ZUCKER MÖCHTE KARAMELLISIEREN
Damit Marie bei ihrer zweiten Schicht auf der Wache 21 nicht das gleiche Missgeschick passierte, hatte sie sich diesmal den Wecker und zusätzlich das Handy gestellt. Schiller suchte bestimmt nach Gründen, um sie weiter zu piesacken, und den Gefallen wollte sie ihm auf keinen Fall tun. Zwanzig Minuten vor ihrem Dienstantritt traf sie bereits auf der Wache ein, was Jonah positiv auffiel. Nach der Wachübergabe räumte sie ihre Ausrüstung in den Spind, als plötzlich Leo neben ihr stand.
»Na? Schon eingelebt?«
»Ah, Leo. Heute ist erst der zweite Tag. Von daher …«
»Ach, bis Ende der Woche kommt es dir bestimmt so vor, als wärst du nie woanders gewesen.«
»Wenn du das sagst?«
Wortlos beobachtete er, wie Marie ein paar Poloshirts ins oberste Fach legte. Sie lächelte ihn freundlich an. Er zurück.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte Marie.
»Ich frage mich, ob wir nicht mal was essen gehen sollten? Nur so zur Eingewöhnung, versteht sich.« Sein Schmunzeln zeigte, dass Eingewöhnung nicht der wirkliche Grund war. Das war eindeutig eine Einladung zu einem Date. Um ihn nicht vor den Kopf zu stoßen, zog Marie es vor, sich dumm zu stellen.
»Macht ihr das öfter, du und deine Kollegen?«
»Klar«, flunkerte er. »Wir Feuerwehrmänner müssen wie alle anderen Sterblichen auch etwas essen und trinken.«
»Du weißt, wie ich das meine. Wer kommt denn noch alles mit?«
Leo schien das Spiel zu gefallen. Er lehnte sich grinsend an Maries Spind und verschränkte die Arme so, dass sich seine Bizepse wie von allein in Szene setzten.
»Fürs Erste dachte ich, dass vielleicht wir beide in eine Bar gehen und uns besser kennenlernen.«
Simon hängte drei Spinde weiter seine Einsatzhose an den Haken. Leo ließ sich durch ihn nicht beirren.
»Ich kenne da einen Spitzenladen. Die spielen dort super Musik, und die Cocktails sind auch nicht schlecht.«
»Ach ja?« Marie tat absichtlich interessiert.
Simon kam dazu und blieb neben Leo stehen. »Hilfst du mir nachher mit den Pressluftatmern?«
»Klar.«
»Natürlich erst, wenn du hier fertig bist«, fügte Simon an und blickte zu Marie. Dann ging er.
Am liebsten wäre sie ihm gefolgt, um sich selbst anzubieten, ihm behilflich zu sein.
»Also? Wie sieht es aus mit Essen?«, bohrte Leo weiter.
»Du, Leo, sei mir bitte nicht böse, aber ich trenne lieber Privates und Beruf. Damit bin ich bisher prima gefahren. Aber danke für das Angebot.«
Leo steckte seine Hände in die Hosentaschen und zuckte mit den Schultern.
»Ist okay. Deine Entscheidung. Aber …«, er kam Marie etwas näher und schmunzelte, »so schnell gebe ich nicht auf.«
Das befürchte ich auch , dachte Marie, behielt es aber für sich. Stattdessen lächelte sie ihren Kollegen freundlich an und kümmerte sich weiter um ihre Ausrüstung. Leo zog ab. Als sich Marie umdrehte, erschrak sie.
»Mensch! Bernhard! Was machst du denn hier!«
»Ganz ruhig, Madl. Niemand tut hier was. Übrigens: Beim Leo musst a bisserl aufpassen«, flüsterte er.
»Ach ja?«
»Ja, des kannst’ mir glaub’n. Der sammelt die Madln wie unser Günther Eisenbahnen.«
»Okay, ich werde es mir merken. Danke für den Tipp.«
»Immer wieda gern.«
Marie wurmte es, dass Simon Leos Aktion mitbekommen hatte. Keinesfalls wollte sie vor ihm den Anschein erwecken, sie würde den Kollegen schöne Augen machen. Klar fühlte es sich gut an, wenn sie Simons Aufmerksamkeit hatte. Wenn die allerdings durch einen Womanizer wie Leo ausgelöst wurde, sendete das ganz falsche Signale.
