MÄNNER MIT HORMONSCHWANKUNGEN
»Na, Marie, was hast du an deinem freien Tag gemacht?«, fragte Erik, als sie ihm zwei Tage später bei den Spinden begegnete.
»Guten Morgen, Erik. Nichts Besonderes. Das Übliche. Wäsche gewaschen, geschlafen, eingekauft …, ziemlich unspektakulär. Und du?«
»Ach, so ähnlich wie bei dir. Bis auf das Einkaufen und Wäschewaschen.«
Beide lachten.
Erik beugte sich vor und schnürte die Schuhbänder. »Und? Gefällt es dir bei uns?«, wollte er wissen.
»Ja«, sagte Marie knapp und öffnete ihren Spind.
Erik sah kurz zu ihr auf, dann widmete er sich wieder seinen Schuhen. »Das klingt ja sehr enthusiastisch.«
»Na, was soll ich sonst sagen?«
»Dass das die beste Wache ist, die du dir vorstellen kannst, und wir die besten Kollegen sind, die du jemals hattest.«
»Okay. Das hier ist die beste Wache mit den tollsten Kollegen, die ich mir je hätte erträumen können«, wiederholte Marie schmachtend und fasste sich dabei an die Brust.
»Zu übertrieben, zu spät«, meinte Erik und stand auf. »Ich frage dich irgendwann noch mal. Dann …«
Der Alarmgong unterbrach die Unterhaltung.
»Erstes HLF – Technische Hilfeleistung in der Theresienstraße« , tönte es gleich darauf aus dem Lautsprecher.
Marie sprang in ihre Einsatzhose, die mit den Stiefeln verbunden war, und streifte sich die Jacke über. Dann schnappte sie sich ihren Helm und lief zum Einsatzfahrzeug.
Sobald der Wagen voll besetzt war, startete Bärli den Motor. Auf dem Weg zur Straße las Erik das Einsatzfax vor.
»Kind steckt mit dem Zeigefinger in einem Schultisch fest.«
»Wie ist das denn passiert?«, fragte Andreas aus der hintersten Reihe.
»Das werden wir hoffentlich gleich erfahren«, gab Erik zurück.
»So, da samma«, sagte Bärli, als er vor der Schule hielt. »Oiso, da hätt’ ma fast z’ Fuaß gehn kenna.«
»Stimmt«, meinte Erik. »Dann wollen wir das Kerlchen mal suchen.« Er öffnete die Beifahrertür und stieg aus.
Eine aufgeregte Lehrerin wartete bereits ungeduldig und lief auf Erik zu.
»Da sind Sie ja.«
»Guten Tag. Steiner. Wo ist denn der Bub?«
»Ich bin Frau Barth-Petersen. Bitte folgen Sie mir.«
Erik drehte sich zu Marie und den Kollegen und wies sie an, ihm zu folgen.
»So was Dummes. Des hätt’ ich mia nur zu gern ang’schaut«, kam es von Bärli fast etwas bockig.
»Tja, Bärli, einer muss schließlich beim Bock bleiben«, sagte Silas und klopfte ihm auf die Schulter.
Ein Einsatz, bei dem Kinder beteiligt waren, bedeutete in den meisten Fällen größte Anspannung. Zum einen natürlich, weil es sich um Kinder handelte, zum anderen, weil die Menschen um sie herum meist doppelt so panisch reagierten wie bei einem Erwachsenen in Not. In Kindergärten und Schulen zeigte sich das Phänomen bei den zuständigen Aufsichtspersonen. So auch bei Frau Barth-Petersen, die mit ihrem ockerfarbenen Rock und der braunen Bluse auf ihren flachen Sandalen nervös vorantippelte, als stünden Menschenleben auf dem Spiel.
Die anderen Kinder, die Marie und ihren Kollegen über den Weg liefen, sahen die Situation mit ganz anderen Augen. Sie fanden es offenbar extrem cool, dass ein Mitschüler von ihnen in Not geraten war und dadurch die heldenhaften uniformierten Retter mit dem großen roten Auto ihre Stätte aufgesucht hatten. Da gab es wenigstens mal was zu erzählen zu Hause, und vielleicht durfte man ja auch mit denen sprechen und erzählen, dass man später unbedingt auch zur Feuerwehr gehen wollte.
»So, da ist er«, sagte Frau Barth-Petersen mit zittriger Stimme. Sie öffnete die Tür zum Klassenzimmer, und gefühlt dreißig Augenpaare starrten die Eintretenden an. In der vordersten Bankreihe kniete eine andere Lehrerin bei dem verunglückten Jungen und redete beruhigend auf ihn ein.
