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Samstagmorgen herrschte ungewohnte Stille im Haus. Ben war in aller Frühe zum Fußballtraining aufgebrochen und Thomas schlief noch; er hatte mit Freunden eine Kneipentour gemacht. Marcia saß allein am Küchentisch, aß ein Marmeladenbrot und blätterte in einer Zeitschrift. Ihre Mutter lag im Wohnzimmer auf dem Sofa und ihr Vater hatte sich noch nicht blicken lassen. Sie stand auf und stellte das Radio an, um die Stille zu vertreiben. Was sollte sie bloß das ganze Wochenende über anfangen? Wäre alles nach Plan gelaufen, dann würde sie jetzt mit Erik, Fabian und Floor durch Herzogenbusch bummeln. Aber ihre Mutter hatte ihr ja unbedingt den Spaß verderben müssen … Hausarrest! Es war nicht zu fassen. Einen Moment lang war sie versucht, die Strafmaßnahme einfach zu ignorieren und in die Stadt zu gehen. Wahrscheinlich würde es sowieso keinem auffallen.

Sie beugte sich über die Arbeitsplatte und schaute aus dem Fenster. Die Sonne schien. Sie bekam Lust, ihren Bikini anzuziehen und sich ein paar Stunden im Garten zu sonnen, vielleicht mit einer Modezeitschrift, dann konnte sie sich schon mal ein paar Posen abgucken …

Am Donnerstagabend hatte sie den Brief von der Schule gescannt und ihn an Erik gemailt. Seitdem hatte sie ihm noch sechs Mails geschickt und zweimal auf seine Voicemail gesprochen, aber bislang hatte er nicht geantwortet. Marcia beschloss, keine weiteren Kontaktversuche mehr zu unternehmen. Erik benahm sich so trotzig wie ein Sechsjähriger, wenn er seinen Willen nicht bekam.

»Marcia, stell sofort das Gedudel ab! Ich hab Migräne!«

Marcia zog eine Grimasse. Für jemanden, der schlimme Kopfschmerzen hatte, schrie ihre Mutter reichlich laut.

Widerwillig machte sie das Radio aus und streckte zur halb offenen Wohnzimmertür hin die Zunge raus. Dann verschwand sie in ihr Zimmer, kramte eine Weile in ihrem Kleiderschrank und wurde schließlich fündig. Mit ihrem Bikini, einer Zeitschrift und einer Sonnenbrille ausgerüstet, ging sie den Flur entlang. Sie klopfte an die Tür des Arbeitszimmers. Keine Reaktion.

Vorsichtig öffnete Marcia die Tür einen Spalt. Das Zimmer war leer. Vermutlich schlief ihr Vater noch. Als sie in der Nacht gegen drei Uhr auf die Toilette gegangen war, hatte sie noch einen Lichtstreifen unter seiner Tür gesehen. Sekundenlang zögerte sie, dann betrat sie den Raum und setzte sich an den Schreibtisch. Vor vier Monaten hatte ihr Vater das Arbeitszimmer tapeziert und neu eingerichtet. Seitdem hatte sie es nur ein paarmal für wenige Minuten betreten.

Marcia ließ den Blick schweifen. An der Wand gegenüber dem Schreibtisch hing ein gerahmtes Foto. Es zeigte mehrere Männer mittleren Alters, lässig an ihre Motorräder gelehnt. Auch ihr Vater war dabei. Auf dem Passepartout stand eine Jahreszahl: 2004. Im Jahr darauf hatte er sein Motorrad verkauft und pflegte seitdem keinen Kontakt mehr mit der Männerclique. Das Regal neben dem Fenster war, abgesehen von etwas Krimskrams, so gut wie leer. Auf dem Fensterbrett standen mehrere Topfpflanzen und Marcia fiel auf, dass sie wesentlich gesünder aussahen als die im Wohnzimmer.

Sie nahm sich den dünnen Stapel Briefe und Rechnungen auf dem Schreibtisch vor. Nichts Interessantes dabei …

Die Rollen des Bürostuhls quietschten, als sie sich nach links zum Schubladenblock bewegte. Sie zog an den Laden. Abgeschlossen. Marcia lachte bitter. Was hatte sie auch erwartet? Ihr Vater hatte sich komplett von der Familie zurückgezogen und verbrachte seine gesamte Freizeit in diesem gerade mal sechzehn Quadratmeter großen Zimmer. Im Grunde genommen, überlegte sie, hatte er sich selbst zu einer Art Hausarrest verurteilt. Der Mann konnte einem leidtun!