»Münchner Löschzug – Dachstuhlbrand in der Magdalenenstraße. «
Marie sprang in ihren Anzug, rannte zu dem Löschfahrzeug, für das sie an diesem Tag eingeteilt war, und stellte erfreut fest, dass Simon heute am Steuer saß.
Eine Minute später rückte der gesamte Trupp zum Einsatzort aus. Allen voran Jonah im Einsatzleitwagen, den heute Bärli steuerte.
»Fährst du heute schon wieder?«, wollte Günther von Simon wissen.
»Ich hab den Einsatzplan nicht gemacht.«
»Dachstuhlbrand in einem Abrisshaus. Wie es aussieht, sind keine Personen im Gebäude«, gab Günther im Fahrzeug weiter. Dann reichte er einen Ordner zu ihnen nach hinten. »Vincent, guckst du mal ins Hydrantenbuch – Magdalenenstraße?«
Vincent nahm den Ordner entgegen und begann zu blättern. Ein paar Sekunden später gab er nach vorne weiter, wo in der Straße sich der Anschluss befand. Marie setzte ihre Atemschutzmaske auf und zog die Haube über den Kopf. Adrenalin schoss durch ihren Körper.
»Scheiße!«, rief Simon. »Guckt euch das an!«
Er zeigte durch die Windschutzscheibe. Etwa dreihundert Meter von ihnen entfernt war eine pechschwarze Rauchsäule zu erkennen, die sich ihren Weg in den Himmel bahnte, um sich dort in alle Richtungen zu verteilen.
»Zentrale, hier 21/40-1, erhöhe auf zweiten Alarm«, gab Günther an Wolfgang, den Zentralisten in der Leitstelle, durch.
» 21/40-1, erhöhen auf zweiten Alarm, verstanden, Ende
» Drehleiter vor und in Stellung bringen «, wies Günther nun die Kollegen an.
Simon drosselte das Tempo, damit die Kollegen freie Fahrt hatten.
» Drehleiter überholt und wird in Stellung gebracht, Ende. «
Auch Erik hatte seine Atemschutzmaske schon über das Gesicht gezogen und war bereit, mit Marie zusammen den Angriffstrupp zu bilden.
» Staffelführer von 21/40-1 kommen! «
»21/40-1 hört?«
» Zweiter Alarm positiv. Unterstützung durch Wache 14 ist unterwegs. Kommen! «, kam es von Wolfgang aus der Zentrale.
» 21/40-1 verstanden, Ende. «
Augenblicke später verließ der Trupp das Fahrzeug.
Marie sah zum Dachstuhl des brennenden Hauses. Flammen züngelten bereits durch das Gebälk hindurch. Es fehlten so viele Dachziegel, dass es bereits zur Hälfte freigelegt war. Gute Voraussetzungen für die Drehleiter, um das Feuer von außen anzugreifen.
Das Haus, dessen Fassade mit diversen Graffiti besprüht war, hatte die besten Jahre längst hinter sich und war zum Abriss freigegeben.
In den Fensterrahmen waren keine Scheiben mehr, was dem Feuer im Dachgeschoss zugutekam. Es schien, als würden die Flammen durch jede erdenkliche Öffnung des Hauses Sauerstoff inhalieren, um ihn gleich darauf in verbrauchter Form nach oben wieder freizugeben.
»Angriffstrupp zur Brandbekämpfung über Eingangstür vor. Wassertrupp zur Löschwasserbereitstellung und anschließender Brandbekämpfung von außen vor«, kam es von Jonah.
Nacheinander bestätigten sie seine Anweisungen, während Simon bereits den Verteiler legte.
»Zum Einsatz vor!«, gab Jonah das Okay.
