ENTE
KUNG
-BAO TRIFFT WEISSEN
TIGER
Als Marie am nächsten Morgen die Wache verließ, war sie froh, dass die Nacht ruhig verlaufen war. So konnte sie sich ein bisschen an das Neue und ihre Kollegen gewöhnen und hatte obendrein eine Mütze voll Schlaf bekommen, was ihr an ihrem freien Tag sehr entgegenkam.
Für gewöhnlich holte Marie nach einer Vierundzwanzig-Stunden-Schicht zu Hause erst mal den Schlaf nach, der ihr durch nächtliche Einsätze verloren gegangen war.
Doch an diesem Morgen entschied sie sich dazu, etwas durch die Straßen Schwabings zu schlendern. Klar hatten bis auf ein paar Bäckereien die Läden der Stadt um diese Uhrzeit noch nicht geöffnet, doch für einen Schaufensterbummel war Marie immer zu haben.
Sie zog sich ihre leichte Windjacke über, da es an diesem Frühsommertag noch ein wenig zu frisch war, um kurzärmelig durch die Straßen zu laufen. Kurz überlegte sie, die U-Bahn zu nehmen, entschied sich jedoch dann dazu, zu Fuß die lange Georgenstraße hinunterzulaufen, bis diese in die Leopoldstraße mündete, die sie weiter bis zur Münchner Freiheit entlangschlenderte.
Dort angekommen betrat sie zielstrebig ihr Lieblingscafé und freute sich, dass ihr Stammplatz am Fenster frei war. Er bot ihr eine prima Sicht auf Passanten. Für Heidi war das immer das wichtigste Kriterium. Nicht, dass am Ende ihr Traumtyp vorbeilief und sie ihn verpasste. Marie hingegen schätzte besonders den Blick auf den Monaco Franze. Sie liebte die Statue von Helmut Fischer, dessen zufriedener Gesichtsausdruck eine sehr beruhigende Wirkung auf sie ausübte. Vor allem an Tagen, wenn sie Kummer hatte oder sonstige Widrigkeiten des Lebens sie bedrückten. Dann schaute sie zum »ewigen Stenz«, der ihr mit seinem Lächeln tröstend zu verstehen gab: »Passt scho, Spatzl!«
»Heidi? Guten Morgen. Ich bin’s.« Marie nahm ihr Handy ans andere Ohr und wechselte umgehend in den Flüsterton, als sie von einem Ehepaar mahnende Blicke erntete.
»Hast du dich wieder ausgesperrt?«
»Heidi, wann habe ich mich zuletzt ausgesperrt?«
»Ach, stimmt. Das war ja ich. Was gibt’s?«
»Ich wollte dich zur Feier des Tages zum Mittagessen einladen. Lust?« Marie bedankte sich nickend bei der Bedienung, die ihr den Latte Macchiato brachte.
»Was feiern wir denn?«, fragte Heidi nach.
»Meinen ersten Einsatz in der neuen Wache und die erste Vierundzwanzig-Stunden-Schicht.«
Heidi hielt kurz inne.
»Heidi? Bist du noch dran?«
»Du wurdest flachgelegt. Gib es zu!«
»Spinnst du?«, schoss es aus Marie heraus, was das Ehepaar erneut motivierte, böse zu gucken. Sie winkte entschuldigend zum Nebentisch und drehte sich mit dem Gesicht zum Fenster. »Du, ich bin da nicht in irgendeiner Jugendherberge beim Schülerausflug. Ich bin an meinem Arbeitsplatz«, flüsterte sie erneut.
»Na und! Das eine schließt doch das andere nicht aus.«
Marie ließ Heidis letzte Äußerung unkommentiert.
