WASSER MARSCH
»Verdammt, verdammt!«, fluchte Marie, während sie mit ihrer vollgepackten Tasche die Straße Richtung Wache 21 rannte.
Gerade heute musste sie verschlafen. Darauf, dass Heidi sie weckte, konnte sie nicht zählen, da die meist erst aufstand, wenn Marie bereits außer Haus war. Hoffentlich ist Schiller noch nicht auf der Wache . Sie sah auf ihre Uhr. Scheiße! Viertel nach sieben! Gleich fing die Wachübergabe an.
Als Marie in die Fahrzeughalle trat, stand Schiller bereits zwischen den Fahrzeugen und tapste ungeduldig mit dem Fuß auf der Stelle, als er sie erblickte. Ihre Kollegen waren bereits damit beschäftigt, die Aufgaben, die ihnen zuvor zugeteilt wurden, abzuarbeiten. Dass Marie an ihrem ersten Arbeitstag zu spät erschien, blieb natürlich niemandem verborgen.
Schiller sah demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Schön, dass Sie uns noch mit Ihrer Anwesenheit beglücken. Hat es im Badezimmer etwas länger gedauert?«
Arsch , dachte Marie. Sich zu verspäten konnte schließlich jedem mal passieren. Gut, am ersten Tag war es unglücklich.
»Guten Morgen. Bitte entschuldigen Sie. Mein Wecker hat mich im Stich gelassen.«
»Erzählen Sie das den Menschen, die in einem brennenden Haus auf Hilfe warten. Die haben bestimmt großes Verständnis dafür, dass Sie sich noch im Reich der Träume befinden, während sich die Flammen auf sie zubewegen.«
»Es wird nicht wieder vorkommen«, beteuerte Marie und stellte ihre Tasche ab.
»Ihre persönliche Einsatzkleidung haben Sie dabei?«
»Ja«, bestätigte sie und ging in die Knie, um den Reißverschluss der Tasche zu öffnen, damit sich Schiller davon überzeugen konnte.
»Lassen Sie es gut sein«, erlöste er sie gnädig. »Ich denke, Sie sind in der Lage, Ihre Tasche zu packen.«
»Herr Schiller, ich kann jetzt übernehmen. Dann kann ich Frau Bach gleich die Wache zeigen«, schaltete sich Jonah dazwischen, der soeben aus dem Technikraum in die Halle trat.
Marie war erleichtert, als sie ihn sah. Auch wenn er anders auf sie wirkte als beim Wachfest am Wochenende. Was er dort an Freundlichkeit ausgestrahlt hatte, war an diesem Morgen gegen Autorität eingetauscht. Jonah sah in seinem dunkelblauen Poloshirt und der schwarzen Einsatzhose gut aus.
»Meinetwegen.« Schiller klopfte mit einer Mappe auf Jonahs Brust. »Hier ist die Auswertung der letzten Einsatzübung. Da ist noch Luft nach oben.«
»Ich sehe es mir gleich an«, versprach Jonah seinem Vorgesetzten und nahm die Mappe entgegen.
Schiller sah nochmals zu Marie, bevor er sich auf den Weg zu seinem Büro machte.
»Mann, hat der eine Laune. Gut, dass du gekommen bist, Jonah. Ich …«
»Marie, so geht das nicht«, fuhr er ihr ins Wort.
»Sorry. Ich wollte gerade erklären, dass mein Wecker …«
»Und wenn es sonst etwas war. Ich erwarte von meiner Mannschaft, dass sie pünktlich zum Dienstbeginn erscheint und nicht fast zwanzig Minuten später. Erst recht nicht am ersten Tag. Wenn so etwas schon passieren muss, dann ruf das nächste Mal wenigstens an.«
»Wird nicht wieder vorkommen«, sagte Marie kleinlaut und sah Jonah verdutzt an.