Marie schnappte sich den Schlauchkorb und machte sich mit Erik auf den Weg zur Eingangstür, aus der ebenfalls die ersten Rauchschwaden quollen. Erik ging voran. Im Hintergrund trafen bereits die Kollegen der Wache 14 ein und brachten von der anderen Seite des Gebäudes die zweite Drehleiter in Stellung.
Dies war einer der Momente, in denen Marie sich ganz sicher war, jederzeit wieder den Kochlöffel gegen einen Feuerwehrschlauch einzutauschen. Denn eine Bouillabaisse zuzubereiten war längst nicht so entscheidend, wie einen ausgewachsenen Hausbrand zu löschen.
»Gute Arbeit, Leute«, sagte Jonah eine knappe Stunde später. »Andi, geh doch gleich noch mal mit der Wärmebildkamera rein. Nicht, dass wir noch Temperatur zwischen den Wänden haben und die Bude sich in einer Stunde noch mal entzündet. Pass aber auf. Das Haus war vor dem Brand schon einsturzgefährdet. Und bitte nicht ohne Atemschutz.«
Andreas bestätigte die Anweisung und holte die Kamera aus dem Fahrzeug. Leo begleitete ihn.
Marie wunderte sich, dass Jonah nochmals einen ihrer Kollegen ins Haus schickte. Schließlich hatte auch sie immer noch ihren Anzug an und die Ausrüstung griffbereit. Und die Wärmebildkamera war nun wirklich kein Hexenwerk. Wie sich jedoch schnell herausstellte, war die Unterhaltung zwischen Jonah und Günther viel interessanter als mögliche Hitzefelder im Gebäude.
Jonah nahm seinen Helm ab, wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und stellte sich neben Günther.
»Und? Was meinst du?«, fragte er.
Günther zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht ein Kurzschluss.«
»Negativ. Der Strom war abgeklemmt, es wohnt niemand hier, Obdachlose können wir auch ausschießen, Gewitter gab es keins …«
Die beiden sahen wieder zum Haus. Marie ebenfalls.
»Der Brand ist eindeutig vom Dachboden ausgegangen«, sagte Jonah. »Siehst du dort oben die Abplatzungen und die extremen Rußspuren am Fensterstock? Unten ist nichts zu sehen. Ziemlich unwahrscheinlich, dass jemand eine Zigarette oder sonst was unten durch die offene Tür in den Hausflur geschnippt hat. Ich sage dir, da war jemand drinnen«, vermutete er und wischte sich mit seinem Ärmel über das Gesicht.
Günther runzelte die Stirn. »Denkst du, dass …«
»Dass da jemand nachgeholfen hat? Ja, davon können wir wohl ausgehen«, bestätigte Jonah. »Lass uns damit aber erst einmal hinterm Berg halten. Nicht, dass die Presse Wind davon bekommt und die Sache wieder so aufbauscht. Das braucht kein Mensch und versetzt die Leute nur in Panik.«
»Stimmt«, pflichtete Günther ihm bei.
»Da war doch bestimmt unser Dings … na, unser Brandstifter am Werk!«, schrie Silas eine Sekunde später über den gesamten Platz, sodass es sicher auch Wolfgang auf der Wache noch hören konnte.
Jonah kniff die Augen zusammen.
Günther sah ihn an. »Vielleicht wäre es angebracht, ein paar Einzelgespräche bezüglich Vermutungen über die Brandursache in der Öffentlichkeit zu führen.«
Jonah nickte.
Marie schmunzelte über Silas’ Händchen für unpassende Momente und warf erneut einen Blick auf das Gebäude. Wer sollte Interesse daran haben, ein Abbruchhaus in Brand zu stecken?
Nachdem sie zwei Stunden später die Brandstätte für sicher befunden hatten, traten sie den Weg zurück auf die Wache an.
»Günther?« Jonah stand mit einer Digitalkamera neben dem Einsatzleitwagen.
