PROLOG
Vielleicht hätte ich doch etwas anderes anziehen sollen
, dachte Marie, als sie die Straße Richtung Feuerwache 21 entlangging.
Sie sah an sich runter und strich mit den Händen über die leichte, hellblaue Sommerbluse, die sie sich extra für diesen Tag gekauft hatte. Ihre verwaschene Jeans endete kurz über den weißen Leinen-Sneakers, in die sie barfuß geschlüpft war. Maries Mitbewohnerin Heidi hatte zu diesem Anlass dringend zu einem sexy Sommerkleid geraten. Doch sexy wollte Marie an diesem Tag sicher nicht wirken. Ihre neuen Kollegen würden bestimmt noch weniger mit Vorurteilen geizen, wenn sie es darauf anlegte, dass man sie an ihrem ersten Tag gleich mit ein paar lüsternen Pfiffen begrüßte.
Sie blieb stehen, fasste ihre lange, brünette Mähne zu einem Pferdeschwanz zusammen und fixierte ihn mit einem Haargummi. Marie war nervös. Sie atmete tief ein, hielt inne und stieß die Luft wieder aus, bevor sie ihren Marsch fortsetzte. Die erste Frau auf der Schwabinger Wache 21. Das war eigentlich alles, was sie über ihren neuen Arbeitsplatz wusste.
Als sie nach links abbog, hatte sie ihr Ziel erreicht. Die feuerrote Fassadenvertäfelung blitzte in der Sonne. Sehr modern, dachte Marie. Sie war beeindruckt und eingeschüchtert
zugleich. Dagegen sah die Hauptfeuerwache, in der sie ausgebildet worden war, geradezu gemütlich aus.
Ein paar mit Helium befüllte Luftballons waren neben dem Haupteingang angebunden. Darunter ein Schild mit einem Pfeil und der Aufschrift: »ZUM FEST«. Marie folgte dem Hinweis. Mit einem Ruck zog sie die Tür auf und trat ins Foyer, dessen kahle Betonwände einen starken Kontrast zur farbenfrohen Außenfassade bildeten. An den Wänden hingen Bilder, die Feuerwehrmänner im Einsatz zeigten: Flammen, die aus zerborstenen Fenstern loderten. Männer, die von der Drehleiter aus versuchten, ein regelrechtes Feuerinferno in den Griff zu bekommen. Daneben zwei Helden in Atemschutzausrüstung, die den Wasserstrahl in eine Rauchwolke lenkten, welche die beiden jeden Moment zu verschlingen und nie wieder freizugeben drohte.
Marie war sich nicht sicher, ob diese Bilder für Gäste, die das Gebäude betraten, die richtige Message lieferten. Ein paar Kinder liefen ihr entgegen. Nach weiteren Schildern zu suchen, die ihr den Weg wiesen, erübrigte sich. Sie folgte einfach der Musik und dem Geruch nach gegrilltem Fleisch, der ins Foyer hereinzog.
Marie trat in den großen Innenhof der Wache und blinzelte. Das Wetter konnte für diese Veranstaltung nicht perfekter sein. Sie blieb stehen und scannte die Umgebung. Annähernd hundert Menschen wuselten über die hellgrauen Pflastersteine, teilweise mit Tellern bestückt, auf denen sie ihr Fleisch von einem der zwei Männer entgegennahmen, die am Grill mit ihren Zangen hantierten, als würden sie tagtäglich nichts anderes tun. Daneben zwei Boxen, aus denen Musik dröhnte, Kinder, die hektisch ihre Schuhe auszogen, um endlich die Hüpfburg zu entern, und von ihren Eltern ermahnt wurden, auch auf andere achtzugeben. Ein Mädchen weinte und blickte flehend Richtung Himmel.
Als auch Marie nach oben sah, wurde ihr klar, dass nicht ein anderes Kind der Grund für das Drama war, sondern ein Luftballon, der in einem unachtsamen Moment entkommen war. Ein sympathisch wirkender junger Mann war bereits zur Stelle und versuchte, die Stimmung der Kleinen mit einem neuen Ballon aufzuhellen. Doch Marie wusste aus ihrer eigenen Kindheit, dass ein neuer Ballon niemals den ersetzte, der sich in diesem Moment auf den Weg zum Mond begab.
Neben ein paar Stehtischen, die mit weißen Hussen überzogen waren, befanden sich etliche Bierbänke, die in zwei Reihen akribisch genau in einer Linie aufgereiht den Brennpunkt des Festes bildeten. Dort hielten sich die meisten Gäste auf. Von riesigen, weißen Sonnenschirmen geschützt ließen sie sich hier die Speisen und Getränke schmecken und betrieben derart laut Konversation, dass sich Katie Perrys Hit »Firework
«
mächtig ins Zeug legen musste, um nicht überhört zu werden.
Maries Blick schweifte über einen Tisch, an dem ein Mann mit hoher Stirn die drei Leute ihm gegenüber in Beschlag nahm. So, wie sie aussahen, handelte es sich vermutlich um Lokalpolitiker. Warum sonst sollten sie an einem Wochenende bei diesem Wetter Anzüge tragen?
Am Tisch daneben saßen fünf Jungs und zwei Frauen, die ihre Aufmerksamkeit allesamt einer einzigen Person gewidmet hatten. Marie sah flüchtig nach links und rechts, bis sie erkannte, dass diese Aufmerksamkeit ihr galt. Wie lange war sie wohl schon im Visier dieser Tischgesellschaft?