»Schau, da sind sie schon. Jetzt brauchst du keine Angst mehr zu haben.«
»Aber, Frau Stetter, ich hab doch keine Angst.« Der Junge klang, als hätte er diesen Satz bereits zum zehnten Mal wiederholt. Er saß äußerst cool im Schneidersitz auf dem Boden. Sein Finger steckte in einem Loch im Tischbein fest.
Marie hatte das Klassenzimmer hinter Erik und Simon betreten und sofort bemerkt, dass sämtliche Kinder ihre Handys zückten.
»Neeeeein!«, ermahnte Frau Barth-Petersen die Klasse. »Auf dem Schulgelände müssen die Handys in der Schultasche bleiben. Das wisst ihr.«
Ein langes, mürrisches Raunen zog durch das Klassenzimmer und die 4b steckte ihre Smartphones wieder zurück in die mit bunten Motiven bedruckten Ranzen und Rucksäcke.
Ein Mädchen aus der zweiten Reihe streckte verbissen die Hand in die Luft und schnippte aufgeregt. Ihre Zöpfe, deren Haargummis wie Kirschen aussahen, wippten dazu im Takt.
»Ja, Frederike, was ist denn?«, sagte Frau Barth-Petersen.
»Nehmen die Feuerwehrmänner dem Felix jetzt den Finger ab?«
»Iiiiih!«, kam es vom Rest der Klasse.
Marie sah zu Simon, der sich das Lachen verkneifen musste. Die Frage war originell, auch wenn Felix das bestimmt anders sah.
»Nein, Frederike«, antwortete die Lehrerin sehr besonnen und erteilte dem Jungen neben Frederike, der sich ebenfalls wie wild meldete, das Wort.
»Muss der Felix jetzt sterben?«
»Nein, Moritz, der Felix muss jetzt nur ganz tapfer sein und …«
»Äh, Frau Barth-Peter…«
»Petersen. Barth-Petersen.«
»Ja, genau«, fuhr Erik fort, »vielleicht ist es das Beste, wenn die Klassenkameraden von Felix den Raum verlassen.« Er ging näher an sie heran und flüsterte. »Das ist bestimmt entspannter für alle Beteiligten.«
Frau Barth-Petersen sah sich im Klassenzimmer um. »Ja, Sie haben recht.«
Sie klatschte zweimal in die Hände und wies die Kinder an, sich paarweise in einer Reihe aufzustellen, um dann gemeinsam in die Aula zu gehen. Selbstredend, dass es Protestrufe unter den Viertklässlern hagelte. Endlich passierte mal was, und dann durften sie nicht dabei sein.
»Schau, Simon«, sagte Marie und beugte sich etwas zu ihm rüber, »hier reift die Generation heran, die später auf der Autobahn einen Stau verursacht, um ein Foto vom Unfall zu schießen.«
Simon sah sie an. »Da liegst du höchstwahrscheinlich gar nicht verkehrt.«
Marie freute sich, dass es ihr gelungen war, mit dem kleinen Wortwechsel eine Verbindung zu Simon herzustellen. Vielleicht konnte sie ihm jetzt auch gleich noch zeigen, dass mehr in ihr steckte, als hübsch auszusehen und die Kollegen um sich zu scharen.
Sie klopfte Erik auf die Schulter. »Darf ich?« Sie zeigte auf den kleinen Felix.
»Klar. Wenn du willst.« Erik machte einen Schritt zur Seite. Es schien ihm ganz gelegen zu kommen, Marie den Vortritt zu lassen.
Marie ging an den Tisch, kniete sich neben dem Jungen auf den Boden und nahm ihren Helm ab.
»Hallo. Ich heiße Marie. Und du?«
»Felix.« Er sah nach wie vor äußerst gelassen aus.
»Und wie ist das passiert?«, fragte sie vorsichtig.
Doch Felix kam nicht dazu, selbst zu antworten.
»Er hat dort an dem Tischgestell rumgefingert und seinen Finger in das Quer-Rohr gesteckt. Da scheint die Abdeckkappe zu fehlen.« Marie deutete Frau Barth-Petersen durch Gesten an, sich etwas zurückzunehmen, und sah wieder zu dem Jungen.
»Hast du schon ganz leicht versucht, deinen Finger herauszuziehen?«
»Auch schon ganz fest«, bekundete Felix und zuckte mit den Schultern.