»Was ist denn?«
»Schau mal – Andi hat am Dachboden noch ein paar Fotos gemacht. Siehst du, was ich sehe?«
Günther nahm ihm die Kamera ab und klickte sich durch die Bilder. »Was meinst du?«
Jonah deutete auf das Display. »Hier an der Wand – starke Abbranderscheinungen.« Er klickte ein Bild weiter. »Und hier, lokale Einbrennungen im Boden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dort der Brandherd war.«
Günther guckte sich die Bilder nochmals etwas genauer an. »Ehrlich gesagt, sehe ich das nicht.«
»Darf ich mal?«, bat Marie neugierig und streckte ihre Hand nach der Kamera aus.
»Und was hoffst du, hier zu erkennen?«, fragte Günther und umklammerte die Kamera mit beiden Händen.
»Ich interessiere mich einfach«, konterte Marie.
Doch Günther dachte nicht daran, Maries Wunsch zu entsprechen.
»Nix da. Für Unterrichtsstunden ist jetzt keine Zeit.« Er wand sich erneut an Jonah. »Ich gehe noch mal rein und mache mir selbst ein Bild davon. Kommst du mit?«
Jonah war der Drang, weitere Spuren zu finden, deutlich von den Augen abzulesen.
»Klar. Ich hole mir nur schnell eine Maske.«
»Tu das. Die Bilder bekommt in jedem Fall der Brandursachenermittler. Ich bin mir sicher, dass der das genauso sieht. Feuer lügt nicht!«
Dann eben nicht , ärgerte sich Marie im Stillen und sah den beiden Männern hinterher. Sie wunderte sich über Günthers Worte. War nicht jeder Brand aufs Neue so etwas wie eine Unterrichtsstunde?
Die meisten Kollegen hatten bereits ihre Schutzanzüge ausgezogen und in Säcken verstaut. So auch Marie, die als letzte Handlung am Brandort das seitliche Rollo des Fahrzeugs verschloss.
»Günther? Wir können dann!«, rief Simon ihm zu.
»Fahrt ihr vor, ich sehe mir das mit Jonah noch mal an. Ich fahr bei ihm mit!«
Simon nickte zustimmend.
»Also los, aufsitzen! Es geht heimwärts!«, rief er unüberhörbar und kletterte auf seinen Fahrersitz.
Wenn Günther zurückblieb – warum sollte Marie nicht die Chance nutzen, die Fahrt aus der Sicht eines Staffelführers zu erleben?
»Darf ich?«, sagte sie und grinste den Maschinisten des Tages in der Führerkabine an.
»Klar. Von mir aus!«
Im Nu war Marie auf dem Beifahrersitz, hatte die Tür zugezogen und sich angeschnallt.
Simon sah sie an. »Also in puncto Geschwindigkeit macht dir beim Zurückfahren schon mal keiner was vor.«
Marie lachte. »Ja, zurückfahren kann ich besonders gut.«
»Wird da vorne etwa geflirtet?«, kam es von Leo, der Maries Verhalten offenbar sofort durchschaute.
»Ruhe auf den billigen Plätzen!«, rief Simon nach hinten und startete den Motor.
»Du fährst gern, oder?«
Simon sah flüchtig zu Marie, bevor er sich versicherte, dass die Straße von links frei war. Dann gab er Gas. »Wie kommst du darauf?«
»Du warst doch Montag schon am Steuer.«
»Jetzt fängst du auch noch an. Das ist einfach hin und wieder so. Manchmal passt es halt nicht anders. Trotzdem hast du recht, wenn es nach mir ginge, könnte ich jeden Tag am Steuer sitzen, klar. Wir können aber gern den Platz tauschen, wenn du …«
Marie schüttelte schnell den Kopf. »Leider habe ich noch keine Gruppenführerausbildung. Und ich muss gestehen: Ich bin besser auf dem Bike!«
»Gut zu wissen«, meinte Simon. Er verringerte eine Querstraße weiter die Geschwindigkeit, wechselte auf die Linksabbiegespur und kam an einer roten Ampel zum Stehen.
Rechts neben ihnen rollten die Kollegen der anderen Wache bis zur Haltelinie. Der Fahrer grüßte per Handzeichen. Marie winkte lächelnd.
»Ah, die Kollegen«, sagte Silas und gab Leo mit seinem Ellbogen einen Ruck.
