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Inspektor van Buren fuhr stadtauswärts und dann über Nebenstraßen zu der Bushaltestelle am Akkerweg. Da er die Gegend recht gut kannte, hatte er das Navigationssystem nicht eingeschaltet.

Er passierte einen Lagerschuppen, in dem er erst vor zwei Monaten mit seinen Kollegen dreißigtausend Hanfpflanzen beschlagnahmt hatte. Die abgelegenen Schuppen und Höfe eigneten sich ideal für Hanfzuchten und Ecstasy-Labors. Er dachte an die Gruppe Jugendlicher, die sie, mit Messern und Baseballschlägern bewaffnet, dort angetroffen hatten. Achtzehn, allenfalls neunzehn waren sie gewesen … etwa so alt wie seine Söhne.

Vor ihm bog ein Wagen mit Blaulicht an der Kreuzung ab und er folgte ihm. Van Buren parkte sein Auto hinter dem weißen Kleinbus der Kriminaltechnik, der Abteilung, die sich mit Spurensicherung befasste. Er kramte im Handschuhfach, das mit Papiertaschentüchern, Tankquittungen und leeren Chips- und Bonbontüten vollgestopft war, nach einem Kugelschreiber. Dann stieg er aus und sah sich um.

Der Akkerweg war eine lange, gerade Straße mit Bushaltestellen und Radwegen auf beiden Seiten. An den etwa fünf Meter breiten Grünstreifen grenzte ein Wassergraben, hinter dem sich Wiesen ausdehnten.

Die eine Haltestelle war mit rot-weißem Band abgeriegelt, auf dem in schwarzer Schrift POLIZEIABSPERRUNG stand.

Der Regen peitschte van Buren ins Gesicht, als er darauf zuging. Er stellte den Kragen seiner Jacke hoch und lief mit gebeugtem Rücken zu den zwei Polizisten, die vor dem Absperrband warteten und sich unterhielten. Dem kleineren der beiden schlug er freundschaftlich auf die Schulter. »Guten Abend, Paul.«

»Hallo, Rob.«

Paul van Dam blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Du hast dir reichlich Zeit gelassen. Wir haben vor gut einer halben Stunde angerufen. Bist auch nicht mehr der Jüngste, was?«

»Ja, im Alter dauert alles länger. Und du kennst mich ja: Ich mache keinen Schritt vor die Tür, bevor mein Haar nicht gut sitzt.«

Grinsend betrachteten van Dam und sein Kollege van Burens Glatze.

»Was liegt an?« Der Inspektor ging zur Tagesordnung über und wischte sich mit dem Jackenärmel den Regen aus dem Gesicht.

»Zwei Mädchen, etwa sechzehn Jahre alt, nicht ansprechbar«, las John de Wild von einem Zettel ab. »Ein altes Ehepaar aus dem Dorf da drüben hat die beiden um etwa 16:30 Uhr gefunden und beim Revier angerufen. Die Mädchen sind bereits im Krankenhaus. Zwei Kolleginnen sind mitgefahren, für den Fall, dass die beiden in der Lage sind, eine Aussage zu machen. Die Leute, die sie gefunden haben, sind wieder nach Hause gegangen. Wir haben aber ihre Adresse und Telefonnummer.«

Van Buren nickte. »Was haben die Sanitäter über den Zustand der Mädchen gesagt?«

De Wild warf einen Blick auf seinen Zettel. »Sie stehen vermutlich unter Drogeneinfluss.«

»Drogen …« Van Buren seufzte hörbar. Dann entdeckte er Henk Koning hinter dem Absperrband, bedankte sich bei den zwei Kollegen und stapfte grummelnd durch die Pfützen. Er spürte, wie das Wasser in seine Schuhe lief.

Henk Koning arbeitete seit über zwanzig Jahren als Kriminaltechniker, und wenn einer sein Fach verstand, dann er. Van Buren schätzte ihn als kompetenten und stets zuverlässigen Kollegen. Koning trug einen weißen Overall, Überschuhe und Latex-Handschuhe. Er kauerte im Gras. Der Dauerregen schien ihn nicht im Geringsten zu stören.

Van Buren blieb vor dem Band stehen und pfiff auf zwei Fingern. Koning wandte sich um, hob grüßend die Hand und stand auf. Geduldig wartete Van Buren. Er wusste, dass Koning äußerst ungehalten reagierte, wenn Kollegen ohne seine ausdrückliche Erlaubnis den Tatort betraten und dabei womöglich wichtige Spuren vernichteten.

»Rob, du auch hier?« Koning gab ihm die Hand.

»Es ließ sich nicht vermeiden«, meinte der Inspektor achselzuckend.

