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Zwei Tage später fand die Abschlussbesprechung der Sonderkommission statt. Martin van der Kamp berichtete ausführlich von einer Spezialsoftware, mit der es möglich war, Pornofotos auf Festplatten zu lokalisieren. Er hatte damit auf Moersels Computer rund 160.000 pornografische Abbildungen gefunden, darunter 3.110 mit Kindern oder Jugendlichen. Viele davon stammten von anderen Sites, ein paar Hundert von Moersel selbst, darunter auch Bilder von jungen Mädchen, die sich vor der Webcam ausgezogen hatten, ohne zu wissen, dass ihr Chatpartner die Bilder speicherte und anschließend in den Handel brachte.

Die Fotos von Floor und Marcia, so berichtete van der Kamp, seien leider bereits ins Internet gestellt worden. Van Buren schüttelte betrübt den Kopf. Er hatte getan, was er konnte. Inzwischen war auch Frau Moersel verhaftet worden und hatte unter Tränen alles gestanden. Nun war es am Richter, dafür zu sorgen, dass dem Ehepaar Moersel, zumindest für ein paar Jahre, das Handwerk gelegt wurde.

Van Buren lehnte sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Am Vortag hatte er eine Woche Urlaub eingereicht. Er hatte Vivian angerufen und gefragt, ob sie mit ihm segeln gehen wolle. Sie war sofort begeistert gewesen.

Nach dem Telefonat hatte er eine ganze Weile den Hörer angestarrt. Konnte es sein, dass Vivian die Richtige war? Die ganze Nacht hatte er hin und her überlegt und am Morgen einen Entschluss getroffen. Wie aus weiter Ferne hörte er van der Kamps langatmigen computertechnischen Ausführungen, die ihn allmählich nervten. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Er wollte nach Hause, für den Segelurlaub waren noch jede Menge Vorbereitungen zu treffen …

Um halb zwölf schloss er seinen Schreibtisch ab und zog die Jacke an. Er trat einen Schritt beiseite, um Heleen vorbeizulassen, die mit einer Akte unterm Arm ins Zimmer kam.

»Steckst du etwa schon in einer neuen Ermittlung?«, fragte er.

»Nein, noch nicht.« Heleen legte die Akte auf ihren Schreibtisch. »Ich will unsere Erkenntnisse über Ruud Zwartjes an die Kollegen in Den Haag schicken. Es kann nicht schaden, wenn sie den Kerl im Auge behalten.«

»Finde ich auch.« Van Buren blickte in die Runde. »Ich mache übrigens eine Woche Urlaub.«

»Hast du was Schönes vor?«, erkundigte sich Heleen.

»Ja. Ich habe vor, einer Frau einen Heiratsantrag zu machen.« Nach diesen Worten verließ er den Raum.

»Wie bitte? Was hat er da gesagt?« Willem Bouwen starrte dem Inspektor entgeistert nach.

Sie standen in der Küche und redeten, aber vom Wohnzimmer aus konnte Marcia nichts verstehen. Bestimmt ging es wieder um sie …

Vor Wochen war sie mit Floor noch einmal auf dem Polizeirevier gewesen, und was dort zur Sprache kam, hatte das Ende ihrer Freundschaft bedeutet. In der Zeit vor den Sommerferien war Floor ihr aus dem Weg gegangen. Sie wirkte noch stiller als sonst und in den Pausen steckte sie die Nase in ihre Bücher. Zur Schule fuhr sie nicht mehr mit dem Bus, sondern nahm das Rad oder wurde von ihrer Mutter im Auto gebracht.

Auch in den Sommerferien hatte Marcia nichts von Floor gehört. Sie hatte ein paarmal bei ihr angerufen, aber vergeblich. Auch ihre Mails blieben unbeantwortet.

Nach den Ferien erfuhr sie, dass Floor die Schule gewechselt hatte. Davon hatte sie kein Wort gesagt, was Marcia tief kränkte. Zudem tat es bitter weh, ihre beste Freundin verloren zu haben.

Ansonsten ging in der Schule alles seinen Gang; die Klassenkameraden waren nett zu ihr, sogar Naomi und ihre Clique.

Ihre Eltern standen immer noch in der Küche und redeten. Ein ungewöhnlicher Anblick, wenn man bedachte, dass sie zwei Monate zuvor kaum mehr ein Wort gewechselt hatten. Seit Marcias Mutter zweimal die Woche zur Psychotherapie ging, hatte sich einiges gebessert, auch wenn es manchmal noch Streit gab. Aber nach so kurzer Zeit konnte man keine Wunder erwarten.