»Ach ja«, bestätigte Leo, als er den Fahrer des anderen Fahrzeugs erkannte. »Ein bekanntes Gesicht.«
Der Fahrer gab Marie ein Zeichen, sie solle die Scheibe herunterlassen. Während Marie den Wippschalter am Türinneren betätigte, öffnete sich auch das Fenster des Nebenmannes. Marie sah kurz zu Simon, der blickte jedoch aus seinem Seitenfenster.
»Nein! Nicht!«, kam es von Silas aus dem Fond.
»O-oh!«, schloss sich Leo an.
»Jetzt passiert’s! Schnell, mach das Fenster wieder hoch!«, rief Erik.
Marie drehte sich zu den Kollegen um. »Was passiert?«
»Hallo!«, tönte es aus dem Fahrzeug nebenan.
Marie drehte den Kopf wieder zurück und sah hinüber.
»Ja, bitte?«, fragte sie freundlich und lächelte den süßen Blonden mit dem Wuschelkopf an.
»Wir haben noch ein bisschen Wasser übrig!«
Bevor sie sich versah, schwappte eine komplette Ladung Wasser aus einem Eimer zu ihnen in die Führerkabine und traf Marie mit voller Wucht.
Auch Simon hatte seinen Teil abbekommen. Die Ampel schaltete auf Grün und die Kollegen fuhren unter lautem Gegröle weiter.
»Was war denn das?«, rief Marie mit geschlossenen Augen und zusammengezogenem Oberkörper.
Das Wasser tropfte von Simons Haaren, Maries Kinn und von den Sonnenblenden.
»Das war die Retourkutsche für Silas’ Späßchen, die er hin und wieder mit den Kollegen von der Vierzehn veranstaltet. Dumm nur, dass wir das nun abbekommen haben.« Simon drehte sich um und warf einen bösen Blick nach hinten.
Silas bemühte sich sichtlich, nicht laut loszulachen. Doch so sehr er sich auch anstrengte, es gelang ihm nicht. Sein Temperament ging mit ihm durch und er prustete ohne Rücksicht auf seine vor Nässe triefenden Kollegen los.
»Hey, sorry. Das ist etwas blöd gelaufen!«, wieherte er und steckte auch die anderen trocken gebliebenen Kollegen mit seinen Lachsalven an.
Hinter ihnen hupte es, weil sie immer noch standen.
»Ja, ja! Ich fahr’ ja schon«, rief Simon genervt, legte den Gang ein und trat aufs Gas. »Warte nur, bis wir auf der Wache sind«, drohte er Silas, der sich immer noch nicht eingekriegt hatte.
»Was kann ich denn dafür, wenn Marie das Fenster …« Er unterbrach sich erneut und ließ seiner Schadenfreude freien Lauf.
Marie trug es mit Fassung. Sie kannte die diversen Späße und Streiche von der Hauptwache. Natürlich legte sie nicht sonderlich viel Wert darauf, mit tropfenden Haaren und nassem Poloshirt zurück zur Wache zu fahren, doch sie wollte kein Weichei sein. Sie arbeitete schließlich daran, von ihren neuen Kollegen als vollwertiges Mitglied anerkannt zu werden. Wenn das bedeutete, sich an einer Ampel eine Dusche einzufangen, dann sollte es ihr nur recht sein.
Simon hingegen wirkte säuerlich. Ihn wurmte es offenbar, dass er die Retourkutsche für Silas hatte einstecken müssen.
Kaum stand das Löschfahrzeug an seiner Position in der Fahrzeughalle, stellte Simon den Motor ab und sprang aus dem Fahrzeug.
Wohlweislich versuchte auch Silas, möglichst schnell den Wagen zu verlassen. Doch Simon war bereits um das HLF gelaufen, um Silas auf der anderen Seite in Empfang zu nehmen.
Der gerade noch so fröhliche Grieche wurde von seinem durchnässten Kollegen aus dem Wagen gezerrt und in den Schwitzkasten genommen. Wie es aussah, wollte Simon ihn zu den Duschen zerren.