»Kenn ich.«

»Was liegt an? Zwei naive Mädchen, die mit Drogen experimentiert haben, oder zwei Missbrauchsopfer?«

»Eher Letzteres.«

»Dann bin ich gespannt, was du gefunden hast.« Van Buren nahm eine Brille mit Silbergestell aus der Innentasche seiner Jacke und setzte sie auf.

Koning drückte das Absperrband nach unten. »Komm rüber.«

Van Buren folgte ihm. Vor dem Laternenpfahl, an dem eine Tafel mit den Abfahrtszeiten der Busse hing, blieb er stehen. Der Pfahl stand leicht schief im hohen Gras.

»Da ist einer gegengefahren«, sagte Koning. »Ich hab Lackspuren gefunden, die schicke ich am Montag zum Analysieren ins Labor. Und hier …«, er deutete auf eine Stelle am Boden, an der eine Markierungskarte stand, »hier haben die Hinterreifen des Autos durchgedreht und eine deutliche Spur hinterlassen.« Die Hände in die Hüften gestemmt, betrachtete er den Profilabdruck.

»Ich muss noch die Spurweite messen, damit lässt sich, wenn wir Glück haben, die Automarke feststellen.«

»Wie kommst du darauf, dass die Spuren vom Täter sind?«

»Von den Tätern!«, verbesserte Koning. »Es waren mindestens zwei und ich bin so gut wie sicher, dass eine Frau dabei war.«

»Eine Frau?« Van Buren hatte sein Notizbuch gezückt und schrieb eifrig mit.

»Schau mal …« Henk Koning wies auf den Boden. »Von der Stelle, wo das Auto hielt, bis zum Wartehäuschen sind Schleifspuren zu sehen und daneben Abdrücke von Pfennigabsätzen, ebenso hinter der Bushaltestelle und außerdem neben den Reifenspuren. Die alte Dame, die die Mädchen gefunden hat, trug flache Schuhe, wie der Kollege von der Streife meinte. Also können die Abdrücke nicht von ihr stammen.« Koning hatte die Schuhabdrücke mit umgedrehten Eimern vor dem Regen geschützt. Er hob einen davon an, damit van Buren sie betrachten konnte. »Die Schrittweite beträgt 64 Zentimeter«, fügte er hinzu.

Van Buren sah ihn fragend an. »Und das heißt?«

»Bei Frauen beträgt die Schrittweite zwischen 60 und 70 Zentimetern. Männer machen größere Schritte, zwischen 70 und 80 Zentimetern. Die Frau ist an der Beifahrerseite ausgestiegen und das bedeutet, dass jemand anderes gefahren sein muss. Es handelt sich also um mindestens zwei Täter.«

»Lässt sich sagen, in welche Richtung das Auto weggefahren ist?«

Henk Koning schüttelte den Kopf. »Leider nein. Dafür ist die Straße zu breit; der Fahrer könnte ohne Weiteres gewendet haben.«

»Hast du hier noch lange zu tun?«

Koning zuckte mit den Schultern. »Noch eine gute Stunde, schätze ich.«

»Dann viel Erfolg.« Der Inspektor hob grüßend die Hand und ging zu seinem Auto zurück, um zum Krankenhaus zu fahren.

Van Buren hatte mit siebenundzwanzig Jahren die Marine verlassen und war zur Polizei gegangen. Im Verlauf seiner nunmehr fünfundzwanzig Dienstjahre hatte er unzählige Ermittlungen geleitet und seine Erfahrung sagte ihm, dass er es mit einem heiklen Fall zu tun hatte. Nicht umsonst waren die Mädchen an einer ziemlich abgelegenen Stelle ausgesetzt worden. Wenn man ihnen tatsächlich Drogen verabreicht hatte, musste schnellstens eine Blutuntersuchung durchgeführt werden, denn schon nach wenigen Stunden konnten die Spuren aus dem Körper verschwunden sein.

Kurz nach sieben stellte er seinen Wagen vor dem Krankenhaus ab. Am Empfang zeigte er seinen Dienstausweis vor und wurde in den dritten Stock geschickt, wo er seine beiden Kolleginnen antraf. Von ihnen erfuhr er, dass die Mädchen nach wie vor kaum ansprechbar waren. Bisher waren lediglich ihre Vornamen bekannt: Marcia und Floor.

»Habt ihr die Kleidung und Taschen der beiden Mädchen durchsucht?«, fragte van Buren.