Ihr Vater verbrachte die Abende nun im Wohnzimmer statt in seinem Arbeitszimmer vor dem Computer. Es sah ganz so aus, als sei »die andere Frau« vergessen. Aber ob das von Dauer war?

Zum Glück konnte Marcia in letzter Zeit wieder ein wenig besser schlafen. Nur noch selten schreckte sie nachts schweißgebadet aus einem Albtraum hoch. Sie schloss die Augen, als die Bilder wieder hochkamen.

»Schläfst du am helllichten Tag?« Ben rüttelte an ihrer Schulter.

»Ich schlafe nicht, ich denke nach«, sagte sie.

»Geht das denn mit deiner einen Hirnzelle?«

»Hau ab, du Nervensäge!« Sie stand auf und verließ das Wohnzimmer.

»Marcia, gehst du noch weg?«, fragte ihre Mutter besorgt.

»Ich geh in mein Zimmer!«

Sie schlug die Tür hinter sich zu und setzte sich aufs Bett. Hier hatte sie wenigstens ihre Ruhe. Kein lästiger Bruder, keine Eltern, die sie fortwährend im Auge behielten.

Ihr Blick fiel auf die Schranktür und blieb an der Stelle hängen, wo früher das Bild von Erik gehangen hatte. Ihre Mutter hatte das zerrissene Foto im Papierkorb gefunden und sie mit Fragen bestürmt.

Marcia hatte ihr schließlich alles erzählt und zu ihrem Erstaunen hatte sie keinerlei Vorwürfe zu hören bekommen. Im Gegenteil, ihre Mutter meinte, sie könne sie gut verstehen. Marcia konnte das nicht so recht glauben, zumal sie selbst nicht mehr wusste, was sie fühlte. Erik fehlte ihr, aber trotzdem wollte sie nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er hatte ihr mehrmals gemailt. Sie hatte die Mails gelesen und sie dann gelöscht. Er hatte geschrieben, die Polizei habe ihn in Antwerpen vernommen und er fände es schlimm, was ihr passiert sei. Die Sache habe ihm zu denken gegeben. Er habe eingesehen, dass er sie nicht anständig behandelt habe, indem er sie immer wieder aufgefordert habe, sich vor der Kamera auszuziehen. Es tue ihm leid und er würde sich gern mit ihr zu einer Aussprache treffen. Doch allein die Vorstellung, sich auf einem Bahnhof mit jemandem zu treffen, den sie kaum kannte, jagte ihr kalte Schauer über den Rücken. Was, wenn Erik nun gar nicht der war, für den er sich ausgab und das Ganze nur inszeniert hatte, weil es ihm um Sex ging?

Nachdem er keine Antwort bekam, rief er mehrmals an, erst auf ihrem Handy, dann auf dem Festnetz. Sie nahm nicht ab oder ließ sich von Ben verleugnen. Bestimmt würde er sie nach den Pornofotos fragen und was sollte sie dann sagen? Wahrscheinlich interessierten ihn ohnehin nur die Sexspielchen im Studio …

Irgendwann hatte Erik Frau Janssens an die Strippe bekommen und mit ihr ein langes Gespräch geführt. Seitdem setzte sie Marcia zu, sie solle Erik doch eine Chance geben, denn er meine es ehrlich mit ihr. Aber was, um Himmels willen, sollte sie zu ihm sagen, nach so langer Zeit?

Marcia legte die neue CD von P!nk ein, stellte auf volle Lautstärke und sang mit. Sie wollte sich von dieser Sache nicht ständig runterziehen lassen, sondern sie vergessen, zumindest für eine kleine Weile.

Sie hörte nicht, dass es klopfte. Die Tür ging auf und ihre Mutter stand auf der Schwelle. Im Spiegel sah Marcia, dass sie lächelte.

»Was ist?« Sie drehte sich mit einem Ruck um.

Ihre Mutter trat einen Schritt zur Seite und Erik stand im Türrahmen. Völlig perplex starrte Marcia ihn an. Im ersten Moment wusste sie nicht, wie sie reagieren sollte.

Er lächelte sie an.

Und dann endlich lächelte auch Marcia, das erste Mal seit Monaten.