»Darf ich mir den Finger mal ansehen?«
Felix nickte. Marie streckte sich ein wenig, um sich das Malheur etwas genauer anzusehen. Der Finger war mittlerweile etwas angeschwollen, was es dem Jungen offenbar unmöglich machte, sich selbst zu befreien.
»Ich bin gleich wieder bei dir, ja?«, sagte sie mit ruhiger Stimme und lächelte dabei.
Er nickte abermals.
Marie stand auf und ging zu Simon und Erik. »Der ist angeschwollen. Ich glaube, dass Herunterkühlen oder ein Tropfen Öl auch wenig bringen werden. Was meint ihr?«
»Ich würde sagen: Schweres Gerät und den Tisch zerkleinern, damit wir das Rohr alleine haben. So kommen wir da mit dem Ringschneider oder der Kegelfräse nie dran«, meinte Simon.
Erik nickte zustimmend und wies Silas an, mit Andreas zusammen den Winkelschleifer und die Kreissäge aus dem Fahrzeug zu holen. Eine Rettungsdecke und diverses Kleinwerkzeug verstanden sich von selbst.
»Schon mal gemacht?«, fragte Marie.
Simon wiegte den Kopf. »Na, so ähnlich. »Da hat ein Mädchen mit dem Kopf in einem Treppengeländer festgesteckt.«
Marie kniete sich wieder zu Felix und informierte ihn darüber, was gleich passieren würde. Beruhigende Worte waren überflüssig, da der Junge immer noch mit stoischer Miene auf dem Boden saß und die ganze Aktion bestimmt spannender fand als den Unterricht.
Frau Barth-Petersen trat hinter Marie. »Wir haben schon versucht, die Mutter von Felix zu erreichen. Sie ist gerade bei einem wichtigen Geschäftstermin, versucht aber, so schnell wie möglich da zu sein.«
Silas kam mit Andi zurück. Die beiden montierten fachgerecht die Tischplatte ab, sodass nur noch das Gestell aus verschweißten Rohren mit Felix verbunden war. Marie schützte den Bub mit der Rettungsdecke und Simon startete die Säge.
»Muss das wirklich sein?«, rief ihm die Lehrerin zu.
»Wenn der Kleine nicht den Rest seines Lebens mit einem Tisch am Finger umherlaufen will, wird uns nichts anderes übrig bleiben.« Simon klappte sein Visier herunter und begann, das Gestell zu zersägen.
Marie war beeindruckt, wie fachmännisch und ruhig er mit dem Werkzeug hantierte. Sie musste sich zusammenreißen und auf den Jungen konzentrieren. Am liebsten hätte sie alles um sich herum ausgeblendet und Simon dabei zugesehen, wie er Stück für Stück den Tisch auseinandernahm. Etwas später hing nur noch ein Stück Rohr an Felix’ Finger und Marie befreite den Jungen von der Decke.
»Na, jetzt hast du es gleich geschafft, was?«
Felix zeigte sich von Maries Worten ziemlich unbeeindruckt, so, als wäre er enttäuscht, dass alles doch so reibungslos verlief und das Ende des Abenteuers in Sicht war.
»Und nun?«, fragte Simon Erik. »Mit dem Ringschneider kann ich da nicht ran.«
»Ich würde sagen, wir bringen den Kleinen in die Notaufnahme. Die verfügen bestimmt über eine erfolgreiche Methode, die Schwellung am Finger zu reduzieren.«
Felix zuckte. Das blieb auch Marie nicht verborgen. Trotz seiner vielleicht zehn Jahre war er schlau genug, dass die Wörter Notaufnahme und Schwellung auf eines hinauslaufen konnten: Spritze!
»Ich versuche es noch mal«, sagte er etwas panisch. Er packte das Rohr mit der anderen Hand, zog wie wild daran – und voilà, der Finger war befreit.
»Na, Gott sei Dank!« Frau Barth-Petersen fiel hörbar ein Stein vom Herzen. Sie faltete die Hände und sah zur Zimmerdecke.
Selbstverständlich war auch bei Marie und ihren Kollegen die Freude groß, auch wenn die Sache einen leichten Beigeschmack hatte.
Marie begutachtete den Finger des Jungen, der zwar etwas gerötet, sonst jedoch völlig normal aussah.
»Ich glaube, dann können wir uns das Krankenhaus sparen, was?«, sagte Marie und lächelte ihn an.
