Am Mittwoch in aller Frühe ging Heleen Resmann durch die ausgestorbenen Flure des Reviers. Sie hatte soeben kontrolliert, ob der Daihatsu noch immer vor dem Haus stand, und sicherheitshalber auch die aufgezeichneten Telefongespräche abgehört. Der Täter hatte, wie erwartet, in der Zwischenzeit nicht telefoniert, Zwartjes dagegen hatte offenbar ein neues Opfer gefunden … ein achtzehnjähriges Mädchen.
Heleen ging zur Kantine, um die Lunchpakete, die sie am Vortag bestellt hatte, abzuholen. Sie standen in einer Plastikkiste neben der Tür bereit. Im Treppenhaus stieß sie mit van Buren zusammen.
»Was machst du da? Das ist doch viel zu schwer für dich. Gib her!« Er nahm ihr die Kiste ab.
»Der Daihatsu steht noch vor dem Haus«, berichtete sie und fragte nach einem Blick auf sein müdes Gesicht: »Hast du schlecht geschlafen?«
»Mir hat der Fall keine Ruhe gelassen. Wir dürfen auf keinen Fall etwas versäumen. Nicht auszudenken, wenn wir den Kerl wegen eines Verfahrensfehlers wieder laufen lassen müssten.«
Schon von Weitem hörten sie Desiree Appels’ Stimme.
»Das ist vielleicht ’ne Quasselstrippe!« Van Buren lachte. »Typisch Frau, ständig am Reden … nicht wahr, Heleen?« Sie grinste und versetzte ihm einen Rippenstoß.
Desiree knallte den Hörer auf die Gabel, als die beiden den Raum betraten. »Ach, ihr seid’s!«, rief sie. »Ich dachte schon, ich wäre die Erste.« Sie eilte auf van Buren zu, nahm ihm die Kiste ab und stellte sie auf einen Tisch. »Irrsinnig spannend das Ganze, nicht? Ich hab übrigens einen Apfelkuchen gebacken. Zur Feier des Tages sozusagen. Jetzt hole ich euch erst mal Kaffee.«
Van Buren breitete seine Unterlagen auf dem Schreibtisch aus und nahm dann die Schmerztabletten zur Hand, die er von zu Hause mitgebracht hatte. Seine Magenschmerzen wollten und wollten nicht nachlassen.
Er drückte zwei Pillen aus der Verpackung und spülte sie mit einem kräftigen Schluck Kaffee hinunter. Dann nahm er sich die Papiere vor. Um sechs betrat der Untersuchungsrichter den Raum. Er war für seine hohe Position ungewöhnlich jung, mit Sicherheit noch keine dreißig. Desiree stieß Heleen an und zwinkerte ihr zu, als er auf die beiden zuging.
»Schönen guten Morgen. Arjan August mein Name.«
Heleen gab ihm die Hand und murmelte ihren Namen. Es war ihr peinlich, dass sie sich nicht geschminkt hatte und in einer abgetragenen Jeans und Schlabberpulli vor dem attraktiven und höchst korrekt gekleideten jungen Mann stand.
Van Buren nahm hastig die Brille ab, stand auf und ging mit ausgestreckter Hand auf den Untersuchungsrichter zu. »Arjan, guten Morgen!« Er konnte ihn gerade noch aus den Fängen von Desiree Appels retten, die begonnen hatte, ihm das Rezept für ihren Apfelkuchen zu erläutern.
Inzwischen hatten sich auch die anderen Kollegen eingefunden.
