Heleen Resmann wunderte sich, als sie um Viertel nach acht ins Büro kam und van Burens Jacke an der Garderobe sah. Ihre morgendliche Besprechung war für neun Uhr anberaumt und Rob kam sonst immer als Letzter in den Raum gestürmt.
»Schönen guten Morgen. Tee gefällig?« Van Buren stand mit zwei Plastikbechern in der Tür und grinste sie an. »Ich hab dich kommen sehen.« Er nickte zum Fenster hin und reichte ihr den Tee.
»Du bist früh dran! Gab’s heute mal keine Pannen mit dem Handy?«
Er lachte und setzte sich an seinen Schreibtisch. »Nein, unser Fall hat mich die ganze Nacht nicht zur Ruhe kommen lassen. Die Ermittlung wird ein Wettlauf gegen die Zeit. Vermutlich dauert es nicht mehr lange, bis die Fotos der Mädchen im Internet kursieren. Gar nicht auszudenken …« Van Buren suchte zwischen den Papieren nach seinen Notizen. »Ich hab gestern noch mit dem Staatsanwalt telefoniert. Wir müssen die Täter so schnell wie möglich finden, da werden sich Überstunden nicht vermeiden lassen.«
»Wie ist die Befragung der Mädchen gelaufen?«
Van Buren seufzte. »Offenbar hat man jede Menge Pornofotos von den beiden Kindern gemacht. Mit gespreizten Beinen, vornübergebeugt, Körperküsse … widerlich, das Ganze.«
»Aufhängen müsste man diese Schweine!« Heleen war rot angelaufen. »Und das mit wehrlosen Kindern …!«
»Solche Leute sind krank«, meinte van Buren.
»Das kannst du laut sagen!« Heleen nahm einen Ordner zur Hand und begann hektisch zu blättern. »Hoffentlich finden wir sie schnell, damit man sie wegsperren kann! Und was die Überstunden angeht: Mich kannst du jederzeit einplanen.«
Bilder aus der Vergangenheit zogen an ihrem inneren Auge vorbei. Es hatte sich nichts geändert, nur die Methoden. Sie war dreizehn gewesen, ein mageres, blasses Mädchen, das noch mit Puppen spielte. Damals gab es zwar noch keine Computer, wohl aber Kerle, die sich an Kindern vergriffen. Sie lauerten auf Spielplätzen und lockten kleine Mädchen mit falschen Versprechungen an irgendwelche abgelegenen Orte. Heute suchten sie sich ihre Opfer in Chatrooms …
Dass es derart skrupellose Männer gab, war einer der Gründe, weshalb Heleen bei der Polizei arbeitete. Selbst nach Jahrzehnten kamen die Erinnerungen an das traumatische Erlebnis immer wieder hoch, vor allem, wenn sie mit Sittlichkeitsdelikten zu tun hatte.
Van Buren wunderte sich, dass seine Kollegin so vom Leder zog, hielt es aber für besser, nicht weiter nachzufragen, weil er ihr nicht zu nahe treten wollte. Er räumte ein paar Becher kalten Kaffee weg, um Platz für die Unterlagen zu schaffen, die er vor der Besprechung noch durchsehen wollte. Dann notierte er ein paar Punkte auf seinem Schreibblock.
Dunkles Auto, vier Türen
Blitzgeräte
Tankstellen
Modelagenturen
Chatrooms
»Kennst du dich mit Chatrooms aus, Heleen?«
Sie sah auf. »Ein wenig. Ich habe eine Bekannte, die ich in einem Chatroom kennengelernt habe. Wir mailen uns regelmäßig. Sie heißt Julie Slabbaert, wohnt in Zwijndrecht und ist achtzehn.«
»Woher weißt du das?«
»Was?«
»Dass sie achtzehn ist und in Zwijndrecht wohnt.«
»Aus ihren Mails. Ich weiß auch, dass sie noch bei ihren Eltern lebt, dass ihr Vater William heißt, ihre Mutter Myriam und ihre Schwester Helene. Und dass sie vor Kurzem ein Studium begonnen hat. Über solche Sachen redet man nun mal …« Sie warf van Buren einen Blick zu. »Ich weiß schon, was du denkst: Natürlich weiß ich nicht, ob sie die Wahrheit sagt, aber manchmal muss man eben einfach Vertrauen haben. Das Chatten hat ja durchaus auch positive Seiten. Man findet neue Bekannte und dabei kommt es weder auf das Alter noch auf das Aussehen oder die Herkunft an. Ich weiß nicht, wie Julie aussieht, aber sie ist nett und sympathisch. Es macht mir einfach Spaß, mit ihr zu chatten.«
Van Buren runzelte die Stirn. Er selbst suchte lieber auf andere Weise Kontakt, in der Kneipe beispielsweise. Ihm war schleierhaft, warum manche Menschen stundenlang am Computer hockten, um sich mit Leuten zu unterhalten, die sie überhaupt nicht kannten. »Aber wenn nun ein junges Mädchen glaubt, mit einem sechzehnjährigen Adonis zu chatten, und in Wirklichkeit ist es ein sechzigjähriger Perverser?«
»Das kann natürlich passieren«, gab Heleen zu. »Es gibt immer Leute, die einem Lügen auftischen. Und Kinder sind nun mal besonders leichtgläubig.«
Jan Pijderooi betrat den Raum. Er schien bester Laune zu sein.
