Der Bahnhof Elst hatte nur zwei Gleise und lag am Stadtrand in der Nähe eines Industriegebiets. Der Kiosk im Bahnhofsgebäude, wo früher Fahrkarten, Zeitungen und Süßigkeiten verkauft wurden, war seit Jahren geschlossen. Heute gab es nur noch einen Kartenautomaten und hinter dem Gebäude einen Parkplatz mit einer Bushaltestelle, an der einmal in der Stunde ein Überlandbus hielt.
Außer Floor und Marcia waren nur wenige Leute in Elst ausgestiegen. Sie waren viel zu früh dran, standen nun ein wenig verloren auf dem leeren Bahnsteig und sahen dem Zug nach, der in der Ferne verschwand. Gegenüber an Gleis 2 saß ein Mann auf der Bank neben einem überquellenden Abfallkorb und las Zeitung. Er hatte sie kurz sinken lassen, um die zwei Mädchen zu mustern. Ein weiterer Mann mit einer Baseballmütze auf dem Kopf und einer Sporttasche über der Schulter betrat den Bahnsteig. Er beachtete Floor und Marcia nicht, sondern stellte sich vor die Tafel mit den Abfahrtszeiten der Züge, die im Halbstundenrhythmus verkehrten.
Floor rief rasch ihre Mutter an, um ihr mitzuteilen, dass sie gut angekommen waren. Dann nahm sie ihren Taschenspiegel zur Hand und inspizierte ihr Make-up. »Wie seh ich aus?«
»Alles in Ordnung, mach dir keine Gedanken.«
Minutenlang herrschte Stille.
»Wie läuft’s bei dir zu Hause?«, fragte Floor schließlich.
»Beschissen«, sagte Marcia und ein Schatten glitt über ihr Gesicht. »Meine Mutter redet so gut wie gar nicht mehr mit meinem Vater. Wenn sie was will, müssen Ben und ich vermitteln, so auf die Art: Sag deinem Vater, er soll sich seine Hemden selber bügeln … du weißt schon. Er lächelt dann nur abwesend und meine Mutter rastet völlig aus. Wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, verschanzt er sich in seinem blöden Kabuff, inzwischen schläft er sogar dort. Und meine Mutter heult die halbe Nacht. Thomas ist meist bei irgendwelchen Freunden und sagt, die Alten könnten ihn mal. Und Ben sucht nur noch Streit. Erst gestern hat er die Luft aus meinen Fahrradreifen gelassen, aber keiner sagt was dazu. Es wird immer schlimmer; ich weiß wirklich nicht, wie das weitergehen soll. Ich schätze, mein Vater wird demnächst ausziehen und wir müssen bei Mum bleiben. Jede Wette, dass sie ihre Wut dann an uns auslässt.«
Marcia holte tief Luft und schwieg. Sie hatte Lust, ihren Eltern eins auszuwischen, sie ordentlich zu schockieren.
»Komm doch heute Abend mit zu mir, du kannst bei uns übernachten. Und morgen machen wir dann zusammen Hausaufgaben.«
Marcia lächelte. »Au ja, das wäre schön.«
Ein Zug fuhr in den Bahnhof ein. Der Mann mit der Sporttasche stieg ein und der Zug setzte sich wieder in Bewegung.
»Zehn nach halb elf!« Floor spielte nervös mit ihrem Taschenspiegel herum. »Wo bleibt Herr Groesbeek nur?«
»Huhuuu!« Mit klackernden Absätzen kam Sabrina Netten winkend auf sie zu.
»Hoffentlich wartet ihr noch nicht allzu lange! Wir standen leider im Stau.« Spontan umarmte sie die Mädchen und küsste sie auf die Wange. »Ich freue mich so, dass Hans doch noch einen Auftrag für euch gefunden hat. Das ist eine Superchance! Kommt mit!« Sie hakte sich bei Marcia und Floor unter. »Hans wartet auf dem Parkplatz und hat es eilig. Wie immer!« Sie drückte freundschaftlich Marcias Arm.
»Na, bist du wieder nervös?«
»Ich konnte vor lauter Aufregung kaum schlafen«, gestand Marcia. »Hoffentlich hab ich keine Ringe unter den Augen.«
Sabrina lachte. »Dafür bist du viel zu jung, Herzchen!« Sie ging mit ihnen um das Bahnhofsgebäude herum.
Hans Groesbeek wartete neben einem dunklen Auto. Als er Sabrina und die Mädchen sah, winkte er und ging ihnen ein paar Schritte entgegen.
»Schön, euch wiederzusehen«, sagte er und schüttelte Marcia und Floor die Hand. »Freut ihr euch?«
»Und wie!«, rief Marcia, während Floor sich mit einem vorsichtigen Lächeln begnügte.
»Nun, ich denke, es wird ein spannender und vor allem ein besonderer Tag für euch. Dann wollen wir mal …« Er ging auf seinen Wagen zu, öffnete die hintere Tür und bedeutete den Mädchen einzusteigen.
