SECHS ZENTIMETER REICHEN
»Heidi? Essen!«, rief Marie vom Balkon aus in die Wohnung, nachdem sie die Glasschüssel mit den Nudeln auf dem quadratischen Miniklapptisch abgestellt hatte.
Der kleine Balkon, der zum Innenhof hinausging, fungierte für Heidi und Marie neben der Küche bei schönem Wetter als zentraler Treffpunkt. Hier wurden alle Ereignisse des Tages haarklein ausgetauscht. Manchmal auch bis spät in die Nacht.
»Komme!«, rief Heidi aus dem Bad und stand kurz darauf auf dem Balkon. »Was gibt’s denn Feines?«, fragte sie neugierig und steckte ihre Nase in den kleinen Topf, den Marie neben den Nudeln platziert hatte.
»Tagliatelle mit Kirschtomaten, Pinienkernen und Basilikum.«
Rechts an der Balkonbrüstung hingen Blumentöpfe mit farbenfroh blühenden Pflanzen, deren Namen weder sie noch Heidi sich merken konnten und die nach ein paar Wochen ohnehin immer eingingen. Aber die gesamte linke Seite des Balkons war für Basilikumtöpfe reserviert. Sie liebten Basilikum. Nudeln mit Tomaten-Basilikum, Basilikumpesto, Mozzarella-Hähnchen in Basilikum-Sahnesauce, Spaghetti mit Basilikum-Carbonara oder einfach nur Caprese, sprich: Tomaten und Mozzarella mit Basilikum, wenn es schnell gehen musste. Natürlich gab es Tage, an denen Marie als gelernte Köchin ihr gesamtes Know-how zum Besten gab und alle vier Herdplatten samt Backrohr zum Glühen brachte, doch die waren eher selten. Wie die meisten Köche erfreute sich Marie auch an einfachen Gerichten. Da durfte es schon mal eine Currywurst um die Ecke sein.
»Hm, lecker. Wo ist der Wein?«, sagte Heidi und schob sich am Tisch vorbei zu ihrem Platz.
»Hinter dir auf dem Boden.« Marie begann, die Nudeln in die Pasta-Teller zu verteilen.
Ausgiebigere Plaudereien bis weit nach Mitternacht waren ohne das Köpfen einer weiteren Weinflasche kaum denkbar. Meist wurden dann auch zwei Wolldecken herausgeholt, in die hineingekuschelt sie wohlig den Sternenhimmel genossen.
Marie warf einen Blick in den Hof. Eigentlich hatten sie schon seit ihrem Einzug vor, die Gitterstäbe der Brüstung blickdicht zu machen, konnten sich bisher jedoch nicht über die Farbe der Verkleidung einigen. Das Gleiche traf auf die Wahl einer Küchenlampe zu, sodass nach wie vor eine nackte Glühbirne herhalten musste. Mittlerweile hatten sie sich daran gewöhnt und interpretierten die Beleuchtung jedem Besuch als stylisches Kunstwerk des modernen Minimalismus.
»Dank’ dir«, sagte Heidi, als sie den Teller, den ihr Marie reichte, entgegennahm.
Heidi sah stets wie aus dem Ei gepellt aus. Bei ihrem Anblick musste Marie postwendend an Simon denken. Er wäre genau ihr Typ, die beiden würden sich in Sachen Eitelkeit sicher in nichts nachstehen. Heidis platinblond gefärbte kurze Haare fielen dicht über ihre Stirn, wobei jedes Mal, wenn sich ihre Augenlider bewegten, eine kleine Strähne zuckte. Sie trug einen Seitenscheitel und war immer perfekt geschminkt. Marie musste überlegen, wann sie ihre Freundin das letzte Mal ungeschminkt gesehen hatte. Etwa, als sie mit Fieber im Bett lag? Nein. Heidi hatte sie damals hüstelnd gebeten, ihr doch bitte ihr Schminktäschchen zu reichen, damit sie sich die Lippen nachziehen konnte. Vielleicht brachte aber auch ihr Beruf diesen Drang nach dem perfekten Äußeren mit sich. Heidi arbeitete als Einkäuferin im Gewandhaus am Marienplatz. Ihre großen blauen Augen wirkten durch den geschickten Einsatz von Eyeliner noch größer, was es ihr natürlich erleichterte, alle Blicke auf sich zu ziehen. Von ihrer Figur ganz zu schweigen. Marie war es von jeher ein Rätsel, wie eine Frau es schaffte, mit minimalem Einsatz diese sportliche Figur zu halten. Heidi war zwar Mitglied eines angesagten Fitnessstudios in der Leopoldstraße, doch dort ging sie eigentlich nur hin, wenn sie sich wieder einmal auf die Suche nach ihrem Mr. Right machte. Sie behauptete immer, das ganze Testosteron, das dort die Luft schwängerte, würde ihren Körper ganz von allein straffen.