»Okay. Dann ist das geklärt. Deine Sachen hast du dabei?«
»Ja«, bestätigte Marie. »Ist alles in meiner Tasche.«
»Gut. Das hier ist dein Spind, den kannst du nachher einräumen. Dann zeige ich dir erst einmal alles, was du am Wochenende noch nicht gesehen hast. Die meisten Jungs hier kennst du ja schon vom Fest.«
»Moin moin, wie der Bayer sagt«, witzelte Silas.
»Guten Morgen.« Marie wollte nicht auf seinen Humor eingehen.
»Was war es denn?«, fragte er Jonah.
»Wecker.«
Silas drehte sich zu seinen Kollegen, die vereinzelt in der Fahrzeughalle ihre Arbeit verrichteten.
»Jungs! Wecker! Was hab ich gesagt?«
Ein Raunen schwappte von den Kollegen zu Marie herüber.
Sie sah mit fragendem Blick zu Jonah. »Was hat das zu bedeuten?«
Jonah konnte sich bei all der Ernsthaftigkeit, die er in seinem Job an den Tag legte, ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Ein paar Jungs haben gewettet, was der Grund für dein Zuspätkommen ist. Wie es aussieht, hatte Silas den richtigen Riecher.«
»Was stand zur Auswahl?«
»Auto nicht angesprungen, Schlüssel nicht gefunden, die Wache nicht gefunden und ein paar andere Sachen, die du nicht hören willst.«
»Was hast du getippt?«, fragte Marie in der Hoffnung, die Stimmung zwischen ihr und Jonah wieder auf Wachfest-Niveau zu bringen.
»Als Wachabteilungsleiter bin ich von Wetten ausgeschlossen. Komm, ich zeige dir die Wache. Lass uns im ersten Stockwerk beginnen.«
Nun war Jonah Marie bereits zum zweiten Mal schützend zur Seite gestanden. Sie rechnete es ihm hoch an, dass er bisher immer zum richtigen Zeitpunkt zur Stelle war. Jonah qualifizierte sich somit unbeabsichtigt zu der Person der Wache 21, bei der sie sich sicher fühlte. Aber deshalb wollte sie ihn noch lange nicht auf ein Podest stellen.
Während Marie unten in der Fahrzeughalle ihren Spind einräumte, ließ sie die Führung durch die Wache nochmals Revue passieren. Das Gebäude gefiel ihr. Sehr modern, und alles wirkte neu. Auch das sogenannte Frauenzimmer, das ihr zugewiesen worden war, konnte sich sehen lassen. Zwar war es der letzte Raum auf dem Flur im ersten Stock, doch sicherlich war er dafür ruhiger als die vorderen. Und sie musste ihn nicht wie die Jungs mit jemandem teilen, weil sie die einzige Frau auf der Wache war.
»Wasser marsch!«, schrie plötzlich Silas, der mit Leo um die Ecke schoss. Die beiden hatten sich mit Pumpflaschen bewaffnet und verpassten ihrem Neuzugang eine angemessene Dusche.
Dummerweise verfehlten sie ihr Ziel öfter als sie es trafen, wodurch auch das Innere von Maries Spind von dem Wasser in Mitleidenschaft gezogen wurde.
»Hey«, schrie Marie auf und nahm schützend die Hände vors Gesicht. »Hört auf!«
»Haha!«, lachte Silas, kam Maries Forderung aber sofort nach.
Leo schloss sich ihm an. Die beiden klatschten sich ab, pusteten an die Öffnungen ihrer Flaschen, als wären es rauchende Colts, und hängten sie mit den Griffen an ihre Hosentaschen.
»Willkommen im Dienst!«, begrüßte Leo Marie offiziell.
Mittlerweile waren auch die andern Jungs hinzugekommen und schlossen sich Leo an.
Marie atmete tief durch, lächelte und bedankte sich. Anscheinend war dies die Art, wie in der Wache 21 neue Kollegen begrüßt wurden. Ihr wäre es allerdings recht, wenn so schnell wie möglich der Alltag einkehren würde. Anders als Heidi stand Marie nicht gern im Mittelpunkt. Sie spürte das umso deutlicher, als sie zwischen ihren Kollegen hindurch Schiller neben der Drehleiter mit einem Mann erblickte, den sie bis dato noch nicht kennengelernt hatte.
