Sie fuhren durch den Regen über die Autobahn. Es herrschte kaum Verkehr, was ihn sonst immer veranlasste, kräftig Gas zu geben. Heute jedoch nicht. Mit den zwei bewusstlosen Mädchen auf dem Rücksitz durfte er nicht das Risiko eingehen, geblitzt oder bei einer Geschwindigkeitskontrolle gestoppt zu werden. Deshalb hielt er sich ausnahmsweise strikt an die Verkehrsregeln.
Nach einer Viertelstunde nahm er das Tempo zurück und bog auf eine Landstraße ab. Während der Fahrt sprach er den Plan noch einmal mit seiner Frau durch, aber sie hörte kaum zu. Immer wieder sah sie sich zu den beiden Mädchen um. In ihrem Kopf überstürzten sich die Gedanken. Um des lieben Geldes willen hatte sie sich von ihm überreden lassen, in der Hoffnung, nach all den Jahren endlich schuldenfrei zu sein. Doch zu welchem Preis? War die Schuld, die sie sich jetzt aufgeladen hatten, nicht viel größer?
Als er mit den Mädchen Kontakt aufnahm, hätte sie ihn stoppen müssen, aber nun hatte sie ihm auch noch geholfen, seinen irrsinnigen Plan auszuführen. Und sie waren eindeutig zu weit gegangen, das war ihr inzwischen klar. Sie bereute es bitter, doch jetzt war es zu spät. Die beiden Mädchen waren ihr sympathisch. Warum hatte sie keinen Moment überlegt, was danach mit ihnen geschehen würde? Wir machen lediglich ein paar Fotos, hatte er gesagt, und dann schicken wir sie wieder nach Hause. Es hatte sich so einfach angehört, doch sie hätte wissen müssen, dass er die Dinge wieder einmal beschönigte.
Nun fuhren sie mit zwei bewusstlosen Mädchen durch die Gegend. Hoffentlich hatte dieses verflixte GHB ihnen nicht geschadet. Andererseits dachte sie mit Schrecken daran, was passieren würde, wenn sie wieder zu sich kommen und reden würden. Zwar hatte er ihr versichert, dass sie sich zu sehr schämen würden, um über den Nachmittag im Studio zu sprechen – aber was, wenn sie nun doch Anzeige erstatteten und eine Personenbeschreibung von ihr und ihrem Mann abgaben?
Während der Fahrt vom Bahnhof zum Studio hatte sie versucht, die beiden abzulenken, ihnen Fragen gestellt und ohne Punkt und Komma geredet. Doch vielleicht hatten sie sich die Fahrstrecke dennoch gemerkt und konnten der Polizei sagen, wohin man sie gebracht hatte.
Ihr Mann hatte ihr versichert, sie würden sich an die Sexspielchen nicht erinnern. Sie hoffte es von Herzen, zumal sie selbst dabei eine wesentliche Rolle gespielt hatte. Warum, um Himmels willen, hatte sie sich überreden lassen? Sie hatte schließlich selbst Kinder, und wenn die Polizei ihnen auf die Schliche kam, würden sie beide zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt. Was sollte dann aus ihren Kindern werden?
»Falls sie zu sich kommen«, hatte er gesagt. Und was, wenn sie nicht mehr aufwachen würden? Ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken.
Er bremste an einer Bushaltestelle. Mit einem schnellen Blick in den Rückspiegel vergewisserte er sich, dass keine Autos hinter ihnen kamen, und lenkte den Wagen auf den Seitenstreifen. Bevor er die Tür öffnete, wartete er ein paar Minuten, dann stieg er bei laufendem Motor aus. Er ging zur hinteren Tür, nahm Floor unter den Achseln und zerrte ihren schlaffen Körper aus dem Wagen. Während Sabrina ihm zur Haltestelle folgte, sah sie sich nervös nach allen Seiten um.
Er ließ das Mädchen hinter dem Wartehäuschen ins Gras fallen und ging wieder zum Auto.
Floor lag auf dem Bauch, die Haare wie ein Fächer um den Kopf drapiert. Sabrina konnte den Anblick des hilflos am Boden liegenden Mädchens kaum ertragen und bückte sich, um Floor aufzusetzen und mit dem Rücken an die Wand des Wartehäuschens zu lehnen.
Wollte er die beiden einfach hier im Regen liegen lassen? Womöglich erkälteten sie sich … Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem bleichen Gesicht und zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu. Mit einem Seufzer richtete sie sich auf, als sie ihn wiederkommen hörte. Er schleppte Marcia und warf sie neben Floor ins Gras. Das Mädchen stöhnte leise und machte unkoordinierte Bewegungen mit den Armen.
»Musst du so grob mit ihr umspringen?«, fuhr sie ihn an.