»Wir haben Hausdurchsuchungen vor uns, und zwar in zwei Gebäuden: einem Wohnhaus und einem Studio«, begann van Buren. »Wie ihr wisst, geht es um Kinderpornos und die Opfer sind zwei fünfzehnjährige Mädchen. Unser Plan sieht so aus, dass wir mit den Durchsuchungen zeitgleich starten und als Erstes die Computer sicherstellen. Die Täter dürfen keine Chance haben, irgendwelche Daten zu löschen. Wir haben bei der Aktion Verstärkung von fünf uniformierten Kollegen: Dick van Rasmolen, Peter Bakker, John de Wild, Henriette Tip und Frans Valkenaars.« Die Genannten standen nacheinander auf. »Einsatzgruppe eins besteht aus Dick van Rasmolen, Peter Bakker und Hans Nachtegraaf. Desiree Appels leitet die Gruppe«, fuhr van Buren fort. »Ihr nehmt euch das Wohnhaus im Achterstapweg sechs vor. Dort ist der Verdächtige Teunis Johannes Moersel gemeldet, außerdem seine Frau und ihre drei Kinder. Festgenommen wird nur er, die Frau vorerst nicht. John de Wild und Henriette Tip bringen ihn aufs Revier, wo er von mir und Willem Bouwen verhört wird.«
Van Buren holte tief Luft, dann sprach er weiter: »Heleen Resmann leitet Einsatzgruppe zwei, die aus Frans Valkenaars und Martin van der Kamp besteht. Sobald John de Wild und Henriette Tip den Verdächtigen auf dem Revier abgeliefert haben, fahren sie zum Studio, um Gruppe zwei bei der Hausdurchsuchung zu unterstützen. Was wir suchen …« Er warf einen Blick auf das Blatt vor sich. »Zunächst einmal Datenträger aller Art, also Kameras, USB-Sticks, CD-ROMs usw. Aber auch Handys und außerdem Unterwäsche. Von einem der beiden Mädchen ist nämlich ein Wäschestück im Studio geblieben: ein hellgrüner Slip wie der hier.« Er hielt das Höschen hoch, das Frau Kloostermans ihm gegeben hatte. »Die Mädchen haben im Studio Formulare ausgefüllt und unterschrieben – die brauchen wir ebenfalls. Gesucht werden soll außerdem nach Kontoauszügen, Terminkalendern, Aufzeichnungen aller Art, Fotos, Drogen sowie Herren- und Damenschuhen, Letzteres vor allem im Privathaus. Heleen und Desiree haben Checklisten bei sich und können bei Bedarf Auskunft geben. Der Daihatsu wird natürlich auch beschlagnahmt. Und für den Fall, dass sich die ganze Sache länger hinziehen sollte, sind Lunchpakete vorbereitet. Die Ausrüstungskoffer haben Heleen und Desiree. Hat noch jemand Fragen?«
Dick van Rasmolen hob die Hand. »Fahren wir mit Polizeiautos vor?«
»Nur John de Wild und Henriette Tip fahren in einem Polizeiauto, weil sie den Verdächtigen aufs Revier bringen sollen. Für alle anderen stehen zwei unauffällige Volkswagen bereit. Herr August nimmt seinen eigenen Wagen, weil er vom Achterstapweg aus direkt zum Studio fährt. Er eröffnet lediglich die Durchsuchungen und muss danach andere Termine wahrnehmen. Wenn wir fertig sind, informieren wir ihn, dann schließt er die Durchsuchungen telefonisch. Sonst noch Fragen? Nein? Dann viel Erfolg!«
Um halb sieben erreichten sie Leesden. Eine Frau mit Hund blieb stehen und sah den Autos verwundert nach, als sie in den Achterstapweg einbogen. Das Einfamilienhaus Nummer sechs hatte zwei Stockwerke und stand zwischen zwei baugleichen Häusern. Wie diese hatte es einen kleinen Vorgarten; ein Plattenweg führte zur Haustür. Durch das Küchenfenster an der Vorderfront konnte man bis ins Wohnzimmer blicken. Damit der Verdächtige nicht durch den Garten flüchten konnte, gingen Dick van Rasmolen und Hans Nachtegraaf ums Haus herum und bezogen an der Terrassentür Posten.
Der Untersuchungsrichter ging, begleitet von John de Wild und Henriette Tip – beide in Uniform –, zur Haustür und klingelte. Es dauerte eine Weile, bis sie Schritte in der Diele hörten und der Schlüssel sich im Schloss drehte.
Ein halbwüchsiger Junge in Boxershorts erschien in der Tür und sah die frühen Besucher mit müden Augen an. Der Untersuchungsrichter zeigte ihm seinen Dienstausweis und fragte, ob Teunis Johannes Moersel zu Hause sei.
»Mein Vater schläft noch …«
Arjan August trat einen Schritt zur Seite, um John de Wild und Henriette Tip ins Haus zu lassen. Sie gingen an dem völlig perplexen Jungen vorbei und sofort die Treppe hoch.
Oben klopften sie an die erste Tür. »Polizei! Stehen Sie bitte auf!«
Eine Frau begann zu schreien, verstummte aber rasch wieder, als ein Mann zu fluchen begann. Dann wurde die Tür geöffnet und Moersel stand im Schlafanzug auf der Schwelle.
Eine Tür an der anderen Flurseite ging auf und zwei Mädchen von etwa siebzehn, achtzehn Jahren spähten heraus.
Mit schreckgeweiteten Augen sahen sie, wie ihr Vater sich dem Griff eines Polizisten zu entwinden versuchte.