»Sie hatten etwas Geld bei sich. Außerdem Handys, Schminkzeug und Zugfahrkarten, sonst nichts.«

»Was für Zugfahrkarten?«

»Steenburg-Elst, hin und zurück. Heute abgestempelt.«

»Dann kommen sie wohl aus Steenburg oder der näheren Umgebung. Könnt ihr bitte die Kollegen dort anrufen und euch erkundigen, ob Vermisstenmeldungen vorliegen? Wir müssen dringend die Eltern finden. Wir brauchen auch ihr Einverständnis für eine gynäkologische Untersuchung. Ich schließe eine Vergewaltigung nicht aus.«

Eine der Polizistinnen ging zum Empfang, um sich die Telefonnummer des Polizeireviers Steenburg heraussuchen zu lassen.

»Holst du bitte mal die Handys der Mädchen?«, wandte van Buren sich an die zweite Kollegin. »Die würde ich mir gern ansehen.«

»Kein Problem.«

Binnen weniger Minuten brachte sie eine Plastiktüte mit den Sachen der Mädchen. Sie nahm die Handys heraus und gab sie dem Inspektor.

Er fluchte leise, als er sah, dass beide aus waren. Er schaltete ein Handy an und gab als Pincode viermal die Null ein. Die Meldung »Falsche Eingabe« erschien auf dem Display. Pech gehabt … es wäre auch zu schön gewesen, wenn es geklappt hätte. Dann hätte er eine beliebige Nummer aus dem Verzeichnis gewählt und der Angerufene hätte ihm gewiss den Nachnamen und die Adresse des Mädchens nennen können.

»Die Eltern sind bereits gefunden!« Aufgeregt kam die Polizistin, die mit dem Revier in Steenburg telefoniert hatte, den Flur entlang. »Man hat die Eltern eines der Mädchen erreicht. Sie haben der Untersuchung schon zugestimmt und verständigen auch die anderen Eltern.«

»Fein.« Van Buren steckte die Handys in seine Jackentasche und machte sich auf die Suche nach dem diensthabenden Arzt.

Sjon Kloostermans eilte mit großen Schritten den langen Flur entlang. Ihm folgte seine Frau Pauline, dann Rina Janssens und als Nachhut Willem Janssens.

Vor gut einer halben Stunde hatte die Polizei angerufen. Als Frau Kloostermans hörte, dass ihre Tochter und deren Freundin in eine Klinik eingeliefert worden waren, hatte sie völlig aufgelöst die Janssens alarmiert.

Herr Kloostermans schloss gerade das Auto auf, als ein Hupen ertönte und der Wagen der Janssens neben ihnen hielt. Gemeinsam fuhren sie zum Krankenhaus.

Willem Janssens bemühte sich, einen kühlen Kopf zu bewahren und sich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren, während die anderen aufgeregt durcheinanderredeten und darüber spekulierten, was geschehen war.

Inspektor van Buren nahm die Eltern in Empfang und kam sofort zur Sache. Er informierte sie, unter welchen Umständen und in welchem Zustand die Mädchen gefunden worden waren. Inzwischen seien Blutproben genommen worden, berichtete er, und eine Ärztin untersuche gerade, ob die beiden sexuell missbraucht wurden.

Die Mütter sahen einander beklommen an, sagten aber kein Wort.

Dann wollte van Buren wissen, wo Marcia und Floor den Tag über gewesen seien. Frau Kloostermans berichtete von der Modelagentur Make It und den Probeaufnahmen im Park vor etwa einer Woche. Sie habe sich zusammen mit Floor die Website der Agentur angesehen, sagte sie, und den Eindruck gehabt, dass es sich um ein seriöses Unternehmen handele. Sie könne sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass diese Leute ihre Tochter missbraucht hätten. Ihre Stimme zitterte, als sie schilderte, wie stolz sie gewesen sei, dass ausgerechnet Floor als Model ausgewählt worden war. Die beiden Mädchen hätten heute einen Termin mit dem Geschäftsführer gehabt und in Elst am Bahnhof von ihm abgeholt werden sollen. Floor habe sie von dort angerufen, um ihr mitzuteilen, dass sie gut angekommen seien.

Sie überlegte hin und her, doch der Name des Geschäftsführers wollte ihr nicht mehr einfallen. Seine Mails, so meinte sie, seien aber sicherlich im Computer ihrer Tochter gespeichert.

Frau Janssens hatte mit wachsender Verwunderung und Bestürzung zugehört. Was Floors Mutter da erzählte, war ihr vollkommen neu. Sie wusste weder von der Modelagentur noch von irgendwelchen Terminen. Kein einziges Wort hatte Marcia davon erzählt! Ihr Magen krampfte sich zusammen und sie hielt mit Mühe die Tränen zurück.