Er reagierte nicht auf ihren Einwand. »Los, weg!«, befahl er barsch. »Sonst sieht uns noch jemand.« Mit großen Schritten ging er zum Auto. »Nun komm schon, dumme Kuh!«
Sie bückte sich, zog auch Marcia hoch und lehnte sie an die Wand. Dann ging sie ebenfalls zum Auto.
Er wartete ungeduldig. Als sie stehen blieb und sich noch einmal zu den Mädchen umsehen wollte, packte er sie grob am Arm, stieß sie auf den Beifahrersitz und knallte die Tür zu.
Er setzte sich ans Steuer, legte krachend den Rückwärtsgang ein und gab Gas. Das Auto schrammte einen Laternenpfahl neben der Haltestelle. Er lief rot an, fluchte und schaltete in den ersten Gang. Mit schleifender Kupplung lenkte er das Auto auf die Straße. Auf dem Rückweg nahm er eine andere Strecke und mied die Autobahn.
Um Marcia herum war alles dunkel, wie in einem Tunnel. Es roch leicht erdig und von irgendwoher klang ein Rascheln. In der Ferne erspähte sie einen hellen Fleck, Tageslicht vielleicht? Sie wollte darauf zugehen, aber ihre Beine versagten den Dienst. Eine namenlose Angst erfasste sie, ihr Herz hämmerte wild gegen die Brust und Übelkeit stieg in ihr auf.
Plötzlich hörte sie leise Stimmen, sie kamen aus der Richtung des Lichts. Sie wollte um Hilfe rufen, bekam aber keinen Ton heraus.
Mühsam setzte sie einen Fuß vor den anderen und kämpfte sich voran. Dann jedoch blieb sie abrupt stehen. Jemand musste sie in diesen Tunnel verfrachtet haben und womöglich lauerte dieser Jemand am Ausgang auf sie. Wer, um Himmels willen, konnte das sein? Sie hatte keine Ahnung …
Plötzlich zuckten Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Eine nackte Frau beugte sich über sie und rief immer wieder ihren Namen. Was wollte die von ihr? Warum lag sie im Sand? Als sie sich aufrichten wollte, drückte eine Hand sie zurück. »Bleib liegen!«, befahl eine Stimme. Etwas Warmes, Haariges berührte ihre Brüste. War das ein Tier? Und warum spürte sie es auf der Haut? War sie etwa nackt?
Heftig schüttelte sie den Kopf, um die Schreckensbilder zu vertreiben. Sie richtete den Blick fest auf das Licht am Ende des Tunnels. Ob da nun jemand war oder nicht, sie musste es wagen, um dem grässlichen Dunkel zu entkommen.
Plötzlich erklangen Schritte hinter ihr. Sie fuhr herum und sah ihren Vater.
»Papa!«, rief sie erleichtert.
Er trug einen Trainingsanzug und Laufschuhe. Als er näher kam, sah sie, dass ihm der Schweiß auf der Stirn stand. Er musste kilometerweit gerannt sein, um sie zu suchen. Freudig streckte sie ihm die Hände entgegen; sie lachte und weinte zugleich. Warum nur hatte sie an ihm gezweifelt? Ihr Vater würde sie doch nie im Stich lassen – niemals!
Doch was war das? Er schien sie überhaupt nicht wahrzunehmen; es sah aus, als wollte er an ihr vorbeilaufen.
»Papa?« Sie griff nach seiner Jacke, doch er riss sich los und joggte weiter, auf den Tunnelausgang zu. Völlig perplex sah sie ihm nach. Es dauerte eine ganze Weile, bis ihre Starre sich löste und Wut in ihr aufloderte. »Du elender Feigling!«, schrie sie ihm nach. Der Zorn verlieh ihr neue Kraft. Sie würde auch allein zum Ausgang kommen, sie brauchte ihn nicht!
Wieder hörte sie Stimmen, verstand jedoch kein Wort. Sie blinzelte, spürte Tropfen auf dem Gesicht. Dann wurde ihr schwindlig, alles um sie herum schien zu schwanken. Eine Hand näherte sich ihr und sie schrie laut: »Fassen Sie mich nicht an!«
»Entschuldigung … nichts für ungut.« Die Hand verschwand und plötzlich wurde es hell um sie. Das Licht schmerzte in den Augen. Sie sah Konturen von Bäumen, offenbar befand sie sich im Freien. Marcia atmete tief durch und merkte, wie die Übelkeit nachließ. Doch sie hatte das unbehagliche Gefühl, dass jemand ganz in ihrer Nähe lauerte. »Gehen Sie!«, rief sie. »Hauen Sie ab, los!« Marcia begann, um sich zu treten.
Wieder sah sie den Mann mit der Kamera vor sich. Jetzt saß sie auf einem Barhocker, zwei Hände hielten sie an den Hüften fest, damit sie nicht abrutschte. Sie sah, wie der Mann in die Hocke ging und ihre nackten Beine fotografierte. Mit einem Mal fiel ihr sein Name wieder ein: Hans Groesbeek! Der Geschäftsführer der Modelagentur! »…los mit euch? Habt ihr getrunken?« Eine Frauenstimme.