Marcia fragte sich, was, um alles in der Welt, er hier die ganze Zeit machte. Sie stand auf und ging zum Schrank hinter dem Schreibtisch. Die Tür klemmte, ließ sich aber mit etwas Kraftaufwand öffnen. Im Schrank standen vier Ordner mit Rechnungen, säuberlich nach Datum abgeheftet. Darunter ein Karton mit Urlaubsprospekten: Fernreisen, Kreuzfahrten, Safari in Afrika, Ägypten … Marcia staunte nicht schlecht. Der letzte Familienurlaub lag mindestens acht Jahre zurück und damals waren sie lediglich in Luxemburg gewesen. Ganz unten im Schrank entdeckte sie hinter zwei originalverpackten Oberhemden einen Stapel Pornohefte. Marcia verzog angeekelt das Gesicht. Das hätte sie ihrem Vater nun wirklich nicht zugetraut! Doch wahrscheinlich rührten sich ihre Eltern schon seit Jahren nicht mehr an. Daneben lag ein Bündel alter Schwarz-Weiß-Fotos, von einem Gummiband zusammengehalten. Das Gummi war brüchig und riss, als Marcia es abstreifte.

Eines der Fotos zeigte ihre Mutter, gut zwanzig Jahre jünger als heute: eine hübsche junge Frau, die ein wenig scheu in die Kamera blickte. Marcia betrachtete das Foto lange und konnte kaum glauben, dass es sich um dieselbe Person handelte, die unten auf dem Sofa lag. Spontan ließ sie den Schnappschuss zwischen die Seiten ihrer Zeitschrift gleiten. Dann schloss sie die Schranktür wieder. Thomas hatte recht: Hier lagen keinerlei Versicherungsunterlagen herum, mit denen ihr Vater sich angeblich jeden Abend beschäftigte. Oder hatte er sie in den Schubladen verstaut? Marcia nahm den Brieföffner vom Schreibtisch, steckte die Spitze in das Schlüsselloch und stocherte. Vergeblich. Frustriert legte sie den Brieföffner wieder zurück.

Plötzlich hörte sie Geräusche aus dem Badezimmer. Der Durchlauferhitzer sprang an und gleich darauf plätscherte Wasser in die Duschwanne.

Schnell lief sie zur Tür, lugte durch den Spalt in den Flur und sah, dass die Tür des Elternschlafzimmers offen stand. Sie schlüpfte aus dem Arbeitszimmer und ging die Treppe hinunter in den Garten.

Marcia hatte es sich mit einem Kissen im Rücken auf dem Liegestuhl in der Sonne bequem gemacht. Schon seit zehn Minuten blätterte sie in der Zeitschrift, hatte bisher aber noch keinen einzigen Satz gelesen. Sie musste immer wieder daran denken, wie sie sich vor der Webcam ausgezogen hatte – für Ruud aus Haarlem, einen gänzlich Unbekannten. Was war nur in sie gefahren?

Er hatte gemeint, sie solle ihm ihre Handynummer geben, dann könne er ihr per Telefon Anweisungen geben, das sei weniger aufwendig als schreiben. Marcia hatte sich überreden lassen und ihm ihre Nummer genannt. Danach hatte sie zugesehen, wie er sich selbst befriedigte, und irgendwie – sie konnte es sich kaum erklären – hatte sie sich geschmeichelt gefühlt: Ein erwachsener Mann fand sie, die 15-jährige Marcia, erotisch! Gleichzeitig hatte der Anblick sie abgestoßen.

Dann hatte er sie aufgefordert, ihren Slip auszuziehen. Als sie sich weigerte, war er ärgerlich geworden und hatte sie angeschrien.

Sie hatte sich gesagt, dass sie zu Hause in ihrem Zimmer in Sicherheit war, aber sie hatte dennoch Angst bekommen. Als er laut zu fluchen begann, hatte sie schließlich nachgegeben.

Die Sache hatte ihr mehr zugesetzt, als sie sich eingestehen wollte, und sie kam sich dumm und billig vor, weil sie sich auf seine perversen Spielchen eingelassen hatte. Sie war an dem Abend frustriert und traurig gewesen und diese Situation hatte er ausgenutzt. Hinterher hatte sie sich so sehr geschämt, dass sie fast geheult hätte.

