochen, Max vor sechs auszuführen. Bis morgen!« Sie warf ihrer Freundin eine Kusshand zu. »Vergiss die Website nicht!«
Inzwischen blinkten noch vier Namen: Ron20, Dude17, Punk und Kasper. Dranbleiben, hatte Marcia gesagt …
Floor klickte Ron20 an.
Hi, Pussycat! Lust auf ein Spielchen?
Seufzend dirigierte Floor den Cursor auf »Ignorieren«. »Der Nächste bitte«, rief sie halblaut und klickte Dude17 an.
Hallo, Xandra, wie geht’s?
Gut, jetzt wo die Schule aus ist.
Ich hatte heute schon um halb zwei Schluss. Unser Mathelehrer war krank. :-) :-)
Und ich musste nachsitzen. Pech! :-(
Warum das?
Die Warteschlange war vergessen. Floor bekam Spaß am Chatten, denn Dude17 wirkte ausgesprochen nett und hatte offenbar keine zweifelhaften Absichten. Bis Viertel nach sechs unterhielt sie sich auf MSN mit ihm.
Marcia hängte die Hundeleine an die Garderobe, klopfte Max den Rücken und begann, seinen Napf zu füllen. Der Labrador winselte kläglich, offenbar hatte er großen Hunger. Kaum stand der Napf auf dem Boden, machte er sich auch schon über sein Futter her.
»Was gibt’s zu essen?« Marcia betrat die Küche und hob neugierig den Deckel von einem Topf.
»Chicorée und gebratene Speckscheiben«, sagte ihre Mutter, die gerade die Kartoffeln abgoss.
Marcia zog einen Flunsch.
»Stellst du schon mal die Milch auf den Tisch?«, bat Frau Janssens.
Marcia trug die Milchpackung ins Wohnzimmer. Der Fernseher lief, Ben lag auf dem Sofa und zappte gelangweilt durch die Programme. Frau Janssens kam mit einer Schüssel dampfender Kartoffeln herein und stellte sie auf den gedeckten Tisch. »Ben, rufst du bitte deinen Vater zum Essen?«, sagte sie. »Und wo steckt Thomas?«
»Thomas hab ich vorhin mit zwei Freunden vor dem Haus stehen sehen«, erwiderte Marcia und setzte sich auf ihren Platz am Esstisch.
»Papa! Es–sen …« Bens Stimme gellte durch die Diele.
»Holst du bitte auch gleich Thomas rein, Ben?«, rief Frau Janssens ihrem Jüngsten zu.
Die Haustür wurde aufgerissen – »Thomas, es–sen!« – und fiel mit einem Knall wieder ins Schloss.
»Geht das nicht ein bisschen leiser?«, fragte Frau Janssens und hielt Ben den gebratenen Speck hin. »Wie viele Scheiben willst du?«
»Zwei.« Ben hob seinen Teller. »Zwei Mal Dreck-Speck, bitte schön!«, wiederholte er die Bestellung.
»Warum schlägst du mir die Tür vor der Nase zu?« Thomas kam herein und versetzte Ben einen Puff in den Rücken. »Du wusstest doch, dass ich auch reinmuss, du kleine Rotznase.«
»Lass mich bloß in Ruhe!« Ben stach mit der Gabel nach seinem Bruder.
»Keinen Streit jetzt«, mischte sich Frau Janssens ein und schob Thomas den Stuhl hin. »Setz dich und denk dran: Der Klügere gibt nach.«
Grummelnd nahm Thomas Platz. »Vier«, sagte er, als seine Mutter ihm Speck von der Platte reichte.
»Für mich nichts!« Marcia zog ihren Teller weg. »Das fette Zeug ist voll eklig!«
»Speck ist nun mal fett«, sagte Frau Janssens spitz. Sie legte zwei Scheiben auf den Teller ihres Mannes und nahm sich dann selbst. »Willem!«, rief sie. »Das Essen wird kalt!«
Es dauerte noch gut fünf Minuten, bis Herr Janssens erschien.
»Wir haben schon angefangen«, sagte sie unwirsch. »Immer müssen wir auf dich warten!«
»Ich war noch mit einer Akte beschäftigt.« Ohne aufzusehen, griff er zum Besteck.
»Vielleicht könntest du dich zur Abwechslung mal mit uns beschäftigen!«, wetterte Frau Janssens.
Er sah sie irritiert an. »Dazu sage ich lieber nichts.«
»Und warum nicht?«, fragte Thomas herausfordernd.
»Weil ich mich nicht tyrannisieren lasse, schon gar nicht von dir«, gab Herr Janssens kühl zurück. »Wie war dein Tag?«, wandte er sich an Marcia und ignorierte Thomas und seine Frau.
Marcia fühlte sich mehr als unbehaglich, als sie aus den Augenwinkeln das zornige Gesicht ihrer Mutter sah. Was sollte sie antworten? Sie wollte nicht, dass ihre Mutter glaubte, sie halte zu ihrem Vater, aber auch nicht, dass ihr Vater dachte … sie fühlte sich in die Enge getrieben.
»Nicht der Rede wert …«, murmelte sie und stand auf. »Ich muss mal eben zur Toilette.«
Rasch lief sie aus dem Zimmer und hörte gerade noch, wie im Wohnzimmer der nächste lautstarke Streit losbrach.