Sie setzten sich auf die Rückbank. Hans Groesbeek nahm am Steuer Platz und wartete, bis auch Sabrina eingestiegen war.
»Können wir?«
Er ließ den Motor an und fuhr los.
Sabrina drehte sich um. »Ich war genauso alt wie ihr, als ich Model wurde«, erzählte sie. »Meine Eltern waren erst strikt dagegen, dass ich schon mit siebzehn vor der Kamera stehe. Sie hielten die Schule für wichtiger.«
Floor biss sich auf die Lippen. Mist! Wegen der falschen Angabe im Profil glaubten Sabrina und Herr Groesbeek nach wie vor, sie seien siebzehn. Sie öffnete den Mund, um das Missverständnis zu klären, doch Marcia versetzte ihr einen Rippenstoß und warf ihr einen warnenden Blick zu.
Das Auto hielt vor einer Ampel. Groesbeek beobachtete die beiden Mädchen im Rückspiegel. Marcias Reaktion war ihm nicht entgangen, doch er sagte nichts. In seinen Augen flackerte etwas auf und er begann, mit den Fingern aufs Lenkrad zu trommeln.
Die Ampel wurde grün.
Sie fuhren nun über die Autobahn und Sabrina redete wie ein Wasserfall. Ihre Freundinnen hätten sie damals glühend beneidet, weil sie als Model gut verdiente, erzählte sie. Von unzähligen Zeitschriften habe sie Angebote bekommen, auch aus dem Ausland, und häufig an Modeschauen teilgenommen. Schon mit einundzwanzig Jahren habe sie sich ein eigenes Haus leisten können. Inzwischen sei sie als Model leider zu alt. Doch für jemanden mit ihrer Erfahrung gebe es genug anderes zu tun: Sie arbeite für bekannte Agenturen wie Make It und betreue junge Models in der Anfangsphase ihrer Karriere. Eine wichtige Aufgabe, denn Modeln sei alles andere als ein Zuckerschlecken, zumal die Konkurrenz knallhart sei.
Groesbeek schwieg und blickte von Zeit zu Zeit mit gerunzelter Stirn in den Rückspiegel.
Sabrina hatte mittlerweile alles über ihre Karriere erzählt und fragte Floor und Marcia nun, ob sie sich mit ihren Eltern gut verstünden und ob diesen die Vorstellung behage, ihre Töchter demnächst in einem Katalog bewundern zu können. Sie wollte auch wissen, ob sie Einzelkinder wären, auf welche Schule sie gingen und ob sie schon feste Freunde hätten.
Nach einer Weile verließ Groesbeek die Autobahn und fuhr auf einer kurvenreichen Landstraße durch mehrere Dörfer. Er hatte das Radio angestellt und summte leise mit.
Sie erreichten ein Industriegebiet. Groesbeek verlangsamte, bog mehrmals ab und fuhr dann auf ein großes Bürogebäude zu. Er folgte dem schmalen Weg um das Gebäude herum zu einem kleinen Parkplatz, der von der Straße aus nicht zu sehen war. Dort hielt er und stellte den Motor ab.
»Unsere Agentur hat mehrere Studios, die über das ganze Land verteilt sind«, erklärte er. »Das spart Reisekosten und Zeit.«
Neugierig sahen die Mädchen sich um. Der Parkplatz grenzte an ein zweistöckiges weißes Gebäude. Im fensterlosen Erdgeschoss waren zwei Firmen untergebracht, wie man an den Schildern neben den Türen sehen konnte: in Nummer 14 eine Möbeltischlerei und in Nummer 15 das Lager eines Unternehmens namens Vermeer.
Das Fotostudio, erklärte Groesbeek, befinde sich im Obergeschoss. Es hatte einen separaten Eingang, zu dem man über eine Feuertreppe gelangte. Groesbeek ging voran und wartete auf der Plattform oben an der Treppe auf die Mädchen und Sabrina. Dann schloss er die Tür auf und bat sie herein.
Das Studio hatte zwei Fenster mit blauen Jalousien. An den Wänden hingen zahlreiche Spiegel. Ein Bereich war mit einem fahrbaren Wandschirm abgeteilt. In der »Maske«, wie Sabrina den Bereich nannte, gab es eine Art Zahnarztstuhl, daneben mehrere Rollboxen mit Schminkutensilien sowie ein Regal voller Cremetiegel, Fläschchen mit Gesichtswasser und Lotions sowie mehrere Styroporköpfe mit verschiedenen Perücken. Links an der Wand standen ein Schreibtisch mit Computer und zwei Aktenschränke aus Metall.