Schiller gab sich das Schauspiel, das die Kollegen mit ihr veranstalteten, nur kurz, bevor er mürrisch dreinblickend im Führerhaus des Fahrzeugs verschwand, um was auch immer zu tun.
»Hier. Zum Trockenlegen!«, lachte Erik und warf Marie ein Handtuch zu. Dann zerstreute sich die Truppe wieder.
Nicht jedoch der Mann, der zuvor mit Schiller geredet hatte. Er ging geradewegs auf Marie zu. Doch sie kam ihm zuvor.
»Hallo. Wir kennen uns noch nicht. Ich bin Marie. Ich habe heute meinen ersten Tag auf der Wache 21.«
»Ich weiß. Günther. Günther Klein. Ich hoffe, du verdrehst den Männern hier auf der Wache nicht allzu sehr die Köpfe. Nicht, dass sie sich nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren.«
»Das ist sicherlich nicht meine Absicht.« Sie streckte ihm ihre Hand entgegen.
Günther zögerte kurz, bevor er die Geste erwiderte. »Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bevor auch wir unsere Tore für das andere Geschlecht öffnen müssen«, sagte er und grinste hämisch.
Marie war sich nicht sicher, ob er das positiv meinte oder ob er ein Verfechter von Schillers Ansichten war.
»Ja, ich war auch erstaunt, dass ich die erste Frau auf der Einundzwanzig bin. Heutzutage sind Frauen bei der Feuerwehr schließlich keine Besonderheit mehr. Auf der Hauptwache waren wir zu dritt.«
Marie bezweifelte, ob Günther ihren Worten folgte. Er musterte sie ein wenig und kniff die Augen leicht zusammen.
»Schon mal mit einem Rettungsspreizer gearbeitet?«
»Klar.«
»Sind schwer die Dinger, nicht wahr?«
»Es geht.«
Er nickte und sah sie wieder an. »Mit dem Stromaggregat kennst du dich aus?«
»Natürlich. Ist ja Teil der Ausbildung.«
Wieder nickte er. Dann atmete er tief ein. »Na ja. Dann wollen wir mal sehen, wie du dich schlägst.«
Marie beschloss, an ihrem ersten Tag nicht gleich auf Konfrontationskurs zu gehen, sondern einfach nur freundlich zu lächeln. Glücklicherweise wurde sie im selben Moment aus der unangenehmen Situation gerettet. Diesmal allerdings nicht von Jonah, sondern durch den Alarmgong, der zum Einsatz rief.
»Erstes HLF – Verkehrsunfall Dachauer Straße.«
»Ich darf doch mal!«, sagte Marie zu Günther und drückte ihn beiseite, da er vor ihrer Schutzkleidung stand.
»Los geht’s, Frau Kollegin!«, rief Vincent, der mit Silas an ihr vorbei zum Fahrzeug rannte.
Marie wunderte sich, wie die beiden schon fertig sein konnten. Sie sah wieder zu Günther, der sich aus der Fahrzeughalle entfernte. Komischer Kauz. Sie wandte sich ihrer Ausrüstung zu. Marie liebte es, wenn sie zum Einsatz gerufen wurde. Natürlich wünschte sie sich keinesfalls, dass etwas in Flammen aufging oder gar ein Unfall passierte. Doch wenn etwas geschah, war sie zur Stelle.
»Die richtigen Schuhe nicht gefunden?«, feixte Silas, als Marie ins Fahrzeug stieg.
»Ich bin genau in der Zeit«, verteidigte sich Marie und schloss die Tür.
»Lass di ned von dem Typen verarschen. Servus, mia zwei kenna uns noch gar ned. Ich bin der Bernhard. Kannst aber Bärli sagen, das tun die anderen auch.«
»Schöner Dialekt«, sagte Marie und schüttelte ihrem Wassertruppführer für den heutigen Tag die Hand.