Mühsam wandte Marcia den Kopf zur Seite. Ihre Augen brannten, der Mund war trocken. »Ich will nach Hause«, sagte sie heiser.
Eine kühle Hand legte sich auf ihre Stirn.
»Wie heißt du?«
Sie schloss die Augen und kramte in ihrem Gedächtnis.
»Marcia.«
Dann begann sie zu weinen.
Damit nicht auffiel, wie sehr seine Hände zitterten, hatte Geert de Vogel sie in den Jackentaschen versenkt. Der Polizist, der ihn befragte, kam ihm reichlich jung vor. Allenfalls Anfang zwanzig. Er wirkte vollkommen gelassen, während Geerts Stimme vor Aufregung bebte. Er ballte die Hände zu Fäusten und schob sie tiefer in die Taschen.
Etwa zehn Minuten nach seinem Anruf war die Polizei gekommen. Die kurze Zeit war ihm wie eine Ewigkeit erschienen. Das eine Mädchen hatte völlig apathisch dagelegen, während das andere allerlei wirres Zeug geredet hatte: etwas von einem Tunnel und irgendwelchen haarigen Tieren.
Sie hatten zwei Autos geschickt, mit vier Polizisten, zwei Frauen und zwei Männern. Die Polizistinnen kümmerten sich um die Mädchen, während ihre Kollegen ihn und seine Frau befragten. Geert sah, wie Riet lebhaft gestikulierte, und ärgerte sich insgeheim. Er selbst hatte dem jungen Polizisten mit drei Sätzen alles gesagt, was er wusste, aber Riet musste mal wieder eine Riesenshow veranstalten.
Einer der Sanitäter nahm eine Stablampe zur Hand, beugte sich über Floor und leuchtete ihr ins Auge, um ihre Reaktion zu prüfen.
Irritiert schlug sie nach dem Licht, verfehlte aber das Ziel. Sie fühlte sich schlapp und so müde, dass sie sofort wieder die Augen schloss. In ihrem Kopf hämmerte es, ihr war übel und schwindlig.
»Sieh mich mal an.« Die Stimme war leise, klang wie aus weiter Ferne. Floor machte kurz die Augen auf, sah über sich den Himmel und fallende Regentropfen.
»Kannst du mir sagen, wie du heißt?«
Mit einem Seufzer schloss sie die Augen wieder. Warum ließen diese Leute sie nicht in Ruhe? Sie wollte schlafen, nichts weiter. Ihr war so kalt, dass sie am ganzen Körper eine Gänsehaut hatte.
Floor wurde auf eine Trage gelegt. Ein Sanitäter breitete eine Decke über ihren zitternden Körper. Die Trage wurde in den Wagen geschoben, die Tür geschlossen und mit Sirenengeheul und Blaulicht fuhr der Krankenwagen los, gleich darauf der zweite.
Das Klingeln des Telefons weckte ihn. Verschlafen sah Inspektor van Buren auf seine Armbanduhr: Viertel nach fünf. Der Fernseher lief, also musste er wohl nach den Nachrichten eingeschlafen sein. Er fuhr sich mit den Händen übers Gesicht.
Für einen kurzen Moment erwog er, das penetrante Geklingel zu ignorieren, dann aber fiel ihm ein, dass es seine Tochter sein könnte. Sie war bei einer Geburtstagsparty und wollte danach kommen, um den Sonntag bei ihm zu verbringen. Er hoffte, dass sie es sich nicht anders überlegt hatte, denn er freute sich auf ihren Besuch. Am liebsten hätte er seine Kinder täglich gesehen, doch seit der Scheidung wohnten sie bei ihrer Mutter.
Er nahm den Hörer ab: »Rob van Buren.«
»Polizeirevier, guten Abend. Ich sehe auf dem Plan, dass Sie heute Bereitschaftsdienst haben.«
Seine Miene verfinsterte sich. So ein Mist! Er hatte glatt vergessen, dass er mit einem Kollegen den Dienst getauscht hatte.
»Ja, stimmt«, sagte er leicht unwillig.
Mit gerunzelter Stirn hörte er zu und gab dann den Auftrag, sofort die Spurensicherung loszuschicken. »Ich bin in einer halben Stunde vor Ort.«
Er legte auf und nahm einen Schluck von seinem längst kalt gewordenen Kaffee. Er überlegte kurz, ob er seiner Tochter Bescheid sagen sollte, ließ es dann aber. Mit etwas Glück war er wieder zu Hause, wenn sie kam. Er zog Schuhe und Jacke an, nahm den Autoschlüssel vom Couchtisch und machte sich auf den Weg.