Am anderen Ende des Raumes befanden sich eine Sitzecke, ein Beistelltisch und der Eingang zu einer Teeküche. Neben dem Sofa lagerten die Requisiten: mehrere Kleiderständer und Regale mit Schuhen und Accessoires. An der Wand gegenüber der Küche war, zwischen Studiolampen und Reflektoren, eine weiße Leinwand gespannt, vor der eine Strandkulisse mit Sand, einem Liegestuhl und einer Plastikpalme aufgebaut war.
Groesbeek ging zum Schreibtisch und nahm etwas aus der obersten Schublade. »Seid bitte so nett und füllt erst einmal diese Formulare aus«, sagte er. »Ich koche inzwischen Kaffee.« Er gab Sabrina ein Zeichen und sie folgte ihm in die Küche.
Die Mädchen setzten sich aufs Sofa und nahmen sich die Formulare vor. Unter anderem wurde nach dem Alter gefragt.
»Wir sollten auf keinen Fall lügen!«, flüsterte Floor.
Marcia zweifelte kurz. Vielleicht hatte Floor recht und es war besser, sie gaben ihr richtiges Alter an. Schließlich konnte es sein, dass Groesbeek irgendwann die Wahrheit erfuhr, und dann hätten sie sein Vertrauen verspielt. Und wer weiß, vielleicht fiel es ihm ja gar nicht auf … Sie nickte und trug, wie Floor, das korrekte Alter ein. Die Mädchen unterschrieben die Formulare und warteten.
Nach ein paar Minuten kam Sabrina, stellte vier Tassen auf den Tisch und setzte sich zu den Mädchen aufs Sofa. Groesbeek hielt den Mädchen eine offene Schachtel Kekse hin, doch sie lehnten ab: »Nein danke.«
»Models!«, knurrte er und schüttelte missbilligend den Kopf. »Immer auf Diät. Für mich wär das nichts.«
»Ihr habt völlig recht«, sagte Sabrina. »Wenn ihr Models werden wollt, müsst ihr immer an die Linie denken! Auf den Fotos macht sich jedes Gramm Fett bemerkbar.«
Groesbeek grinste und stopfte sich einen Keks in den Mund. Dann begann er, die Formulare zu studieren und runzelte sogleich ärgerlich die Stirn. »Was soll das? Ihr habt als Alter fünfzehn angegeben. Ist das ein Scherz?«
Verunsichert sahen die Mädchen einander an.
»Wir hatten vergessen, es zu sagen«, begann Marcia. »Im Profil hatten wir zwar siebzehn angegeben, aber nur wegen der Jungs.«
Floor schaute ängstlich auf ihre Fingernägel und brachte lediglich ein Nicken zustande. Eine peinliche Stille trat ein.
»Wegen der Jungs?« Groesbeek wirkte irritiert.
»Sonst melden sich doch nur 12-Jährige …«, erklärte Marcia, brach jedoch ab, als er sie wütend anfunkelte.
»Reg dich nicht auf, Hans«, mischte Sabrina sich ein. »Das machen die Mädels doch alle. Zu meiner Zeit war das nicht anders. Ich hab auch oft mein Alter falsch angegeben, um bei den Jungs bessere Chancen zu haben. Ich mache das heute noch, jetzt allerdings andersrum.« Sie lachte.
»Fünfzehn ist viel zu jung«, beharrte Groesbeek. »Das bringt mir nur Ärger ein.« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, kommt nicht infrage. Ich will keine Schwierigkeiten.« Er nahm den Autoschlüssel vom Tisch und zog die Jacke an.
»Einen Moment noch!« Sabrina stand auf und ging ihm nach. »Der Auftrag lautet, Jugendmode für einen Katalog zu fotografieren. Mit fünfzehn sind die beiden doch Jugendliche, oder etwa nicht?« Sie wies mit dem Kinn zu den Mädchen.
»Schon …«
»Dann stell dich nicht so an. Wir geben als Alter einfach siebzehn an. Ich wette, keiner merkt den Unterschied … und wer kontrolliert schon deine Buchhaltung? Kein Mensch! Und die Mädchen verraten bestimmt nichts.«
Floor und Marcia nickten eifrig. »Wir sagen keinem was. Bitte, Herr Groesbeek, geben Sie uns doch eine Chance«, bat Marcia.
Er kratzte sich am Kinn und schien zu überlegen.
»Fotogen seid ihr ja«, murmelte er vor sich hin. »Und sympathisch obendrein …«
»Die beiden geben sich bestimmt größte Mühe, nicht wahr?« Sabrina zwinkerte den Mädchen zu.
»Sowieso«, versicherte Marcia und Floor nickte.
»Es ist für alle das Beste«, fügte Sabrina hinzu. »Wenn wir die beiden jetzt nach Hause schicken, verlieren wir nur Zeit und Geld. Also nimm die Kamera und lass uns endlich anfangen.«
»Na gut.« Mit einem Seufzer gab Groesbeek nach. Er änderte das Alter auf den Formularen in siebzehn und unterschrieb ebenfalls.