»Noch zwei Tage«, sagte er, während er seine Jacke auszog.
»Was soll das heißen, noch zwei Tage?«, wollte Heleen wissen.
»Dann hab ich Urlaub. Zwei Wochen Griechenland. Sonne, Strand und Schlemmen!«
Van Buren starrte ihn an. »Urlaub?«, wiederholte er ungläubig.
»Genau. Auf Rhodos. Am Donnerstagabend sitz ich im Flieger!«
»Davon hat Linthorn mir kein Wort gesagt.« Der Inspektor wurde rot vor Ärger.
»Das ist nicht mein Problem. Ich hab den Urlaub schon vor fünf Monaten eingereicht und keiner hält mich davon ab.«
»Recht hast du!« Pons Duisterhoven war ins Zimmer gekommen und klopfte seinem Kollegen auf die Schulter. »Dein Urlaub steht dir zu!«
Auch Willem Bouwen und Martin van der Kamp waren eingetroffen. Van der Kamp erstattete als Erster Bericht:
»Die Mails von der angeblichen Modelagentur … ich habe sie inzwischen auf den Computern der Mädchen gefunden und ausgedruckt. Auf dem Handy der einen, Marcia, ist auch die Telefonnummer der Agentur gespeichert. Offenbar hat sie da von ihrem Handy aus angerufen, denn ich hab die Nummer auch in der Anrufliste entdeckt.«
»Danke, Martin«, unterbrach ihn van Buren. »Willem, kümmerst du dich bitte um eine Abhörschaltung für das Handy des Täters? Du solltest auch beim Provider eine Übersicht aller gewählten Rufnummern anfordern … am besten gleich für die letzten drei Monate.«
Willem notierte sich den Auftrag in seinem Block.
»Und du, Heleen, besorgst bitte eine Karte von Gelderland und markierst darauf alle Niederlassungen von McDonald’s, die Bahnhöfe Steenburg und Elst sowie die Bushaltestelle, an der man die Mädchen gefunden hat. Vielleicht kannst du auch noch herausfinden, ob in der Nähe des Akkerwegs geblitzt wird. Vielleicht haben wir ja Glück und es existiert bereits ein Foto des Täters.«
»Alles klar, Chef«, sagte Heleen.
»Und Pons und Jan, ihr könntet versuchen, den Busfahrer ausfindig zu machen, der am Samstagvormittag am Bahnhof Elst im Dienst war. Vielleicht ist ihm das Täterauto auf dem Parkplatz aufgefallen.« Van Buren machte eine Pause und Martin van der Kamp ergriff das Wort: »Ich werde versuchen, anhand der Mails von der angeblichen Modelagentur die IP-Adresse des Absenders zu ermitteln.«
»IP-Adresse?« Van Buren sah ihn fragend an. Da er mit moderner Technik auf dem Kriegsfuß stand, hatte er keine blasse Ahnung, worum es sich handelte.
Geduldig erklärte ihm van der Kamp, dass die IP-Adresse ein Zahlencode sei, der es möglich mache, jeden ans Internet angeschlossenen Computer zu lokalisieren und einer bestimmten Wohnadresse zuzuordnen. »Alles, was du im Internet machst, ist mit deiner IP-Adresse gekoppelt«, erklärte er. »Du kannst das in etwa mit der Nummernerkennung beim Telefon vergleichen.«
Van Buren schöpfte wieder Hoffnung, den Fall schnell aufklären zu können. Doch dann teilte ihm van der Kamp mit, dass er die nächsten vier Wochen jeweils donnerstags und freitags nicht da sein werde, da er bei einer Fortbildung in Zwolle sei. Van Buren stöhnte hörbar auf.