Marie musste bei dem Anblick lachen. Und natürlich eilte niemand Silas zu Hilfe. Zwar wussten die anderen bisher noch nicht, was vorgefallen war. Aber offenbar war jedem Einzelnen klar: Silas hatte es auf jeden Fall verdient.
»Was ist denn hier los!«, schrie plötzlich jemand durch die Halle.
Umgehend ließ Simon von seinem Opfer ab, das immer noch grinste. Mittlerweile allerdings mit hochrotem Kopf.
Schiller ging mit schnellen Schritten auf die beiden zu. »Sind wir hier im Affenstall?«
»Wir haben nur herumgealbert«, sagte Simon beschwichtigend.
Silas presste die Lippen aufeinander, doch sein Gesichtsausdruck sprach Bände.
»Papadopu…dings, ist ja klar, dass Sie wieder beteiligt sind.« Schiller sah zu Simon. »Und wie sehen Sie überhaupt aus?«
»Ach«, winkte Simon ab, »da war noch ein wenig Druck auf dem Schlauch, als ich ihn von der Kupplung gelöst habe.«
»Das dürfte Ihnen mit Ihrer Berufserfahrung aber nicht mehr passieren. Wo ist denn der Bergmann?«, wollte der Wachleiter von der Mannschaft wissen.
Marie hielt sich zurück. Sie zog es bis auf Weiteres vor, so weit wie möglich aus Schillers Fokus zu rücken.
Silas hingegen hatte sich entschieden, nun auch aktiv an der Konversation teilzunehmen. »Jonah ist mit dem Günther noch vor Ort. Die wollen nachsehen, ob der Feuerteu…«
»Sie prüfen, von wo aus sich das Feuer ausgebreitet hat und ob es eventuell Brandstiftung war«, ging Leo dazwischen. Es war allgemein bekannt, dass Schiller etwas gegen die Glorifizierung eines gemeinen Brandstifters hatte. Deshalb war er auch strikt dagegen, dieser Person einen Namen zu geben.
»Er soll umgehend zu mir ins Büro kommen, wenn er da ist«, wies er seine Leute an. »Und Sie, Leitner, sehen zu, dass Sie trocken werden. Nicht, dass Sie sich noch einen Schnupfen holen.« Er ging.
Marie sah Simon an und lächelte. Obwohl sich Simon bemühte, das Lächeln zu erwidern, stand ihm der Ärger nach wie vor ins Gesicht geschrieben.
Am liebsten wäre Marie zu ihm gegangen und hätte gesagt: »Komm, mach dir nichts draus.«
Doch sie wusste mittlerweile, dass echte Kerle nicht getröstet werden wollten. Erst recht nicht von einer Frau. Zumindest nicht in aller Öffentlichkeit. Das hätte seine Wut unter Umständen nur noch verstärkt.
Aus dem Grund beschloss sie, den Vorteil zu nutzen, den sie als einzige Frau unter lauter Männern auf einer Wache hatte: Sie ging als Erste unter die Dusche. Solange sie sich dort aufhielt, waren die Waschräume für die Jungs nämlich Sperrgebiet.
»Na Jungs, was gibt es Feines?«, fragte Marie, als sie in die Küche kam.
Ein paar ihrer Kollegen waren mit Zwiebelschneiden oder sonstigen Hilfsarbeiten beschäftigt. Wie Jonah ihr erklärt hatte, gab es auf dieser Feuerwache die Tradition: Gekocht und gegessen wird gemeinsam. Auch Simon war schon da und ließ Wasser in einen Topf laufen.
»Lorenz, jetzt musst du dich warm anziehen. Die Konkurrenz ist im Anmarsch!«, rief Leo ihm zu.
Lorenz unterbrach seine Schnippelei und drehte sich zur Tür. Leo kam Marie entgegen und schob sie sanft in seine Richtung.
»Kennt ihr beide euch eigentlich schon?«
»Ja«, meinte Marie. »Wie haben kurz auf dem Wachfest gequatscht, stimmt’s?«
Lorenz nickte.
»Und wieso jetzt Konkurrenz?«, fragte er den blonden Hünen.