»Das ist Schwäbisch«, erklärte Silas eine Reihe weiter vorne und erntete allgemeines Gelächter im Fahrzeug.
»Du, ich komm gleich nach vorn, Bürscherl. Dann rummst’s!« Bärli wandte sich wieder zu Marie. »Des is natürlich feinstes Oberbayrisch.«
Marie nickte. »Das hört man.«
Das Fahrzeug setzte sich mit Blaulicht und Martinshorn in Bewegung. Simon saß als Maschinist am Steuer, Erik daneben.
»Fahrzeug 21/40-1!«
»21/40-1 hört?«
»Kollision zweier Fahrzeuge Dachauer Straße Ecke Maßmannstraße. Zwei Fahrer, keine weiteren Personen. Personen scheinbar unverletzt. Auslaufende Betriebsmittel.«
»21/40-1 verstanden, Ende!«
»Also das Übliche an einem Montagmorgen«, meinte Erik.
Trotz Berufsverkehr hatte der Einsatzwagen die Unfallstelle schnell erreicht.
Als die Truppe ausstieg, bot sich ihnen ein Bild, das mittlerweile leider an der Tagesordnung war: zu viele Menschen, die um die lädierten Fahrzeuge herumstanden, ihre Handykameras auf die Unfallstelle gerichtet, um bereit zu sein, falls doch noch etwas Aufregendes passierte.
»Leut’, geht’s doch zur Seite«, ermahnte Bärli die Schaulustigen. »Ihr seht’s doch, dass wir hier hermüssen.«
Auch Marie machte sich daran, die Ansammlung aus etwa zwanzig Menschen zu zerstreuen, damit sie sich gemeinsam mit ihren Kollegen ein Bild von der Lage machen konnte.
Der Golf mit eingedrückter Schnauze, der anscheinend den Unfall verursacht hatte, war bereits auf der anderen Straßenseite mit Warnblinkanlage geparkt. Bis auf den Blechschaden sah der Wagen noch einigermaßen brauchbar aus. Das konnte man allerdings von dem Mini, der mitten auf der Kreuzung stand, nicht behaupten. Überall lagen Glassplitter herum, und die Fahrertür war komplett eingedrückt. Da das linke Vorderrad nach innen gedrückt war, konnte man annehmen, dass auch die Vorderachse dem Aufprall nicht standgehalten hatte. Eine ältere Dame saß noch immer hinter dem Steuer. Ihre Seitenscheibe fehlte komplett.
»Hallo?«, sprach Erik die Fahrerin an. »Können Sie mich verstehen?«
»Mir tut mein Bein so weh«, kam es leise aus dem Wagen.
»Alles wird gut. Wir holen Sie gleich aus dem Fahrzeug, ja?«
»Mir tut mein Bein so weh«, wiederholte die Dame erneut. Es lag auf der Hand, dass sie einen Schock hatte. Somit waren allerhöchste Vorsicht und Feingefühl gefragt.
Erik agierte sehr routiniert. Er zog vorsichtig am Türgriff, doch die Fahrertür bewegte sich keinen Millimeter. Da die Seitenfensterscheibe fehlte, griff er ins Innere des Wagens und betätigte den Öffner. Nichts.
»Ich bleibe bei Ihnen, ja?«
»Ich weiß nicht, auf einmal kam das Auto und …«
»Alles wird gut. Wie heißen Sie denn?«
Sie drehte langsam ihren Kopf zur Seite und sah Erik an. »Elisabeth. Elisabeth Schuhmann. Ich komme aus der Eifel.« Dann senkte sie ihren Kopf wieder. »Mir tut mein Bein so weh.«
»Frau Schuhmann, machen Sie sich keine Sorgen.«
Erik rief Simon zu: »Verletzte Person im Fahrzeug eingeklemmt.«
»Rettungswagen ist unterwegs!«
»Marie?«, rief Erik ihr zu.