Sie wollte das Ganze möglichst schnell vergessen, aber das war nicht so einfach. Vor zwei Tagen war Ruud wieder online gewesen und hatte auf MSN Kontakt mit ihr gesucht. Sie konnte sich schon denken, was er wollte. Sie hatte ihm geschrieben, er solle sie in Ruhe lassen, doch er war hartnäckig geblieben. Schließlich hatte sie ihm von ihrem Ärger in der Schule und den Problemen zu Hause erzählt. Wider Erwarten hatte er ein offenes Ohr dafür gehabt und sogar versucht, sie zu trösten. Er sei immer für sie da, schrieb er, sie könnte auch gern bei ihm wohnen, wenn sie es zu Hause nicht mehr aushalte. Selbstverständlich hatte sie dankend abgelehnt – schließlich war der Mann ein Fremder für sie.

Damit war die Sache aber nicht ausgestanden. Ruud schickte ihr mehrere Mails, wollte sich mit ihr verabreden, sie zum Essen ausführen … Sie ging nicht darauf ein, worauf er sie mit Anrufen bombardierte. Beim ersten Mal war sie ans Handy gegangen, weil sie hoffte, ihn zur Vernunft bringen zu können. Anfangs war er recht nett, fragte, wie es ihr gehe und ob sie sich auf MSN mit ihm unterhalten wolle. Als sie ablehnte, wurde er aggressiv und drohte, zu ihr nach Hause zu kommen – er wisse nämlich, wo sie wohne. Panisch hatte sie die Aus-Taste gedrückt, doch er rief sofort wieder an. Diesmal ließ sie es klingeln, ebenso beim dritten und vierten Mal. Als er zum achten Mal anrief, schaltete sie das Handy aus. Und seitdem hatte sie ihr Telefon nicht mehr benutzt.

Wenn sie ihn lange genug ignorierte, würde er bestimmt aufgeben. Diese Kerle waren doch alle gleich … keinem konnte man trauen, alle wollten sie nur das Eine!

Wütend sah sie zu der heruntergelassenen Jalousie des Arbeitszimmers hinauf. Wahrscheinlich saß ihr Vater jetzt wieder am PC und hatte sich in seine Welt zurückgezogen, in der kein Platz für die Familie war. Für andere vermutlich schon – womöglich chattete er mit jungen Mädchen, wie Ruud aus Haarlem, und verlangte irgendwelche perversen Dinge von ihnen. Eine glühende Wut stieg in ihr auf.

Liebe Floor,
vielen Dank für deine Antwort auf unsere Mail. Du stellst konkrete Fragen; daraus schließen wir, dass du den Dingen gern auf den Grund gehst – eine Eigenschaft, die wir bei unseren Models schätzen.

Unsere Agentur verlangt keine Aufnahmegebühr; wir vertrauen auf die Fähigkeiten unserer Models und haben damit durchweg gute Erfahrungen gemacht. Die hohen Kosten für das Anfertigen einer Sedcard werden ebenfalls von der Agentur übernommen, weil viele Newcomer in der Branche schlichtweg nicht das Geld dafür aufbringen können. Außerdem benötigen wir weitere Fotos, mit denen wir Kunden werben können, und es wäre sicher nicht fair, wenn wir all diese Kosten unseren Models in Rechnung stellen würden.

Sobald ein Auftrag zustande kommt, verlangen wir 25 % vom Honorar (dieser Satz liegt bei anderen Agenturen zwischen 18 und 20 %).

Wir schließen mit unseren Models einen Vertrag, der auch eine Reisekostenregelung beinhaltet. Die Reisekosten werden jeweils gleich nach Ankunft im Studio erstattet.

Wir haben übrigens auch deine Freundin Marcia Janssens zu Probeaufnahmen eingeladen. Das entspricht nicht unserem üblichen Vorgehen, doch auf ihre begeisterte Mail hin haben wir beschlossen, eine Ausnahme zu machen.

Solltest du noch Fragen haben, kannst du jederzeit mit uns Kontakt aufnehmen. Wir hoffen, bald von dir zu hören.

Mit freundlichen Grüßen

Hans Groesbeek

Geschäftsführer

Modelagentur Make It

Floor war begeistert. Nun musste sie nicht allein zu den Probeaufnahmen, was ihr ganz und gar nicht behagt hätte. Bestimmt war Marcia total ausgeflippt, als sie die Einladung bekommen hatte. Endlich hatten sie mal Glück nach all dem Pech in der letzten Zeit! Nur seltsam, dass sie sich noch nicht gemeldet hatte. Vielleicht hatte sie ihre Mailbox nicht gecheckt … obwohl das kaum vorstellbar war, denn normalerweise verging kein Tag, an dem Marcia nicht stundenlang am PC saß. Meist schickte sie Floor am Abend noch zwei, drei Mails; gestern Abend jedoch waren keine gekommen.