»Und?«, fragte Heidi, nachdem sie einen Schluck vom Weißwein genommen hatte. »Wie war es heute an deinem neuen Arbeitsplatz?«
»Gut.«
»Sag mal, korkt der?«, schmatzte Heidi.
»Schraubverschluss.«
»Ah!« Sie nahm erneut einen Schluck und gab sich damit zufrieden. »Was genau heißt gut?«
Heidi war schon von Kindesbeinen an Maries beste Freundin und die beiden waren unzertrennlich. Obwohl ihre Interessen schon während der Schulzeit nicht unterschiedlicher sein konnten. Ihre einzige Gemeinsamkeit war die Jugendfußballmannschaft bis zur C-Jugend gewesen. Doch während Marie nach den Spielen oder dem Training mit den Jungs noch um die Häuser gezogen war, interessierte sich Heidi schon damals mehr für Wimperntusche, Lippenstift und die angesagte Mode. Dennoch verband die beiden ein Band, das bis heute unversehrt geblieben war.
»Na, gut eben. Ist eine Wache wie alle anderen auch. Nur viel moderner.«
Heidi sah zu ihrer Mitbewohnerin auf. »Wen interessiert denn die Wache? Ist denn diesmal ein schnuckeliger Firefighter für meine schüchterne, kleine Freundin dabei?«
Marie nahm sich noch etwas von den Kirschtomaten aus dem Topf. »Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich Berufliches und Privates strikt trenne. Außerdem, falls du es vergessen hast, ich bin vier Zentimeter größer als du.«
»Stimmt nicht«, konterte Marie. »Nur, wenn wir beide barfuß sind. Ansonsten bin ich immer mindestens zwei Zentimeter größer als du.«
»Keine Kunst, bei deinen High Heels.«
»Die auch der Grund sind, dass ich keine Feuerwehrfrau bin. Das macht sich einfach schlecht auf der Feuerleiter«, sagte Heidi lachend. »Außerdem bin ich immer noch der Ansicht, dass du lieber ein kleines, feines Restaurant eröffnen solltest. Dann hätten wir alle etwas davon.«
»Klar. Damit du mir einen Typen nach dem anderen ins Lokal schleppst. Außerdem wären Zehn-Zentimeter-Absätze in einer Küche ebenso hinderlich.«
»Da sieht man mal wieder, dass du keine Ahnung hast, meine liebe Marie. Zehn Zentimeter nur nach Einbruch der Dunkelheit. Am Arbeitsplatz reichen sechs Zentimeter allemal. Noch einen Schluck?«
Marie reichte ihr das leere Glas.
»Nun sag schon«, bohrte Heidi weiter, »ist denn nun was Brauchbares dabei?«
Marie lachte. War mal wieder klar, dass ihre Freundin keine Ruhe geben würde, bevor sie ihr nicht von jedem Typ auf der neuen Wache ein Phantombild ins Gehirn gezeichnet hatte. Sie schloss die Augen, um sich im Geiste die einzelnen Gesichter ins Gedächtnis zu rufen. Dann erzählte sie vom schüchternen Andi, der sich beim Anblick seiner Fotografien in ungeahnte Höhen quasselte, von Silas und Vincent, die sich alle Mühe gaben, um sie herzlich aufzunehmen. Von Leo, der sicherlich ins Beuteschema ihrer Freundin passen würde. Nicht auszudenken, wie der um Heidi herumgegockelt wäre, hätte sie ihre Freundin mit aufs Wachfest gebracht.