Felix ging auf diese Vermutung nicht näher ein. Er hatte andere Pläne. »Seid ihr mit dem Feuerwehrauto da?«, fragte er keck und sah abwechselnd zu Marie und Simon.
»Klar«, meinte Simon. »Magst mal gucken?«
Der Junge nickte aufgeregt.
»Aber nur unter einer Bedingung.« Simon hob mahnend seinen Finger. »Du darfst nie wieder deinen Finger in so ein Rohr stecken, ja?«
Felix willigte ein und griff schleunigst nach seinem Schulranzen. »Kommt die Frau auch mit?«, fragte er und zeigte zu Marie.
»Klar«, meinte sie und bat Frau Barth-Petersen, die Mutter, wenn sie auftauchte, zum Einsatzwagen zu schicken.
»Geht nur«, meinte Erik. »Wir räumen hier zusammen.«
Simon gab Felix seinen Helm, den er sich natürlich umgehend aufsetzte und stolz durch den Schulflur die Treppe hinunter in die Aula marschierte, wo er von seinen Mitschülern voller Bewunderung beäugt wurde. Marie fand es witzig, wie der kleine Körper mit dem viel zu großen Helm vor ihr herlief.
»Sieht er nicht cool aus?«, fragte sie Simon.
»Wie eine dieser Wackelfiguren fürs Armaturenbrett«, lachte Simon. »Aber irgendwas ist doch faul an der ganzen Sache, oder?«
»Na ja, sein Finger war schon etwas zu schnell aus dem Rohr. Glaubst du, der hat das Ganze simuliert?«
Simon zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Möglich wärs …«
Marie stellte sich vor, wie sie mit Simon bei Kerzenschein und einer Flasche Merlot am Abend weiter über diese Sache sprechen könnte. Doch Bernhards kräftige Stimme holte sie schnell wieder in die Realität zurück.
»Ja, wen habt’s ihr mia denn da mitgebracht? Habt’s ihr einen neuen Kollegen von der Schui abgeworben, oder was?« Bernhard streckte dem Jungen seine Hand entgegen. »Ich bin da Bärli. Und wia hoasd nacha du?«
»Felix«, kam es nur knapp. Er sah Bernhard überhaupt nicht an, da er nur Augen für den Einsatzwagen hatte.
»Magst dich mal hineinsetzen?«, fragte Simon und öffnete ihm die Fahrertür.
Felix fackelte nicht lange und kletterte auf den Fahrersitz. »Komm, rutsch in die Mitte«, wies Simon ihn an und setzte sich neben ihn.
Marie ergriff die Gelegenheit, huschte auf den Beifahrersitz und schloss die Tür. Felix sah sich alles ganz genau an. Das heißt, so gut es ging, da ihm der Helm immer wieder ins Gesicht rutschte. Marie befreite ihn davon.
»Und?«, fragte Simon, »Hast du es dir so vorgestellt?«
»Boah, cool!«, schwärmte der Junge und rüttelte am Lenkrad.
»Jetzt kommt ja gleich deine Mama, dann gibt es bestimmt ein Eis, weil du so tapfer warst, oder?«, fragte Marie vorsichtig.
»Nö. Die fährt mich bestimmt gleich in den Hort. Die Mama muss nämlich ganz viel arbeiten. Was ist denn das für ein Knopf?«
»Der gehört zum Funkgerät«, erklärte Simon und sah zu Marie.
Die setzte zur weiteren Befragung an: »Dein Papa wird aber Augen machen, wenn du ihm erzählst, dass du in einem echten Feuerwehrauto gesessen hast, was?«
Felix zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, wann der Papa wiederkommt. Der ist in Nui Joak. Das ist in Amerika. Der baut da Häuser.«
»Ah, du meinst New York«, wiederholte Marie.
»Sag ich doch. Was steht denn da unten?«, fragte er, als er zum Fußraum sah.
Gleichzeitig griffen Marie und Simon nach dem Ordner. Ihre Hände berührten sich. Ein warmer Schauer durchströmte Maries Körper. Simon ließ seine Augen etwas länger als nötig auf ihr ruhen. Dann fing er sich als Erster wieder und ließ etwas verlegen von Maries Hand ab. »Das ist unser Hydrantenbuch«, erklärte er, ohne seinen Blick von Maries Gesicht zu nehmen.
»Und was steht da drin?« Felix sah die beiden abwechselnd an. Als keine Antwort kam, hakte er nach. »Hallo!«
Marie blinzelte zweimal und nahm den Ordner auf ihren Schoß. Sie öffnete ihn.