»Na, weil Marie ein Profi ist, was das Kochen angeht.«
Marie wiegte den Kopf hin und her. »Na ja, Profi würde ich nicht sagen. Ich habe es einfach nur gelernt.«
Leo stellte sich neben Lorenz und legte seinen Arm um dessen Schultern. »Marie, du musst nämlich wissen, dass dieser junge Mann hier der zweite Schuhbeck ist. Stimmt’s, Lorenz?«
»Na, nun übertreib mal nicht.« Es war Lorenz sichtlich unangenehm.
»Doch!«, untermauerte Leo seine Laudatio. »Stell mal dein Licht nicht unter den Dings, … na …«
»Scheffel!«
»Danke, Vincent. Stell mal dein Licht da nicht drunter.« Er sah wieder zu Marie. »Er kocht nämlich für sein Leben gern. Und gut. Das muss man ihm lassen.«
Marie blickte in die Runde. An den Gesichtern konnte sie erkennen, dass nicht jeder im Raum Leos Meinung war.
Das blieb auch Lorenz nicht verborgen. »Was denn?«, fragte er in die Runde. »Ihr sagt doch immer, dass es euch schmeckt.«
»Ja, stimmt ja auch. Aber die komische Thai-Suppe letztens, die war nix. Das hast du auch selber gemerkt«, stellte Vincent fest.
»Ihr habt gesagt, ihr esst gern würzig«, verteidigte sich der Hobbykoch.
»Würzig?«, lachte Vincent. »Ich hatte vier Stunden später immer noch einen Schweißausbruch. Simon, sag doch du auch mal was.«
»Jaaa …« Er zierte sich etwas. »Stimmt schon. Manchmal ist es eher suboptimal.«
»Wann denn noch?« Lorenz wurde zickig.
»Letztens, die Bolognese, was soll ich sagen …, die war irgendwie fad und wässrig«, kam es von Simon. Er versuchte jedoch, durch ein Augenzwinkern in Lorenz’ Richtung seine Kritik abzufedern.
»Das gibt’s doch gar nicht, ihr habt sie alle gelobt. Deshalb wollte ich sie heute noch mal kochen.«
»Marie, sag doch mal – wie machst du eine Bolognese?«, stellte Vincent die Frage aller Fragen.
Plötzlich wurde es still in der Küche und alle Augen richteten sich auf sie.
Marie war es ein bisschen unangenehm. Sie stand ohnehin schon nicht so gern im Mittelpunkt, und dann sollte sie auch noch den bisherigen Chef de Cuisine verbessern. Nervös blickte sie in die Runde. Auch Simons Augen waren erwartungsvoll auf sie gerichtet, was ihren Puls nicht eben beruhigte.
»Zuallererst ziehe ich Zwiebeln und Knoblauch ab und …«
»Wie – abziehen?« Lorenz hakte nach.
»Sorry, ich meinte natürlich schälen. Dann putze ich Möhren und Sellerie und schneide alles in kleine Würfel.«
Lorenz massierte sein Kinn. »Sellerie.«
»Äh, ja.«
»In die Bolognese?«
»Ja, der kommt da rein.«
»Ich mag Sellerie«, warf Silas ein. »Hab fast immer was in meiner Tupperbox dabei.«
Marie lächelte und fuhr fort. »Dann dünste ich das Gemüse, stelle es beiseite und brate das Hack scharf an.«
»Nein, bitte«, ging Vincent dazwischen. »Nicht wieder scharf.«
»Ich meinte damit, dass ich es mit großer Hitze anbrate. Dann gebe ich eine Prise Zucker und Tomatenmark dazu.«
»Aber erst, nachdem du das Fleisch mit der Brühe abgelöscht hast«, tat Lorenz allwissend.
»Um Gottes willen, bloß nicht! Dann bilden sich ja durch das Tomatenmark keine weiteren Aromen. Ganz zu schweigen von dem Zucker. Der möchte schließlich karamellisieren.«
»Siehst du«, meinte Vincent, »der Zucker möchte karamellisieren.«
»Macht mir nichts aus«, sagte Lorenz schnippisch.