Komisch … Floor nahm ihr Handy und wählte Marcias Nummer. Nachdem es etliche Male geklingelt hatte, meldete sich die Voicemail. War Marcia wegen der Sache mit Erik und den ewigen Streitereien zu Hause so deprimiert, dass sie nicht mehr ans Telefon ging? Floor musste an Frau Janssens’ depressive Verstimmungen denken und überlegte, ob so etwas wohl erblich war.

Floor schloss ihr Rad an und ging auf die Haustür zu. Die Vorhänge waren zugezogen. Da sie wusste, dass Frau Janssens oft mit Kopfschmerzen im abgedunkelten Wohnzimmer lag, beschloss sie, nicht zu klingeln, sondern durch den Garten zur Hintertür zu gehen.

Als Floor in den Garten kam, sah Marcia überrascht auf und sprang vom Liegestuhl. Die Zeitschrift fiel ins Gras.

»Floor!« Stürmisch umarmte sie ihre Freundin.

»Ich hab dich mehrmals angerufen«, sagte Floor leicht vorwurfsvoll und versuchte, sich aus Marcias Umarmung zu befreien. »He, ich krieg keine Luft mehr!«

»Entschuldige, ich freu mich einfach so, dass du gekommen bist!«

»Wann hast du das letzte Mal deine Mailbox gecheckt?«

»Vorgestern, glaube ich. Warum fragst du?«

»Du musst unbedingt mal reinschauen!« Floor gab sich geheimnisvoll.

»Dann mal los! Willst du was trinken?« Marcia nahm Floor an der Hand und zog sie mit sich in die Küche.

»Ich geh gleich wieder«, meinte Floor. »Du hast doch Hausarrest. Nachher kriegst du noch Ärger, weil ich hier bin.«

»Kein Mensch hat mir verboten, Besuch zu haben, und außerdem …«, energisch stellte Marcia zwei Gläser auf die Arbeitsplatte und holte eine Flasche Apfelsaft aus dem Kühlschrank, »… außerdem merkt eh keiner, dass du hier bist. Bei uns ist jeder mit sich selber beschäftigt. Aber nun sag schon: Was ist los? Hat Erik dir etwa gemailt?«

Floor schüttelte den Kopf. »Nein, das nicht. Du wirst schon sehen …«

Die Hand an die Stirn gelegt, betrat Frau Janssens die Küche. Sie öffnete den Kühlschrank und betrachtete minutenlang den spärlichen Inhalt. Mit einem Seufzer machte sie den Kühlschrank wieder zu. Ihr Blick fiel auf den unaufgeräumten Frühstückstisch. »Na prima! Jetzt kann ich den Dreck wieder wegräumen!«, rief sie ärgerlich. Schnell stürmten Marcia und Floor die Treppe hinauf, bevor sie eine weitere Schimpftirade losließ.

Halblaut las Marcia die Mail von der Modelagentur, während sie aufgeregt mit dem Bürostuhl hin und her rollte.

Floor erschrak, als im angrenzenden Zimmer ein lauter Streit losbrach. Sie fühlte sich höchst unwohl und überlegte, ob sie nicht doch lieber gehen sollte.

Marcia schien das Geschrei überhaupt nicht zu stören; unbeirrt las sie weiter.

Offenbar machte Frau Janssens ihren Mann zur Schnecke. Sie schrie so laut, dass ihre Stimme sich mehrmals überschlug, während von Herrn Janssens nur ein undeutliches Grummeln zu hören war. Floor bekam einzelne Satzfetzen mit: »… mein Leben ruiniert … mich mit falschen Versprechungen um meine besten Jahre gebracht … lässt mich einfach hängen …«

Nun war Marcia doch irritiert. Sie schaltete den CD-Player an und drehte ihn auf volle Lautstärke. Auf keinen Fall wollte sie sich die Freude über die gute Neuigkeit verderben lassen.

»Willst du noch was trinken?«, rief sie über die laute Musik hinweg.

Floor schüttelte beklommen den Kopf. Dass es so schlimm war, hatte sie nicht gewusst.