»Ja?«
»Der Airbag hat nicht ausgelöst. Hol das Airbagsicherungssystem und bring es am Lenkrad an. Nicht, dass wir das Ding auslösen, wenn wir mit dem Spreizer an die Tür gehen.«
Marie bestätigte die Anweisung und setzte sie umgehend um, während Vincent und Silas die Hydraulikleitung verlegten und den Rettungsspreizer sowie die Schere vorbereiteten. Das alles musste schnell gehen, falls der Motor doch noch Feuer fangen würde.
»Marie, klemm die Batterie ab, wenn du den Airbag gesichert hast«, wies Erik sie weiter an. Alles lief ab wie ein Uhrwerk und der Trupp arbeitete Hand in Hand.
»Ich habe das Auto nicht gesehen. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Ich fahre seit fast fünfzig Jahren unfallfrei«, beteuerte eine aufgeregte Stimme. Sie gehörte zu einer ebenfalls älteren Dame, die plötzlich hinter Marie an der Motorhaube des verunglückten Mini stand.
»Batterie ist abgeklemmt«, bestätigte Marie, bevor sie sich umdrehte. »Sind Sie die andere Unfallteilnehmerin?«
»Das Auto war auf einmal vor mir. Wo ich doch so sorgfältig geguckt habe.«
»Beruhigen Sie sich erst einmal. Geht es Ihnen gut? Haben Sie Schmerzen?«
»Fast fünfzig Jahre …«
»Kommen Sie. Ich bringe Sie zu unserem Einsatzfahrzeug, da können Sie sich …« Im selben Moment ertönte die Sirene des herannahenden Rettungswagens. »Ah, die Kollegen. Hören Sie? Gleich werden sich die Sanitäter um Sie kümmern.«
Marie stützte die Frau und ging behutsam mit ihr auf die andere Straßenseite.
Als der Rettungswagen vor Ort war, stiegen die zwei Sanitäter aus. Einer von ihnen ging geradewegs auf Marie zu.
»Hallo«, rief sie.
»Hallo«, grüßte der Sanitäter zurück und nahm sich der Dame an.
»Diese Frau war am Unfall beteiligt. Keine sichtbaren Verletzungen, steht wahrscheinlich unter Schock«, setzte Marie den Helfer ins Bild.
»Okay, ich kümmere mich darum«, meinte er und wandte sich an die ältere Dame. »Wir gehen jetzt zum Rettungswagen, da können Sie sich hinsetzen, ja?«
Die Dame nickte. Marie lief wieder zu dem verunglückten Mini, wo bereits der andere Sanitäter mit der Frau im Fahrzeug sprach.
»Marie, klebst du die hintere Scheibe ab?«
»Verstanden«, bestätigte Marie und lief zu Simon zurück.
»Klebeband, bitte.«
Simon zog eine Schublade auf und gab Marie eine Rolle. »Ist wieder einmal alles anders, als anfangs gedacht, oder?«
»Der Alltag eines Feuerwehrmannes.«
»Oder Frau«, ergänzte Simon und lächelte sie an. »Hydraulik steht!«, rief er Silas und Vincent zu.
Marie begann, die Scheibe abzukleben, während Erik der verunglückten Dame eine Schutzbrille über die Augen zog.
»Wir werden gleich die Fahrertür öffnen, damit wir Sie aus dem Wagen holen können. Es wird ein wenig laut, aber kein Grund zur Sorge«, versuchte er sie zu beruhigen.
»Scheibe abgeklebt.« Marie gab grünes Licht.
»Frau Schuhmann, wir machen jetzt hinter Ihnen die Scheibe kaputt, haben aber zu Ihrem Schutz eine Decke gespannt. Es kann Ihnen nichts passieren!«
Die Frau nickte wieder und Erik gab Vincent ein Zeichen, der die Scheibe zum Platzen brachte. Durch das Klebeband lösten sich keine Splitter. Vincent hatte zwischenzeitlich den Rettungsspreizer parat und setzte ihn an der richtigen Stelle an.