»Paps, was ist los?«
»Keine Sorge«, sagte Moersel. »Geht wieder in euer Zimmer. Die Sache ist im Nu erledigt.«
Seine Frau erschien schluchzend in der Schlafzimmertür und die Mädchen eilten auf sie zu. »Mama! Was ist passiert? Was will die Polizei von Paps?«
Sie gab keine Antwort, starrte nur voller Entsetzen ihren Mann an, der jedoch ihrem Blick auswich.
Sie gingen mit Moersel in der Mitte die Treppe hinab.
Unten erwartete ihn der Untersuchungsrichter; er wies sich aus und fragte dann: »Sind Sie Teunis Johannes Moersel, geboren am 17. März 1957?«
Er nickte.
»Dann muss ich Sie festnehmen lassen. Sie stehen im Verdacht, Kinderpornos hergestellt und verbreitet zu haben. Ziehen Sie sich bitte an, danach werden Sie aufs Revier gebracht und zur Sache verhört. Ihr Haus und das Studio im Noorderveld 14-15 werden nach Beweismaterial durchsucht. Haben Sie etwas dazu zu sagen?«
»Ich weiß von nichts«, antwortete Moersel mit betont fester Stimme. »Was soll der Unsinn?« Er spürte die Hand seines Sohns auf dem Arm und musste kurz schlucken.
»Das wird man Ihnen beim Verhör erklären«, meinte der Untersuchungsrichter gelassen. Er nahm ein Schriftstück aus seiner Aktentasche und gab es Moersel: »Das hier ist der Durchsuchungsbeschluss. Händigen Sie mir nun bitte den Schlüssel für das Studio im Noorderveld aus.«
»Ich hab dort kein Studio.«
»Auch gut. Abführen!«
Desiree Appels hatte Frau Moersel und ihre drei Kinder gebeten, sich ins Wohnzimmer zu setzen, während die Räume im Obergeschoss durchsucht wurden. Sie registrierte, wie die Frau ihre völlig verstörten Kinder liebevoll zu trösten versuchte, obwohl ihr selbst die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben stand. Desiree konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie am Missbrauch der zwei jungen Mädchen beteiligt gewesen war. Vermutlich hatte sie keine Ahnung von den Machenschaften ihres Mannes. Überdies hatten Floor und Marcia Moersels Komplizin als attraktive Frau mit langem dunklem Haar beschrieben. Diese Frau hatte streichholzkurzes blondes Haar und eine auffallend fleckige Gesichtshaut. Nein, Frau Moersel hatte garantiert nichts mit dieser üblen Geschichte zu tun.
Hans Nachtegraaf hatte begonnen, die Computer in den Zimmern der Kinder und im Wohnzimmer abzubauen. Dick van Rasmolen und Peter Bakker durchsuchten sämtliche Schränke und Kommoden, drehten die Matratzen um und durchforsteten den Kühlschrank. Nichts wurde ausgelassen – selbst der Spülkasten der Toilette wurde geöffnet und der Staubsaugerbeutel entleert.
Desiree Appels ging von einem Zimmer zum anderen und trug alle Gegenstände, die beschlagnahmt wurden, in eine Liste ein. Nun stand sie im Elternschlafzimmer und betrachtete die Familienfotos auf dem Frisiertisch. Sie standen zwischen einer Unzahl von Schminkutensilien – Desiree zählte allein fünf Tuben mit Flüssiggrundierung.
Als sie Schritte hörte, ging sie in den Flur. Hans Nachtegraaf trat gerade mit einem Rechner aus dem Zimmer des Sohns. »Hier, den kannst du auch notieren.«
Sie trug die Marke und die Seriennummer in ihre Liste ein.
»Ansonsten sind wir hier oben fertig.« Nachtegraaf ging mit dem Computer zur Treppe.
Desiree warf nochmals einen Blick ins Schlafzimmer des Ehepaars Moersel. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die rechte Wand über und über mit Fotos bedeckt war – mit Schnappschüssen, die im Laufe vieler Jahre entstanden sein mussten. Neben unzähligen Fotos von den Kindern, als sie noch sehr klein waren, hingen Urlaubsbilder: Frau Moersel auf Skiern, ein älteres Paar in Liegestühlen in der Sonne … vermutlich die Großeltern.
Jüngere Fotos zeigten die Töchter beim Grillen im Garten und den Sohn, die Hand am Lenker eines Mofas. Lauter lachende Gesichter, die von einem harmonischen Familienleben zeugten …
Sie beugte sich zu den Fotos, die die Kinder in Karnevalskostümen zeigten. Den Sohn erkannte sie an seinen braunen Augen. Die Perücke saß schief, wahrscheinlich hatte jemand sie ihm vom Kopf ziehen wollen. Auf dem Foto daneben trug jemand anderes die Perücke. Desiree musste zweimal hinsehen, dann erst erkannte sie Frau Moersel. »Eine Perücke, das ist es!«, murmelte sie. Rasch machte sie eine Notiz und löste dann das Foto von der Wand.