»Also? Viertel nach zwölf bei Hop Sin?«
»Wie wär’s mit halb eins? Schließlich liegt dein Lieblingsrestaurant nicht hier ums Eck. Und ob ich um diese Uhrzeit einen feschen Burschen finde, der mich mit der Rikscha bis vor die Tür chauffiert, steht in den Sternen. Du und dein Hop Sin. Da lernst du nie einen brauchbaren Typen kennen. All you can eat für neun Euro. Damit sendest du ganz falsche Signale aus. Ein Mann, den du dort kennenlernst, wird dich niemals ins Mangostin ausführen. Also, bis später.«
Marie schmunzelte. Typisch Heidi. Redete ohne Unterbrechung und beendet dann blitzschnell das Gespräch. Es war ihr ein Rätsel, wie sie zwei sich hatten finden können. Noch viel mehr, dass sie so harmonisch zusammenwohnten. Unterschiedlicher als sie beide konnten zwei Menschen nicht sein. Aber vielleicht war es genau das, was sie verband. Jede wollte die andere von ihrem Lebensstil überzeugen. Sozusagen ein Projekt auf Lebenszeit. Heidi trieb Marie an, mehr aus sich herauszugehen, dafür holte Marie ihre Freundin wieder auf den Teppich, wenn sie zu sehr abhob. »Du tust mir gut. Mit dir bin ich so herrlich normal«, meinte Heidi dann immer. Was auch immer sie damit meinte.
»Sorry. Hat ein bisschen länger gedauert«, entschuldigte sich Heidi, als sie um Viertel vor eins bei Hop Sin an Maries Tisch kam.
»Kein Problem. Bin auch gerade erst gekommen. Stressig heute?«
»Der blanke Horror! Stell dir vor, die neue Herbstkollektion, von der ich dir erzählt habe, alles in Größe sechsunddreißig. Ich meine, schön, dass die glauben, unsere Kundschaft bestünde
einzig und allein aus Models. Die Realität sieht jedoch anders aus.«
»Lasst euch doch einfach neu beliefern«, meinte Marie, während sie nebenbei in der Speisekarte stöberte.
»Machen wir auch. Das Dumme ist nur, dass wir die ganze Kollektion im Prospekt haben, der gestern bei so ziemlich jedem zweiten Münchner Haushalt in den Briefkasten gewandert ist. War heute schon große Krisenstimmung, das kann ich dir sagen. Mein Chef ist an die Decke gegangen wie ein Sektkorken. Und? Was hast du zum Weltfrieden beizutragen?« Heidi hängte ihren Blazer über die Stuhllehne und schnappte sich eine Speisekarte vom unbesetzten Nebentisch.
»Ich hatte meinen ersten Einsatz mit den neuen Kollegen!«
»Toll. Waren die Unfallopfer auch so begeistert von deiner Premiere?«
»Du weißt genau, wie ich das meine. Außerdem ist zum Glück niemand lebensgefährlich verletzt gewesen. Zwei ältere Damen sind mit ihren Autos zusammengekracht.«
Marie wollte gerade den Unfallhergang detaillierter erläutern, als im Restaurant plötzlich das Licht und die Musik ausfielen. Ein Raunen ging durch den Raum, als hätte es ein Beben der Stärke zehn gegeben. Baihu, der Besitzer des Hop Sin, rannte schnurstracks hinter den Tresen, öffnete den Sicherungskasten und legte den Kippschalter der Hauptsicherung wieder um.
»Nix passiert!«, rief er seinen Gästen zu und nahm die Bestellung am Nebentisch auf.
»Schon wieder?«, bemerkte Marie und klappte ihre Speisekarte zu.
»Was isst du denn?«, fragte Heidi, während sie wild umherblätterte.
»Vorne weg die Nummer fünf und dann die Zweiunddreißig.«
»Geht es noch genauer?«, motzte Heidi.
»Wan-Tan-Suppe und dann die Ente nach Kung-Bao-Art.«
Heidi blätterte zu den Hauptspeisen. Sie schüttelte den Kopf. »Also Ente nach Ratskeller-Art mit Blaukraut und Knödel wäre mir lieber.«
»Heidi! Nicht so laut.«
»Hast recht. Knödel zu Mittag …, die liegen immer so schwer im Magen.«
Der Restaurantbesitzer trat an ihren Tisch und zückte seinen Block.
»Oh, Marie, schön, dass Sie mich wieder einmal besuchen. Und Sie haben Ihre hübsche Freundin mitgebracht«, bemerkte er mit seinem charmanten Akzent.
»Hallo, Baihu. Ist schon wieder die Sicherung rausgesprungen?«, fragte Marie mit mahnendem Blick.
