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Die Zeitung lag aufgeschlagen auf dem Frühstückstisch. Sie hatte den Artikel inzwischen schon viermal gelesen. Den Kopf in die Hände gestützt, starrte sie die fettgedruckte Schlagzeile an: Zwei Mädchen betäubt am Straßenrand gefunden.

Wieder spürte sie Übelkeit aufsteigen und drückte mit zittrigen Fingern eine Tablette aus der Verpackung.

Dem Artikel zufolge waren die Mädchen in kritischem Zustand in eine Klinik eingeliefert worden und man hatte eine Sonderkommission gebildet, um die Täter zu finden.

Sie trank einen Schluck Wasser und spülte die Tablette hinunter. Schon seit Samstag war ihr elend zumute. Ständig spukten ihr Bilder der Mädchen durch den Kopf, wie sie hilflos im Gras lagen.

Wenn man ihnen auf die Spur kam, hatten sie garantiert mit einer harten Strafe zu rechnen. Der Sache mit dem GHB hatte sie von Anfang an skeptisch gegenübergestanden. Als beide Mädchen bewusstlos waren, hatte sie aufhören wollen. Er hatte geschrien, dass es nun zu spät sei, um auszusteigen. Dann hatte er ihr aufgezählt, in wie vielen Punkten sie sich schon strafbar gemacht hatten, von bewusster Irreführung bis hin zu Entführung. Wenn sie sich jetzt der Polizei stellten, würde ihre Strafe auch nicht milder ausfallen, hatte er behauptet. Zugleich hatte er ihr versichert, die Polizei würde sie auf keinen Fall finden. Er hätte darauf geachtet, keine Spuren zu hinterlassen. Und wieder hatte er von Geld gesprochen, von schwindelerregenden Summen, die sie von allen finanziellen Sorgen befreien würden. Widerwillig hatte sie sich gefügt.

Erneut füllten sich ihre Augen mit Tränen. Plötzlich hörte sie Schritte auf der Treppe. Schnell wischte sie die Tränen weg.

Als ihr Sohn die Küche betrat, legte sie automatisch die Hand auf den Zeitungsartikel.

»Sind noch Kaiserbrötchen da?« Er öffnete den Brotkasten und brummte ärgerlich.

»Im Gefrierschrank ist noch ein Beutel. Leg sie kurz in den Backofen.«

»Dafür hab ich keine Zeit«, sagte er missmutig. »Lars holt mich gleich ab, wir wollen noch vor der Schule skaten. Wir haben heute erst zur dritten Stunde Unterricht. Sind wenigstens Chips da?« Er öffnete den Vorratsschrank und stopfte Chips und eine Tüte Lakritz in den Rucksack.

»Um fünf bin ich wieder da.«

»Krieg ich keinen Kuss?« Mit dieser Frage neckte sie ihn jeden Morgen – heute jedoch war es ihr ernst damit.

»Tschü–hüs!«

»Pass auf dich auf.«

Die Haustür fiel ins Schloss.

Sie machte die Augen zu, um die quälenden Gedanken loszuwerden. Doch was sie in der Zeitung gelesen hatte, ließ sich nicht so leicht verdrängen.

Sie stand auf und ging in die Diele. Ihr Mann war am frühen Morgen ins Studio gefahren, um die Fotos zu sichten. Wahrscheinlich hatte er die Zeitung noch gar nicht gelesen.

Sie nahm den Telefonhörer und wählte seine Nummer. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis er sich meldete.

»Hallo?«

»Es steht in der Zeitung!«, platzte sie heraus. »Die Mädchen sind ins Krankenhaus gekommen und bei der Polizei haben sie eine Sonderkommission eingesetzt. Die finden uns, du wirst schon sehen! Ich will nicht jahrelang im Gefängnis sitzen! Wir haben drei Kinder, wer soll sich um die kümmern, wenn wir beide in den Knast wandern?«

»Immer mit der Ruhe«, entgegnete er gelassen.

»Ruhe? Hör mal, wir stecken bis zum Hals in der Scheiße! Weißt du, was ich mache? Ich packe meine Sachen und fliege morgen mit den Kindern zu meiner Schwester nach Portugal.«

»Nun dreh bloß nicht durch! Ich komme so schnell wie möglich nach Hause.«

Sie hatte den Feuerkorb im Garten angezündet und verbrannte die Kleider, die sie am Samstag getragen hatte.

»Was machst du da?« Er war durch die Gartentür gekommen, rannte auf sie zu und nahm ihr den Schürhaken aus der Hand. Als er sein Heft in den Flammen sah, fluchte er.

»Geh sofort rein!«, herrschte er sie an und sah sich verstohlen nach allen Seiten um. Dann folgte er ihr ins Haus und schloss die Terrassentür.

»Reiß dich zusammen«, sagte er barsch. »Mit solch unüberlegten Aktionen erregen wir nur Verdacht.«

»Du hast gut reden! Mein Gesicht ist auf den Fotos drauf, die du demnächst im Internet verbreiten willst!«

»Kein Mensch wird dich erkennen.«

»Ach ja? Glaubst du? Nur weil ich eine alberne Perücke und Kontaktlinsen trage?«

»Ja, und weil ich sämtliche Fotos bearbeite, auf denen du zu sehen bist. Nicht mal deine eigene Mutter würde dich erkennen. Du kannst dich auf mich verlassen.«

»Ich verlasse mich auf niemanden mehr! Wo ist die Perücke überhaupt?«

»Sie ist im Flurschrank. Was hast du damit vor?«

Ohne zu antworten, lief sie in den Flur. In einer Plastiktüte fand sie ihre Verkleidung. Sie eilte an ihm vorbei zur Terrassentür und stürmte in den Garten.

Einen Augenblick später ging die Perücke in Flammen auf.