Die Einsatzgruppe zwei stand seit gut zwanzig Minuten vor dem Haus mit dem Studio und wartete auf Anweisungen. Martin van der Kamp wollte sich gerade die zweite Zigarette anzünden, als Heleens Handy klingelte. Rasch holte sie es aus der Jackentasche und meldete sich. Gespannt beobachteten sie die Kollegen, doch Heleen verzog keine Miene. Dann legte sie auf und seufzte. »Es hat sich kein Schlüssel gefunden. Wir haben die Genehmigung, die Tür aufzubrechen. Der Untersuchungsrichter kommt demnächst.« Sie nahm ein Brecheisen aus dem Ausrüstungskoffer und reichte es Martin. »Brauchst du auch Arbeitshandschuhe?«
Er verneinte und bedeutete Valkenaars, ihm zu folgen. Gemeinsam gingen sie die Feuertreppe hinauf. Van der Kamp setzte das Brecheisen an und gab vollen Druck darauf, während im gleichen Moment Valkenaars mit Wucht gegen das Schloss trat.
Die Tür flog auf und knallte an die Wand, sodass der Putz bröckelte. Van der Kamp eilte sofort zum Computer und begann, die Kabel zu inspizieren. Heleen folgte mit der Videokamera. Der Raum sah genauso aus, wie die Mädchen ihn beschrieben hatten, nur die Strandkulisse fehlte. Der zusammengeklappte Liegestuhl an der Wand war der einzige Beweis. Heleen stellte ihn vor dem Sofa auf und filmte ihn – so konnte Moersel hinterher nicht behaupten, die Aufnahmen seien gar nicht in seinem Studio entstanden. Heleen nahm jede Wand und das gesamte Mobiliar auf, sodass man die Details hinterher mit den Pornofotos vergleichen konnte.
Dann warteten sie auf den Untersuchungsrichter. Kurze Zeit später fuhren John de Wild und Henriette Tip vor. Sie hatten Moersel aufs Revier gebracht. Die ganze Fahrt über hatte er eisern geschwiegen und John schätzte, dass es nicht leicht werden würde, etwas aus ihm herauszubekommen.
Arjan August traf eine halbe Stunde nach dem Telefonat ein, besah sich den Schaden an der Eingangstür und eröffnete dann die Durchsuchung.
Von der Tür aus beobachtete er, wie die Polizisten das Studio durchsuchten. Dann verabschiedete er sich, weil er zum nächsten Termin musste.
In einem der Regale fanden die Beamten zwei Stapel CD-ROMs. Auf den Hüllen stand »Heiße Teens am Strand« und sie zeigten vier Fotos von Mädchen in Dessous, darunter Floor und Marcia. Neben den CD-ROMs standen mehrere Ordner. Heleen nahm einen davon zur Hand. Sie fand Blätter mit handschriftlichen Notizen, außerdem Bestellungen, alles säuberlich nach Datum abgeheftet. Fünfzehn Exemplare der fraglichen CD-ROM waren nach Deutschland und Italien verkauft worden. Sie beschloss, die Ordner mitzunehmen, und legte sie in einen Karton. Dann griff sie nach dem Stapel Fotos, den Valkenaars ihr hingelegt hatte.
Beim Anblick der Bilder kamen unwillkürlich die alten Erinnerungen hoch. Vergeblich versuchte Heleen, sie zu verdrängen. Wieder sah sie den Mann vor sich, der sie damals ins Gebüsch gelockt hatte. Er hatte ein kariertes Hemd und eine Jeans getragen, das wusste sie noch genau. An sein Gesicht dagegen konnte sie sich nicht mehr erinnern …
»Heleen? Hallo!« Sie spürte eine Hand auf der Schulter und fuhr herum. »Was ist?« In ihren Augen blitzte Wut.
Martin van der Kamp zog rasch die Hand weg. »Hast du was?«
»Ich bin nur müde«, sagte sie rasch. »Entschuldige bitte.«
»Hier, das Handy hab ich in einer Küchenschublade gefunden.« Er hielt ihr das Gerät hin. »Ist es womöglich das, das der Täter benutzt hat?«
Sie nahm ihre Checkliste zur Hand. »Wie lautet der IMEI-Code?«
Martin rief ihn auf und las vor.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht.«
Kurz nach vier wurden die Kartons mit den beschlagnahmten Gegenständen in die Autos geladen. Die Durchsuchung war erfolgreich abgeschlossen – sogar Floors hellgrünen Slip hatten sie gefunden.