»Ich werde trotzdem mein Bestes geben, verlass dich drauf, Rob«, versuchte ihn van der Kamp zu beruhigen.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte van Buren ernst. »Freie Wochenenden sind fürs Erste nicht drin. Ich schlage vor, wir setzen uns heute Nachmittag um fünf noch mal zusammen.«
Nachdem alle an ihre Schreibtische zurückgekehrt waren, griff van Buren zum Telefonhörer. Es klingelte endlos, dann nahm Koning ab.
»Henk, hier Rob van Buren. Liegen die Ergebnisse vom Labor schon vor? … Nein? … Wie bitte? Vierzehn Tage! So lange kann ich auf keinen Fall warten! Kannst du da nicht Druck machen? Schließlich geht es um Kinderpornos, die Fotos können jeden Tag im Internet auftauchen und dann ist es zu spät! Dann haben wir kaum noch eine Chance, die Verbreitung zu stoppen. Ich brauche die Ergebnisse umgehend! Notfalls rufe ich selber im Labor an und erklär denen das … Du willst es versuchen? Sehr gut! Ich rufe dich später wieder an.« Mit einem Seufzer legte er den Hörer auf.
Diese Wartezeiten waren ihm ein Gräuel, zumal sie die Ermittlungen unnötig erschwerten. Er nahm sich Hans Groesbeeks Aussage vor und las sie aufmerksam. Um die Mittagszeit kam Heleen mit einer Karte ins Büro. Dankbar für die Ablenkung, legte er seine Unterlagen beiseite.
Heleen brachte auf der Karte verschiedenfarbige Markierungen an. Van Buren stellte sich neben sie und hoffte, ein Muster zu erkennen. Seine lange Erfahrung im Polizeidienst hatte ihn gelehrt, dass Täter bei ihren Verbrechen zwar die unmittelbare Umgebung ihrer Wohnung mieden, sich aber auch nicht allzu weit davon entfernten, denn je besser sie sich in der betreffenden Gegend auskannten, desto geringer war das Risiko, bei der Tat gefasst zu werden.
Das Auto, so überlegte er, könnte von Elst aus auf die A 325 in Richtung Arnheim oder Nimwegen gefahren sein, vielleicht auch auf der A 15 in Richtung Tiel. Die Bushaltestelle am Akkerweg lag rund fünfzehn Kilometer von Elst entfernt, zwischen der A 15 und der A 50, also musste sich das Studio, das die Mädchen erwähnt hatten, im näheren Umkreis befinden. Den Rhein hatten sie wohl nicht überquert, denn das wäre den Mädchen sicherlich aufgefallen.
»Verdammt viele McDonald’s in der Gegend«, stellte er fest. »Hast du die Bilder der Blitzer schon, Heleen?«
»Die bekomme ich morgen.«
»Gut, dann fahren wir jetzt nach Elst und dann einmal die Autobahn hoch und runter, um nach Reklameschildern von McDonald’s zu suchen. Vielleicht sehen wir ja auch eines mit einem silbergrauen Auto.«
Heleen nahm sogleich ihre Jacke von der Garderobe. Sie ermittelte viel lieber vor Ort, als stundenlang am PC zu sitzen und Daten zu beschaffen.
Zusammen gingen sie die Treppe hinunter. Auf dem Parkplatz gab van Buren ihr den Autoschlüssel, legte seine Jacke auf die Rückbank und ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder.
Nach dreißig Minuten Fahrt hatten sie Elst erreicht. Heleen fuhr am Bahnhof vorbei und bog auf die A 325 ab.
Doch außer einem Big Mac und einem Bananenmilchshake brachte die Suche ihnen nichts. Um zehn vor fünf waren sie wieder auf dem Revier.
Van Burens Handy klingelte. Er kramte in der Jackentasche nach dem Apparat und meldete sich leicht mürrisch, was ihm sofort leidtat, da es Vivian war. Er warf einen schnellen Blick auf Heleen, die gerade ein Fax las. Er wollte nicht, dass sie das Gespräch mitbekam, womöglich würde sie hinterher neugierige Fragen stellen … also verließ er den Raum.
Vivian kam gleich zur Sache, eine Eigenschaft, die er sehr an ihr schätzte. Sie fragte, ob er Lust habe, zu ihr zum Abendessen zu kommen. Es gebe Brathühnchen mit Reis. Ihre Einladung war verlockend, aber er konnte sie nicht annehmen: Es war einfach zu viel zu tun. Vivian würde das sicherlich verstehen …
»Acht Uhr, passt dir das?«, fragte sie. Er dachte an ihr charmantes Lachen und ihre warmen braunen Augen.