»Ich habe es meinem Vermieter erst letzte Woche wieder gesagt. Er meinte, ich soll die zwei Herde nicht gleichzeitig laufen lassen.«
»Sie müssen da wirklich dranbleiben, Baihu«, sagte Marie eindringlicher. »Wie schnell ist bei den alten Leitungen etwas passiert!«
»Ja, ja, ich weiß. Aber was soll man machen. Haben Sie schon gewählt?«
Marie gab ihre Bestellung auf, Heidi schloss sich an. Das tat sie meist. Nicht etwa, weil sie ihrer besten Freundin, die nebenbei Köchin gelernt hat, blind vertraute. Manchmal war sie einfach nur zu faul, sich zu entscheiden.
»Jetzt erzähl mal«, fragte Heidi nach. »Darfst du morgen wiederkommen?«
»Ich wurde sogar gelobt.«
»Ach was. Von dem Dings, wie hieß er noch gleich? Goethe?«
»Schiller! Ach was. Der hat mich auf dem Kieker. Auf ein Lob von dem kann ich lang warten. Das ist sicher. Dafür hat sich Simon schützend vor mich gestellt. Er hat auch gesagt, dass
ich mich prima geschlagen hätte. Und die anderen ebenfalls.« Zur Abwechslung redete jetzt Marie einmal wie ein Wasserfall und erzählte Heidi haarklein von ihrem ersten gemeinsamen Einsatz mit den Jungs der Wache 21. »Und dann hättest du Simon sehen sollen, wie der mit einem kleinen Jungen umgegangen ist.«
»War der auch am Unfall beteiligt?«
»Nein. Er stand mit seiner Mutter am Straßenrand. Und dann hat Simon ihn ins Feuerwehrauto mitgenommen und ihm seinen Helm aufgesetzt. Du hättest sehen sollen, was der für große Augen bekommen hat. Das war so süß! …«
Heidi sah ihre Freundin wortlos an und ließ sie weiter drauflosquasseln. Marie bemerkte nicht einmal, dass Baihu mittlerweile die Getränke gebracht hatte.
»… und dann hat er dem Schiller gesagt, dass ich eine tolle Idee hatte. Wir sollten auf LEDs umsteigen. Das hat mir natürlich den Arsch gerettet. Wäre ziemlich peinlich gewesen, wenn der Wachleiter mitbekommen hätte, über was wir in Wirklichkeit gesprochen hatten. Und dann hat er …«
»Marie?«, ging Heidi endlich dazwischen. »Würdest du bitte damit aufhören, jeden zweiten Satz mit ›und dann‹ zu beginnen? Du hörst dich an wie eine Zwölfjährige, die auf einer Party Händchen gehalten hat. Außerdem bist du sowas von verknallt.«
Marie trank von ihrer Cola und stellte das Glas ab. Sie ließ ihre Zunge über die Lippen gleiten und schmatzte einmal. »Hm? Hast du was gesagt?«, tat sie unbeteiligt.
»Ich sagte, du bist verknallt.«
»Ach, Quatsch!« Marie nahm noch einen Schluck.
»Hat er eine Freundin?«
»Nein!«
»Und woher weißt du das?«, bohrte Heidi weiter und kniff die Augen zusammen.
Marie spielte mit der Serviette. Es gefiel ihr nicht, wie sich das Gespräch entwickelte.
»Woher ich das weiß?«, fragte Marie, um Zeit zu schinden. Mit dem Zeigefinger schob sie ihre Gabel vor sich auf dem Tisch hin und her. »Na, ich hab deine Frage- und Beobachtungstaktiken eingesetzt. Die im Übrigen stark verbesserungswürdig sind.«
»Siehst du? Das hättest du nicht getan, wenn du nicht deine Chancen ausloten wolltest.«
Baihu brachte die Suppen. »So! Zweimal die Fünf. Bitte schön! Guten Appe…« Da flog erneut die Sicherung raus. Diesmal schrien einige Gäste sogar auf. Nicht auszudenken, wie hysterisch die reagiert hätten, wenn wirklich etwas Schlimmes passiert wäre.
»Och nein!«, jammerte Baihu und lief hinter den Tresen. Ein paar Sekunden später ertönte wieder asiatische Flötenmusik und der Koch zeigte dem Besitzer den Daumen. Was so viel bedeutete wie: Läuft!
»Guten Appetit«, wünschte Marie.