»Na, dann lass ihn doch.«
Irgendwie tat Marie Lorenz leid. Bestimmt war er ein guter Koch und seine Kollegen schätzten sicherlich sein Können. Andererseits sah es für Marie so aus, als würden ihre Kollegen versuchen, ihr den Einstig in die zusammengewachsene Kameradschaft auf der Wache leichter zu machen. Das war nett, sollte aber nicht auf Lorenz’ Kosten gehen.
Simon schmunzelte, was Marie nicht verborgen blieb. Auch wenn er sich nicht aktiv am Gespräch beteiligte – so hatte sie dennoch seine volle Aufmerksamkeit. Und da Marie keinen Ausweg aus dieser Situation sah und selbst Hunger hatte, fasste sie einen Entschluss.
»Bevor ich lange um den heißen Brei rede – wer mag Bolognese?« Alle Hände gingen nach oben. »Silas, gibst du uns etwas von deinem Sellerie ab?«
»Klar. Ich hole ihn.«
»Genau so muss das schmecken!« Leo schob den leeren Teller quer über den Tisch von sich weg und lehnte sich zurück. »Das war wirklich lecker!«
»Ach«, wiegelte Marie ab. »Das war doch nur eine Bolognese.«
»Aber was für eine«, lobte auch Vincent. Er drehte sich zu Lorenz um. »Hast du gesehen? Der Zucker will karadings…, na …«
»Karamellisieren«, half ihm Marie und warf die Serviette in ihren Teller.
»Und die Röstaromen«, schwärmte Silas, als wüste er genau, wovon er sprach. Natürlich zielte diese allgemeine Schwärmerei auf Lorenz ab.
»Jetzt noch einen Schuss Rotwein hinein und die Soße wäre perfekt gewesen.«
»Dann fährt es sich auch pfundig mit der Drehleiter durch Schwabing, gell, Erik?«, lachend klopfte Bernhard seinem Kollegen auf die Schulter.
»Marie, vielleicht kochst du ja ab jetzt öfter, und Lorenz guckt dir ein bisschen auf die Finger.« Leo grinste.
Lorenz versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, doch die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Marie wurde sich in diesem Augenblick bewusst, dass sie sich, ohne selbst etwas dafür zu können, bei Lorenz unbeliebt gemacht hatte. Sie war die Neue, die ihm seinen Platz als Koch streitig gemacht hatte. Und obwohl die dummen Sprüche von den Kollegen kamen, war sie in seinen Augen sicher der ausschlaggebende Punkt gewesen.
Sie lugte zu Simon, der sich soeben den Mund mit der Serviette abputzte. Sie rechnete es ihm hoch an, dass er sich den Lobpreisungen seiner Kollegen nicht anschloss. Vielleicht hing ihm aber noch etwas anderes nach. Immerhin hatte er an diesem Tag schon eine unfreiwillige Dusche abbekommen.
Simon legte seine Ellbogen auf dem Tisch ab und ließ den Blick über die Runde schweifen. Dann blickte er zu Marie, die ihn immer noch ansah, als säßen die beiden allein an einem Tisch in einem gemütlichen Restaurant bei Kerzenschein. So in Gedanken versunken, wie Marie war, fiel ihr erst nach einer Weile auf, dass auch er sie ins Visier genommen hatte. Es war ihr peinlich und sie atmete tief ein, um ihr Unbehagen unter Kontrolle zu bringen. Sie lächelte verlegen. Von Simon jedoch kam keine Regung. Glücklicherweise waren die anderen so mit sich selbst und mit Lorenz beschäftigt, dass keinem auffiel, was zwischen ihnen beiden vorging. Marie war wie gefangen in seinen grünbraunen Augen und hätte sich gern aus seinem Blick befreit. Doch es ging nicht.
Dann endlich wurde sie von Simon erlöst. Er sah auf seinen leeren Teller und dann wieder zu ihr, kniff die Augen zusammen und nickte ein paarmal so, als wollte er sagen: Das Essen war erste Sahne. Dann stand er auf, schnappte sich ein paar Teller und räumte sie in den Geschirrspüler.