»Leider nicht. Ich bin mitten in einer wichtigen Ermittlung.« Es hatte ein wenig barsch geklungen und er fürchtete schon, sie verärgert zu haben.
Verdammt, er musste sich doch auch ein wenig Freizeit leisten können! Die Arbeit im Revier bestimmte fast sein ganzes Leben. Am Sonntag hatte er sich kaum auf seine Tochter konzentrieren können, da er in Gedanken die ganze Zeit bei dem Fall war. Nein, er durfte es nicht riskieren, Vivian zu verlieren.
»Wenn es auch um neun Uhr ginge, dann gern«, sagte er deshalb schnell.
»Kein Problem. Dann sehen wir uns also um neun.«
Er legte auf und ging wieder ins Büro, wo sich inzwischen auch die anderen zur Besprechung eingefunden hatten.
»Können wir anfangen?« Er sah auf seine Armbanduhr. »Um acht würde ich gern nach Hause gehen. Ihr bestimmt auch.«
Zustimmendes Gemurmel.
Willem Bouwen berichtete, er habe beim Staatsanwalt die Genehmigung eingeholt, das Täterhandy abhören zu lassen; die Schaltung sei ab morgen aktiv. Und vom Provider bekomme er demnächst eine Liste der Gespräche der letzten drei Monate gefaxt. Außerdem habe er sich die Aufnahmen der Überwachungskamera vom Bahnhof Steenburg angesehen und festgestellt, dass die beiden Mädchen um 9:05 Uhr in den Zug nach Elst gestiegen seien.
Pons Duisterhoven und Jan Pijderooi hatten sich beim Verkehrsunternehmen der Gelderländer Überlandbusse den Dienstplan vom Samstag zeigen lassen. Vier Personen seien auf der Strecke zum Bahnhof Elst im Einsatz gewesen und sie hätten alle vier befragt.
Van Buren nickte anerkennend.
Pons nahm seine Aufzeichnungen zur Hand und berichtete, dass einer der Fahrer ein dunkles Auto auf dem Parkplatz gesehen habe. Es sei ihm aufgefallen, weil es ganz am Rand stand, obwohl der Platz so gut wie leer war. Er habe einen Mann und eine Frau im Auto gesehen und die beiden für ein Liebespaar gehalten, das mit sich selbst beschäftigt sei. Der Wagen habe bereits da gestanden, als er um 10:15 Uhr die Haltestelle anfuhr, wo er bis 10:30 Uhr Aufenthalt hatte. Dem Busfahrer zufolge handelte es sich um einen dunkelblauen viertürigen Wagen mit nahezu rechteckigen Scheinwerfern. Und er habe auch gesehen, dass die Frau im Auto langes dunkles Haar hatte.
»Bingo!«, rief van Buren. »Sie haben also erst einmal gelauert, um sicherzugehen, dass die Mädchen allein gekommen sind. Ich werde Henk Koning bitten, dass er sich den Parkplatz morgen mal gründlich ansieht.«
»Eine Zigarettenkippe mit DNA und schon ist der Fall gelöst!«, witzelte Jan Pijderooi.
Die anderen lachten.
»Hast du auch Erfolg gehabt?« Van Buren sah Martin hoffnungsvoll an.
»Ich habe die IP-Adressen der Agenturmails recherchiert, aber leider …«, er legte die Stirn in Falten, »… es sind Adressen von Internetcafés und das hilft uns nicht weiter. Der Täter war in Internetcafés in Wageningen und Rhenen und deren Betreiber notieren sich die Namen der Kunden nicht. Pech für uns … Auf Marcias PC habe ich übrigens das Bild eines halb nackten jungen Mannes gefunden, der sich Erik nennt. Sie hat anscheinend über Chatrooms häufig Kontakt mit Jungen und aus den Protokollen geht hervor, dass sie sich auch selbst nackt vor die Webcam stellt. Unter ihren Kontakten fällt ein gewisser Ruud auf, der ihr auch mehrfach Mails mit sexuellem Inhalt geschickt hat. Ich erstelle bis morgen Mittag eine Liste ihrer gesamten Internetkontakte. Allerdings komme ich nicht dazu, auch noch sämtliche Mails zu lesen.«
»Das kann Willem übernehmen«, meinte van Buren.
»Gibst du mir die Adressen der Internetcafés?«, fragte Heleen. »Dann markiere ich die Orte auf der Karte.«