Als der Inspektor ihr Fragen stellte, konnte sie keine einzige beantworten und gab schließlich betreten zu, keine Ahnung zu haben, was ihre Tochter an diesem Samstag vorgehabt hatte. Sie warf ihrem Mann einen Hilfe suchenden Blick zu, doch der starrte auf seine Schuhe und schwieg.

Gedankenfetzen wirbelten in Floors Kopf umher. Das Geräusch von Stöckelschuhen auf dem Fliesenboden verhieß Gefahr: klack-klack-klack-klack.

Plötzlich verstummte das Geräusch und das Sofapolster sank leicht ein, als jemand sich neben sie setzte. Sie krallte sich an der Armlehne fest. Der Raum drehte sich, sie hatte das Gefühl, Watte im Kopf zu haben.

»Mir ist nicht gut …« Sie schluckte mehrmals mühsam. Ein Arm legte sich um ihre Schultern. Wie durch einen Nebel erkannte Floor Sabrina neben sich … aber warum war sie nackt?

Sabrina zog Floor zu sich und streichelte mit den Fingern ihre Wange. Benommen hing Floor an dem nackten Körper, ihre Wange ruhte auf Sabrinas Brust. Der Herzschlag der Frau hämmerte in ihren Ohren. Ihr Mund fühlte sich trocken an, das Schlucken fiel ihr immer schwerer. Alles war wie betäubt, sogar ihre Kehle. Immer wieder fielen ihr die Augen zu. Verzweifelt kämpfte sie gegen die Müdigkeit an.

Sie spürte Hände an ihren Brüsten und wollte sie wegstoßen, war jedoch zu keiner gezielten Bewegung fähig … Ihr war, als befände sie sich außerhalb ihres Körpers und sähe von fern, was da mit ihr geschah, ohne eingreifen zu können.

Floor nahm all ihre Kraft zusammen. Sie wollte aufstehen und fliehen, aber es war nicht möglich. Ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. Wider Willen begann sie, nervös zu lachen.

Auch Sabrina lachte, dann beugte sie sich vor und küsste Floor auf den Hals.

Klick, klick, klick.

Mit letzter Kraft rutschte Floor ein kleines Stück von Sabrina weg.

»Gib ihr noch was zu trinken«, sagte eine Stimme.

Ein Glas wurde ihr an die Lippen gehalten und sie nahm unwillkürlich ein paar Schlucke. Dann drehte sie abrupt den Kopf weg und der Saft lief ihr übers Kinn.

»Ich will … will …« Weiter kam sie nicht. Sie wusste genau, was sie wollte: nach Hause. Doch sie war nicht imstande, die Worte zu formen.

Sabrina flüsterte ihr beruhigende Worte ins Ohr, aber Floor hörte nur zusammenhanglose Laute. Auf ihrem Bauch spürte sie Sabrinas Hand, die langsam tiefer glitt. Floor brach der kalte Schweiß aus. Was, um Himmels willen, wollte die Frau von ihr? Und wo war Marcia? Was machten diese Leute mit ihr?

Wieder wurden ihr die Lider schwer. Sie wollte nach Hause, zu ihrer Mutter.

Sabrina begann, ihr den Slip auszuziehen. Floor versuchte, sich zu wehren, aber vergeblich.

Wieder klickte es.

Eine Hand griff ihr zwischen die Beine, sie wollte sie wegstoßen, konnte aber nicht. »Nein! Bitte nicht!« Floor begann zu weinen.

Mit einem gellenden Schrei fuhr sie hoch. Ihr Nachthemd war durchgeschwitzt, das Bettzeug völlig zerwühlt.

Wo war sie überhaupt? Verwirrt sah sie sich um und stellte fest, dass sie sich in einem fremden Zimmer befand.

Bilder wie aus einem Albtraum zuckten über ihre Netzhaut. Sie hörte Schritte auf dem Fußboden und fühlte Panik in sich aufsteigen. Da kam sie wieder, die grässliche Frau! Sie musste fort, schnell … Floor schob die Beine über die Bettkante.

»Oh, du bist ja wach.« Eine Krankenschwester stand in der Tür. Als sie merkte, dass Floor aus dem Bett steigen wollte, eilte sie zu ihr. Ihre offenen Sandalen klatschten gegen die Fußsohlen.

»Warum weinst du?«, fragte sie besorgt. »Deine Mutter kommt gleich.«

»Mama?« Verstört sah Floor die Schwester an, die sie sanft wieder in die Kissen drückte.

»Deine Mutter ist hier, im Krankenhaus. Sie bleibt heute Nacht bei dir. Komm, leg dich wieder hin. Du hast schlecht geträumt.«

»Ich glaube, das war kein Traum …«, sagte Floor mit heiserer Stimme.