»Ach, und natürlich mein neuer Wachabteilungsleiter«, fuhr Marie fort. »Jonah! Ziemlich netter Typ. Sieht gut aus …«
»Ah«, kam es von Heidi. »Da haben wir es. Das Objekt deiner Begierde!«
»Quatsch. Nur, weil ich gesagt habe, dass er gut aussieht.«
»Ja, genau«, bestätigte Heidi. »Das hast du nämlich bei all den anderen nicht gesagt.«
»Gut, dann hole ich das hiermit nach. Sie sehen alle gut aus.«
»Das sagst du immer. Und warum? Weil du in jedem dieser Typen einen Lebensretter siehst. Einen, der einer alten Frau das Kätzchen aus dem Baum holt oder einem kleinen Kind nach erfolgreichem Einsatz den Helm aufsetzt. Selbst Quasimodo in Feuerwehruniform wäre für dich einer von den Chippendales.«
Marie ließ Heidi ihren Spaß. Die Freundin hatte noch nie verstanden, was sie an der Feuerwehr so toll fand. Natürlich hatte Heidi gegen Feuerwehrmänner im Allgemeinen nichts einzuwenden. Ganz im Gegenteil. Den Fotokalender einer Feuerwache aus New York, den ihr Marie vor Jahren geschenkt hatte, bewahrte sie immer noch auf.
»Nein, wirklich. Jonah sieht gut aus.«
»Na, dann ran an den Speck!«, rief Heidi mit erhobenem Glas etwas zu laut in die Nacht hinaus.
»Nichts da. Ich werde sicher nichts an meinem Arbeitsplatz anfangen. Das war schon auf der Hauptwache so, und es wird hier nicht anders sein.«
Marie trank einen Schluck, während sie intensiv von Heidi beäugt wurde.
»Was?«, fragte Marie.
»Ich sehe es in deinen Augen. Die funkeln, wenn du ›Jonah‹ sagst.«
»Blödsinn«, wehrte Marie ab. »Außerdem hat der eine total nette Freundin. Ich glaube, Nina war ihr Name. Ich habe sie auf dem Fest kennengelernt. Die beiden wirken sehr glücklich.«
»Aha, die hatten also alle ihre Freundin dabei, nur ich durfte nicht mit.«
»Heidi … einer hatte seine Freundin … nein, stimmt nicht. Dieser Vincent hatte seine auch noch dabei.«
»Siehst du.« Heidi goss den Rest der Flasche in ihr Glas.
»Wahrscheinlich deutest du das Funkeln in meinen Augen falsch. In Wirklichkeit sind es die Tränen, die mir unweigerlich kommen, wenn ich an den Wachleiter denke.«
»Welcher Wachleiter?«, hakte Heidi nach.
»Na, ein gewisser Schiller. Ein richtiger Fiesling. Der war bestimmt schon Feuerwehrmann, als es noch Handpumpen gab und mit Eimern gelöscht wurde.«
»Ach was. So schlimm wird der schon nicht sein. Wie alt ist er denn?«
»Weiß nicht. Vielleicht hundert? Zumindest seine verstaubten Ansichten sind von anno dazumal. Ich glaube, der hat es auf mich abgesehen. Und sicher nicht so, wie du dir das wahrscheinlich vorstellst. Der hat was gegen mich.«
»Jetzt hör aber auf«, schimpfte Heidi mit liebevollem Unterton. »Was haben wir dir für ein Mantra beigebracht, wenn deine Person infrage gestellt wird?«
»Aufrecht durchs Leben gehen.«
»Und was noch?«
»Erst weinen, wenn man alleine ist.«
»Und weiter?«, fragte Heidi ihre Schülerin ab.
»Ich bin hübsch – ich kann alles, was Männer können – ich bin ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft.«
»Brav!«, lobte Heidi. »Siehst du? Wie gut, dass ich auf dich aufpasse. Sonst wärst du in diesem großen München schon lange untergegangen. Nicht auszudenken, was wäre, wenn wir in Berlin wohnen würden.«
Die beiden lachten. Doch Heidi ließ niemals locker, bis sie alle Einzelheiten erfahren hatte. Sie würde sonst an Schlaflosigkeit leiden.
