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Kurz nach zehn Uhr morgens lenkte Bouwen das Polizeiauto auf die Autobahn. Neben ihm saß van Buren und sah seine Notizen noch einmal durch. Sie waren unterwegs nach Den Haag, um Ruud Zwartjes zu verhören, der von den dortigen Kollegen bereits aufs Revier gebracht worden war. Obwohl er über hundert Kilometer vom Tatort entfernt wohnte, hielt der Inspektor es für möglich, dass er der Täter war. Eventuell hatte er ein Wochenendhäuschen in Gelderland, in dem er sich regelmäßig aufhielt. Wie Bouwen am Abend zuvor noch in Erfahrung gebracht hatte, war Zwartjes im Jahr 1998 wegen eines Sittlichkeitsdelikts zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden – ein weiteres Verdachtsmoment.

Um halb zwölf erreichten sie Den Haag und fuhren zur Hauptwache. Nachdem sie ihre Dienstausweise vorgezeigt hatten, wurden sie in einen Verhörraum geführt.

Ruud Zwartjes saß mit hängenden Schultern vor ihnen. Er war eher dünn, hatte schütteres Haar und einen ungepflegten Dreitagebart. Seine schmuddelig wirkenden Kleider verströmten einen penetranten Schweißgeruch. Wie sich zeigte, war er nicht achtundzwanzig, wie er den Mädchen gegenüber behauptet hatte, sondern achtunddreißig. Van Burens Optimismus erhielt einen Dämpfer, denn der Mann entsprach in keiner Weise der Beschreibung des Täters, die die Mädchen abgegeben hatten.

»Herr Zwartjes …«

Er sah die beiden mit flackerndem Blick an.

»Wir haben festgestellt, dass Sie eine ganze Menge Internetkontakte pflegen, häufig mit Mädchen. Mit sehr jungen Mädchen …« Van Buren hatte sich für ein direktes Vorgehen entschieden.

Zwartjes’ Adamsapfel wippte auf und ab. »Mit sehr jungen Mädchen …«, wiederholte er dümmlich.

»Genau. Mit Vierzehn- und Fünfzehnjährigen.«

»Das stimmt so nicht. Ich unterhalte mich zwar in Chatrooms mit Frauen, das ist richtig, aber die sind wesentlich älter. Über zwanzig …«

»Sagt Ihnen der Name Marcia Janssens etwas?«

Zwartjes zögerte.

»Und Floor Kloostermans?«

»Hmmm … nun ja …« Er geriet ins Stocken. »Ich bin jeden Abend im Netz, da weiß ich nicht so genau …«

»Janssens und Kloostermans!«, wiederholte van Buren und fixierte ihn.

»Ja, ich glaube, mit den beiden Frauen hab ich schon gechattet. Jetzt, wo Sie’s sagen, weiß ich es wieder.«

»Bei den zwei Frauen, wie Sie sagen, handelt es sich um fünfzehnjährige Mädchen.«

»Fünfzehn sind die?! Das hab ich nicht gewusst. Ich bin davon ausgegangen, dass sie älter sind.«

»Sie haben die beiden doch per Webcam gesehen.«

»Schon, aber diese Webcam-Bilder sind ja ziemlich undeutlich, haben Streifen und was weiß ich noch.«

»Ihnen ist also nicht aufgefallen, dass die beiden jünger waren, als Sie dachten?«

Er schüttelte entschieden den Kopf. »Nicht die Spur!«

»Haben Sie nach ihrem Alter gefragt?«

»Nein, warum sollte ich? Ich bin davon ausgegangen, dass sie erwachsen sind. Fünfzehnjährige interessieren mich nicht.«

»Was Sie nicht sagen!«

»Ich kann Ihnen versichern, dass die beiden sehr erwachsen rüberkamen. Ich wär nie draufgekommen, dass sie erst fünfzehn sind.«

»Worüber haben sie sich mit den Mädchen unterhalten?«

Zwartjes zuckte mit den Schultern. »Da ging’s um Sex, das sage ich ganz offen.«

Van Buren lehnte sich im Stuhl zurück. »Sie haben die Handynummern der beiden Mädchen. Woher?«

»Die haben sie mir selber gegeben.«

»Wirklich?« Van Buren griff nach seinem Notizbuch. »Laut Chatprotokoll haben Sie aber Floor Kloostermans gegenüber behauptet, Sie hätten ihre Nummer von einem Bekannten bekommen.«

»Die Nummer hat mir ihre Freundin gegeben.«

»Marcia Janssens?«

Er nickte. »Mit ihr habe ich öfter gechattet. Eines Abends meinte sie, Floor würde auch gern Kontakt mit mir haben.«

»Im Chatprotokoll klang das aber ganz anders. Da sagt sie, dass sie nichts mit Ihnen zu tun haben will.«

»Den Eindruck hatte ich nie …«

»Sie haben die Mädchen aufgefordert, sich vor der Webcam auszuziehen, richtig?«

»Marcia ja, aber Floor noch nicht.«

»Noch nicht?«

Er schwieg betreten.