Ein großer, blonder Hüne wollte sich gerade erheben, als ein anderer gut aussehender Kerl ebenfalls aufstand und den Blonden wieder auf die Bierbank zurückdrückte. Dann blieb er hinter seinen Kumpeln stehen und sah ebenfalls zu Marie herüber. Katie Perry hatte ihr Lied gerade beendet, als der Mann auf sie deutete und laut verkündete: »Gentlemen, darf ich vorstellen: Das ist Marie, die Neue in unserem Team!«
Soll ich da jetzt hingehen?
, dachte Marie unsicher.
Die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Zielgerichtet kam der Sprecher auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen.
»Marie! Stimmt’s?«
»Ja, genau. Äh, woher …«
»Das Bild, das mit den Unterlagen geschickt wurde. Wir hatten telefoniert. Ich bin Jonah, dein neuer Dienststellenleiter!«
»Marie!«, stellte sie sich vor. »Aber das wissen Sie ja bereits.«
»Hallo, Marie, auch hier gilt unter Kollegen: Du!«
Sie nickte bestätigend. »Toll sieht es hier aus. Ist ja richtig was los.«
»Danke, das ist nett. Ja, wir haben uns alle mächtig ins Zeug gelegt. Komm, ich stell dir deine neuen Kollegen vor.«
Jonah deutete zum Tisch, von dem er gekommen war, und ließ Marie vorangehen. Die allgemeine Neugierde war schon aus ein paar Metern Entfernung zu spüren.
»Jonah, jetzt stell uns schon vor und spann uns nicht länger auf die Folter«, preschte der Blonde vor.
Auch die anderen sahen Marie erwartungsvoll an.
»Ganz ruhig, Leo. Immer mit der Ruhe«, sagte Jonah.
Aha, der Blonde hieß also schon mal Leo.
»Wie gesagt«, fuhr Jonah fort, »das ist unsere neue Kollegin. Marie Bach. Sie wird uns ab sofort tatkräftig unterstützen.«
»Hallo zusammen«, begrüßte Marie die Jungs und winkte etwas zögerlich in die Runde.
Plötzlich herrschte Stille am Tisch, alle Blicke waren auf sie gerichtet.
»Tja, also … wie Herr Berg …, also Jonah schon sagte …«, stammelte Marie.
Leo fing sich als Erster wieder. »Und du bist wirklich Feuerwehrmann? Willkommen in der Truppe. Ich nehme ja neue Kollegen gern unter meine Fittiche. Wenn du also …«
»Kollegin, bitte. Ich bin schließlich Feuerwehrfrau.«
Marie presste die Lippen aufeinander und wartete gespannt auf weitere Fragen. Etwa in der Art:
Wie wird man eigentlich Feuerwehrfrau? Trägst du im Dienst einen Rock oder eine Hose? Gibt es da, wo du herkommst, auch noch mehr Feuerwehrfrauen?
Eine der beiden Mädels am Tisch erlöste Marie und stand auf. Lächelnd streckte sie ihr die Hand entgegen. »Hallo. Ich bin Tessa, Vincents Freundin.« Sie zeigte auf den Kerl neben sich.
Auch der erhob sich jetzt. »Hallo. Vincent. Oberbrandmeister und Gruppenführer.«
»Hallo, Marie.«
»Ach«, ging Leo dazwischen, »warum denn so förmlich? Ich hab’s lieber ungezwungen. Ich bin Leonhard Rindisbacher, aber alle nennen mich Leo.«
Der gesamte Tisch lachte, und Marie verstand nicht, warum. Zumindest nicht, bis Vincent Leo den Ellbogen in die Seite rammte: »Wenn Leo ungezwungen sagt, dann meint er das auch so …«, witzelte er. Es klang aber fast wie eine Warnung.
»Jetzt fängt der Vincent schon an, rumzualbern! Dabei ist das mein Job. Ich bin hier der Witzbold. Hallo, Silas.«
»Nina.«
»Hi, ich bin Simon.«
»Ich glaube, es wird eine Weile dauern, bis ich mir alle Namen merken kann«, erklärte Marie.
»Das wird schon«, beruhigte sie Jonah. »Stimmt’s, Leute?« Allgemeines Nicken und zustimmende Laute – und Marie war froh, dass ihre neuen Kollegen anscheinend kein Problem damit hatten, eine Kollegin zu bekommen.
Sie sah zum Nebentisch und ihr Blick kreuzte unvermittelt den des Herrn mit der hohen Stirn.
Für einen Moment ließ er von den Anzugträgern ab und musterte Marie von oben bis unten. Dann räusperte er sich und setzte sein Gespräch fort.
»Komm, ich zeige dir mal die Fahrzeughalle«, schlug Jonah vor und erntete dafür von seinen Kollegen ein paar mürrische Buh-Rufe.
Marie nickte und folgte Jonah. Sie war sich aber sicher, dass die Fahrzeughalle nur ein Vorwand war. Eine Führung durch die Wache würde sicherlich an ihrem ersten Tag am neuen Arbeitsplatz im Zuge der Einweisung stattfinden. Vermutlich fand er einfach, dass eine ruhigere Umgebung guttat, um ein erstes Gespräch zu führen. Und sicher sollten sich ihre neuen Kollegen zwischenzeitlich von dem Gedanken erholen, ab sofort eine Frau in ihrer Mitte zu haben.