»Und? Waren das alle?«
»Ach ja, da gab es noch einen Simon.«
»Jetzt wird es spannend.«
»Warum das?«
»Psychologie, meine liebe Marie. Das Sahnestückchen wird immer ganz zum Schluss erwähnt. Weil es über das am meisten zu bereden gibt.«
Maries Wangen wurden warm. Bestimmt lag das am Wein.
»Na, wenn du das sagst. Jedenfalls scheint der auch ganz nett zu sein. Ein bisschen still ist er vielleicht.«
»Und? Wie sieht der aus?«
»Na, um ehrlich zu sein … wie ein Model. Und du weißt, was ich von Models halte. Ich glaube, der verbringt mehr Zeit vor dem Spiegel als du. Ihr beide wärt das perfekte Paar.«
»Bähm!«, kam es so laut aus Heidi, dass man es noch zweimal durch den Innenhof hörte. Über ihnen wurde mit Nachdruck eine Balkontür geschlossen.
»Jetzt krieg dich wieder ein«, zischte Marie.
»Ich will alles wissen. Brustumfang, Blutgruppe, Schuhgröße, Augenfarbe, Geruch, Bizepsumfang.« Heidi tat, als hätte sie einen Block aufgeschlagen und sich einen Bleistift hinter dem Ohr hervorgeholt. Erwartungsvoll sah sie Marie an. Der blieb natürlich nichts anderes übrig, als Simon genau zu beschreiben.
»Siehst du!«, Heidi fühlte sich bestätigt. »Ich hab dir doch gesagt, zieh ein Sommerkleid an. Was glaubst du, wie schnell der dir hinterhergerannt wäre. Du hast so schöne Beine!« Sie warf Marie einen schmachtenden Blick zu.
»Danke, ich verzichte. Wer weiß, vielleicht hat der auch eine Freundin.«
»Das wirst du ja wohl noch wissen, wie man das herausbekommt, oder?«
Marie blickte genervt zum Himmel und ratterte die nächsten Weisheiten, die ihr Heidi in einer der vielen vorangegangenen Nächte eingetrichtert hatte, monoton herunter:
»Gucken, ob er einen Ring trägt.«
»Und? Trägt er einen?«
»Weiß ich nicht. Ist mir auch völlig egal!«
»Marie!« Heidi kniff gefährlich die Augen zusammen.
»Ja, gut. Ich schau nach. Obwohl es mich nicht interessiert.«
»Egal«, trieb Heidi an. »Weiter?«
»Recherchieren, ob am Schlüsselbund ein süßer Anhänger baumelt, der für einen Mann untypisch ist.«
»Weiter?«
»Wenn er die Geldbörse öffnet, nachsehen, ob ein Bild drin ist.«
»Und wenn du das alles mit Nein beantworten kannst?«, wollte Heidi von Marie wissen.
»Warten, bis er was Cooles macht, und dann sagen: ›Da ist deine Freundin aber bestimmt stolz auf dich.‹«
»Sehr gut, meine kleine Einserschülerin. Ach, was bin ich doch eine klasse Lehrerin.«
»Nix da. Du verdirbst mich. Außerdem will ich den Kerl gar nicht, klar?«
»Eines Tages wirst du mir noch dankbar sein«, sagte Heidi mit erhobenem Zeigefinger.
Marie seufzte. So war Heidi eben.
Die beiden saßen noch eine Weile auf dem kleinen Balkon und Heidi rauchte eine Zigarette. Das tat sie immer, wenn ein gewisser Alkoholspiegel erreicht oder es besonders gemütlich war. An diesem Abend traf wohl beides zu, was kurz darauf zu einer zweiten Zigarette führte.
Später, nachdem die beiden wegen »null Bock auf Abspülen« das benutzte Geschirr neben der Spüle gestapelt hatten, lag Marie in ihrem Bett noch lange wach. Tausend Gedanken kreisten in ihrem Kopf. Leo, Schiller, Jonah, Simon … Immer wieder blitzten dieselben Szenen auf: Jonah, der ihren Lebenslauf schneller parat hatte als sie selbst. Schiller, wie er sie verachtend ansah. Und Simon, als er sie angelächelt hatte.