»Haben Sie die Webcam-Bilder gespeichert?«

»Ein paar.«

»Zu welchem Zweck?«

»Einfach so. Ich wollte sie aufbewahren.«

»Haben Sie sie an andere Leute geschickt?«

»Was für Leute?«

»Das frage ich Sie. Haben Sie per Internet Nacktbilder von Marcia verbreitet?«

»Nein! Die Bilder sind privat.«

»Sind Sie verheiratet?«

»Geschieden.«

»Womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt?«

»Ich bin seit 2002 arbeitslos.«

»Was haben Sie davor gemacht?«

»Ich war Bademeister.«

»Haben Sie einen Führerschein?«

»Ja.«

»Was für ein Auto fahren Sie?«

»Einen Ford Ka.«

»Kennen Sie sich in Gelderland gut aus?«

»Eher nicht.«

»Wann waren Sie das letzte Mal dort?«

»Puh …« Er überlegte. »Vor drei, vier Jahren, schätze ich mal.«

»Wo waren Sie am Samstag, den 23. Juni?«

»Am 23. Juni? Da war ich bei der Geburtstagsfeier meiner Schwester.«

»Den ganzen Tag?«

»Ja, ich hab dort auch übernachtet. Meine Schwester wohnt in Deutschland.«

»An dem bewussten Tag haben Sie gegen 22 Uhr versucht, Floor per Handy zu erreichen. Warum?«

»Weil ich mich einsam gefühlt habe.«

»Einsam? Sie waren doch bei einer Geburtstagsfeier.«

»Alle anderen waren mit ihrem Partner da, nur ich nicht. Ich hab den Hund meiner Schwester rausgelassen und bei Floor angerufen. Einfach so, um ein wenig zu reden. Sie ist aber nicht ans Telefon gegangen.«

»Wissen Sie, warum nicht?«

»Woher sollte ich das wissen?«

»Floor und Marcia waren im Krankenhaus.«

Zwartjes zuckte zusammen und machte große Augen. »Ich hab eine Meldung in der Zeitung gelesen«, sagte er. »Das waren also Marcia und Floor. Ich hatte keine Ahnung …« Er brach ab. Vermutlich begriff er erst jetzt, weshalb er verhört wurde. »Damit hab ich nichts zu tun! Ich hab keines der Mädchen, mit denen ich chatte, jemals persönlich getroffen. Keine der Frauen, meine ich natürlich …« Er rutschte nervös auf dem Stuhl herum. »Ich hab den beiden kein Haar gekrümmt, das schwör ich Ihnen.«

»Unter welcher Telefonnummer können wir Ihre Schwester in Deutschland erreichen?«

»Wozu?«

»Um Ihr Alibi zu überprüfen.«

Er nahm sein Handy aus der Jackentasche. »Ich war ab elf in Köln.« Er las die Nummer aus dem Verzeichnis ab und van Buren schrieb sie in sein Notizbuch.

»Kurz nach meiner Ankunft hab ich mit der Nachbarin meiner Schwester gesprochen. Die können Sie auch gern fragen.«

»Das machen wir mit Sicherheit.« Van Buren gab seinem Kollegen ein Zeichen. Dieser stand auf und verließ den Raum.

»Möchten Sie einen Kaffee trinken?«, wandte er sich dann an Zwartjes.

»Gern. Das Ganze hat mir ziemlich zugesetzt.«

»Warum? Sie haben doch ein Alibi, oder?«

»Zum Glück ja. Aber erschrocken bin ich trotzdem. Ich hab nichts damit zu tun, wirklich nicht! Das müssen Sie mir glauben!«

Nach zwanzig Minuten kam Bouwen wieder. »Ich habe mit Ihrer Schwester telefoniert und sie hat Ihre Aussage bestätigt. Sie waren tatsächlich ab elf Uhr in Köln.«

»Hab ich Ihnen doch gesagt!« Zwartjes wirkte erleichtert. »Mit Mädchen chatte und telefoniere ich nur, mehr nicht.«

Am Nachmittag fuhren van Buren und Bouwen wieder nach Gelderland.

»Mal sehen, ob er jetzt in Panik gerät und herumtelefoniert.« Van Buren seufzte tief und rieb sich den schmerzenden Magen.

»Ist dir nicht gut?«

»Wahrscheinlich hab ich zu viel Kaffee getrunken. Oder es ist der Stress. Bist du sicher, dass Zwartjes’ Leitung angezapft ist?«

»Hundertprozentig. Jedes ein- und ausgehende Gespräch wird registriert. Wenn er nun einen Komplizen anruft …«

Van Buren nickte, doch seine Miene verriet Zweifel.

»Und?«

Van Buren nahm neben Bouwen Platz, der den Kopfhörer absetzte.

»Noch nichts Relevantes. Zwartjes hat seine Schwester in Köln angerufen und ihr weisgemacht, er sei wegen einer spurlos verschwundenen Frau vernommen worden. Er habe als Letzter Mailkontakt mit ihr gehabt, deshalb hätte die Polizei ihn befragt. Anscheinend hat sie ihm geglaubt. Später hat er beim Pizzaservice angerufen und sich was zu essen bestellt. Dann hat er noch mit seiner Mutter telefoniert und vorhin mit einem Onkel Joris. Mit dem hat er über allerlei Krankheiten geredet, Gicht und so.«

Die Tür ging auf. Heleen stand auf der Schwelle. »Es ist halb acht. Ich mach Schluss für heute.«

»Gute Idee. Morgen ist auch noch ein Tag.« Van Buren streckte sich. »Ich habe übrigens die Kollegen in Antwerpen angerufen. Morgen Vormittag kann ich dort diesen Erik befragen. Willem, übernimmst du morgen bitte das Abhören, dann kann sich Heleen weiter mit den Daihatsus beschäftigen.«