»Hallo, ich bin Christian, Sanitäter der Einundzwanzig. Du bist neu, stimmt’s?«
»Ja, Marie.«
»Willkommen. Mein Kollege dort hinten im RTW heißt Jan.« Christian beugte sich wieder zu der Frau im Fahrzeug hinunter, um mit ihr in Kontakt zu bleiben, während Vincent und Silas mit schwerem Gerät die Fahrertür entfernten. Es dauerte nicht lange, bis die verletzte Frau aus dem Wagen befreit war und sich die Sanitäter auch um sie kümmern konnten.
»Na?«, meinte Simon, während er eine Kabeltrommel im Fahrzeug verstaute. »Da ging es ja heute an deinem ersten Tag gleich richtig zur Sache.«
»Na ja, hätte schlimmer kommen können. Aber dafür sind wir ja da. So ist der Job!«
»Auch wieder wahr. Das wäre so, als würde sich ein Koch am ersten Arbeitstag wundern, weil er gleich kochen muss.«
»Das wäre seltsam!«, lachte Marie. »Ich jedenfalls habe mich damals nicht gewundert.«
»Ach stimmt, du bist ja vom Fach«, lachte er. »Legst du noch die Bereitschaftsplane zusammen und verstaust sie?«
»Klar.«
Marie bemerkte einen kleinen Jungen, der mit seiner Mutter auf der anderen Straßenseite stand und mit großen Augen das Geschehen verfolgte. Sein linker Arm war bis zum Ellbogen eingegipst. Simon ging auf die beiden zu.
»Was hast du denn angestellt?«, fragte er.
»Er ist gestern von unserem Apfelbaum gefallen. Mein Mann und er bauen gerade ein Baumhaus«, kam die Mutter ihrem Kleinen zuvor, der seinen Blick noch immer nicht von dem Feuerwehrauto lösen konnte.
»Wie sieht’s aus, kleiner Mann? Magst dich mal reinsetzen?«
Der Junge sah mit noch größeren Augen seine Mutter fragend an.
»Na, geh schon. Ich warte hier.« Sie übergab ihren Nachwuchs Simon.
Marie hatte den Rettungsspreizer im Wagen verstaut und zog einen der seitlichen Rollladen zu.
»Na, dann setz dich mal rein, junger Mann. Willst du später auch Feuerwehrmann werden?«, fragte Simon den Jungen, der eifrig auf den Fahrersitz kraxelte. Der war allerdings viel zu aufgeregt und reagierte nicht auf die Frage.
Als Simon sich zu dem Jungen nach oben reckte, um ihm die Schalter zu erklären, bemerkte Marie, dass ihm etwas aus der Hosentasche fiel.
Sie machte zwei Schritte, bückte sich und hob es auf. Es war Simons Schlüsselbund, bestehend aus drei metallenen Schlüsseln und einem Autoschlüssel. Ein kleiner Plüschbär mit großen Augen, der freudig grinste und eine rot-weiß karierte Fliege um den Hals trug, baumelte ebenfalls daran. Umgehend kam ihr Heidi in den Sinn.
»Simon, du hast was verloren.«
Er drehte sich zu ihr. »Ui, nett von dir.« Als er nach dem Schlüsselbund griff, berührten sich ihre Hände. Maries Finger begannen zu kribbeln. Sie hielt den Bund noch eine kurze Weile fest.
»Lass das ja nicht Schiller erfahren, dass du private Sachen zum Einsatz mitnimmst.« Sie ließ los.
Was bewog wohl einen Kerl wie Simon dazu, einen Plüschbären mit sich herumzutragen?
»Ach, gegen einen Schlüsselbund wird er wohl nichts einzuwenden haben.«
Er wandte sich wieder dem Kleinen zu, der wie wild am Lenkrad zerrte.
Es fiel Marie schwer, sich von diesem Anblick zu lösen, und nach einer Weile bemerkte sie, dass sie die ganze Zeit dämlich vor sich hingrinste.