»Danke, dir auch. Und was soll an meinen Taktiken auszusetzen sein? Die sind seit Jahren erprobt und immer wieder optimiert worden und mittlerweile nahezu perfekt.«
Marie wischte sich ihren Mund mit der Serviette ab. »Außer, wenn das Objekt einen süßen Schlüsselanhänger von einem fremden Kind bekommen hat, dessen Mama er gerettet hat.«
Heidi hielt kurz inne und überlegte. »Na, das ist klar. Das muss man wissen. Dafür sind ja die anderen Fragen gedacht, damit du einen solchen Sonderfall ausschließen kannst. Du musst einfach die Reihenfolge ändern. Verstehst du?« Heidi löffelte weiter ihre Suppe.
Marie schmunzelte und ließ die Freundin in dem Glauben, dass ihre Beobachtungsgabe unantastbar war. Heidi hätte
niemals zugegeben, dass auch sie sich, was Männer betraf, irren konnte. In solchen Fällen trieb sie das Gespräch voran.
»Und? Wie wollen wir jetzt vorgehen?«, fragte Heidi und schob die leere Suppenschüssel ein wenig Richtung Tischmitte.
»Was heißt da
wir
? Außerdem stimmt das überhaupt nicht, dass ich verknallt bin. Er ist einfach nett und sympathisch.«
»Ha!«, lachte Heidi. »Und ich bin noch Jungfrau!«
»So, die Damen. Hat es geschmeckt?«, fragte Baihu und nahm die Schüsseln vom Tisch.«
»Wie immer, Baihu.«
»Soll dann auch gleich die Ente geflogen kommen oder wollen Sie noch ein bisschen warten?«
»Nein, kann weitergehen«, entschied Marie aus Rücksicht auf ihre Freundin, die nicht wie sie für den Rest des Tages frei hatte.
»Kommt sofort.« Er verschwand in der Küche.
»Was bedeutet dieser Name noch mal?«, wollte Heidi von Marie wissen.
»Was? Baihu?«
»Ja. Haben die Namen in manchen Ländern nicht immer irgendwie eine Bedeutung?«
»Er hat es mir mal gesagt. Ich glaube, weißer oder grauer Tiger.«
»Glaubst du, Heidi bedeutet auch irgendwas?«
Marie lachte und beugte sich nach vorne. »Ja. Die Männerflüsterin.«
Heidi nickte. »Das gefällt mir. Marie bedeutet wahrscheinlich: die Schüchterne.«
Auch während der Ente ließ Heidi nicht locker und wollte unbedingt einen Schlachtplan entwickeln, um ihre Freundin endlich in festen Händen zu wissen.
Marie war sich jedoch sicher, dass es Heidi hauptsächlich darum ging, aus ihrem Liebesleben eine Challenge zu machen.
Eine halbe Stunde und einen weiteren Stromausfall später trennten sich ihre Wege. Schließlich hatte Heidi alle Hände voll zu tun, damit Münchens Damen mit Konfektionsgröße achtunddreißig bis zweiundvierzig bald die neue Kollektion auf die Hüften bekamen.
Marie hingegen schlenderte noch ein wenig durch die Innenstadt. Gedanken kreisten durch ihren Kopf und blieben bei Simon hängen. Was, wenn Heidi recht hatte? Hatte sie sich verknallt? So eine Spontanverliebtheit war ihr noch nie passiert. Nein, das wüsste sie schließlich. Oder? Simon war nett, und wenn sie an seine warme, tiefe Stimme dachte, fühlte sie eine wohlige Wärme in sich aufsteigen. Er strahlte Männlichkeit und Sicherheit aus. Es fühlte sich gut an. Nein. Das durfte nicht sein! Immer schön Privates und Berufliches trennen. So, wie sie das schon immer gehalten hatte. Und Simon würde bestimmt ganz genauso denken. Außerdem, ein Kerl wie er, gut gebaut, markantes Aussehen … was würde der ausgerechnet von ihr wollen? Immerhin war er Brandinspektor und Gruppenführer. Was will so einer von einer einfachen Brandmeisterin?
Oje.
Marie lachte innerlich. Wenn Heidi sie in diesem Augenblick gehört hätte … »Ich bin hübsch – ich kann alles, was auch Männer können – ich bin ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft«, flüsterte sie vor sich hin, während sie sich in einem Schaufenster ansah. Dann strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht, lächelte ihr Spiegelbild an und ging nach Hause.