»Schau, da stehen alle Hydranten in unserem Einsatzgebiet drin. Weißt du denn, was ein Hydrant ist?«
Felix nickte. »Da kommt Wasser raus.«
Marie sah nochmals zu Simon und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.
Simon zeigte auf einen weiteren Schalter. »Was meinst du, wofür der ist?«
Felix zuckte die Achseln und wartete gespannt auf die Erklärung.
Simon legte den Schalter um, und das Martinshorn schallte durch die dicht bebaute Siedlung.
Die Augen des Jungen leuchteten regelrecht. Aufgeregt rutschte er auf seinem Sitz hin und her.
Die Fahrertür öffnete sich. »Hey! Sag amoi! Spinnst du?«, rief Bärli in die Fahrerkabine. Simon schaltete die Sirene aus.
»Sorry. Wir sind an den Schalter gekommen«, sagte er und grinste seinen Kollegen an, der ihm das natürlich nicht abkaufte und kopfschüttelnd die Tür wieder schloss.
»Das war cool!«
Doch Felix’ Freude währte nur kurz. Seine Mutter fuhr in einer schwarzen Limousine vor.
»Ist das deine Mama?«, fragte Marie.
»Ja. Ich muss dann.« Felix machte Anstalten, an Simon vorbei aus dem Wagen zu klettern. Doch Marie bremste ihn.
»Bleib ruhig noch ein bisschen. Ich sag deiner Mama, dass du hier drinnen bist, okay?«
Er nickte und nutzte die Verlängerung, sich weiter ganz interessiert im Wagen umzusehen.
»Bin gleich wieder da«, sagte sie zu Simon und stieg aus.
Vor Marie stand eine perfekt geschminkte Frau Mitte dreißig in einem Designerkostüm mit Schuhen, die sich Marie bei ihrem Gehalt sicher nicht leisten könnte. Die blonden Haare waren straff zu einem Dutt zurückgebunden.
»Wo ist er?«, fragte die Frau hektisch, während sie in ihrer edlen Handtasche kramte.
»Ihr Sohn ist bei uns im Wagen.« Marie deutete zur Windschutzscheibe, aus der der Junge seiner Mama winkte.
»Ist er fertig? Wir müssen los«, sagte sie forsch, was Marie überhaupt nicht gefiel. Doch sie blieb ruhig.
»Felix geht es gut. Glücklicherweise konnten wir ihn von dem Tisch befreien. Er ist ein aufgeweckter Junge.«
»Ja …«, sie kramte erneut in ihrer Tasche und zog ihr Smartphone heraus. »Sorry«, meinte sie knapp zu Marie, »das ist wichtig.« Sie nahm das Gespräch an.
»Wir sind dann im Wagen«, erklärte Marie, wurde aber von Felix’ Mama gar nicht wahrgenommen. Sie kletterte wieder auf den Beifahrersitz.
»Deine Mama hat gesagt, du kannst dir noch ein bisschen das Auto ansehen«, flunkerte sie, wohlwissend, dass in den nächsten Minuten die Mutter mit sich selbst beschäftigt war.
Das freute den Kleinen. Simon sah zu Marie. Ohne den Inhalt des Gespräches gehört zu haben, wusste er offenbar genau, was gespielt wurde. Er drehte sich um und zog einen Teddy hervor.
»Schau mal, Felix, das ist unser Rettungsteddy. Der hat noch kein Zuhause. Meinst du, du kannst dich um ihn kümmern?« Er drückte ihn Felix in die Hand.
Felix sah fragend zu Marie, als ob nur sie die Entscheidung über das Stofftier fällen durfte. Sie lächelte ihn an.
»Natürlich!«, sagte er selbstbewusst.
»Dann musst du ihm aber noch einen Namen geben. Fällt dir da vielleicht was ein?«, fragte Simon nach.
»Er heißt Felix«, kam es wie aus der Pistole geschossen.
»Klar!«, lachte Simon. »Wie sonst.«
Felix’ Mutter klopfte an die Scheibe der Beifahrerseite. Marie öffnete die Tür.
»Felix, nun komm. Ich bin schon spät dran.« Sie winkte ihn zu sich.
Der Junge klemmte den Teddy unter seinen Arm. »Ich werde auch mal Feuerwehrmann«, sagte er bestimmt und kletterte an Marie vorbei aus der Kabine.
»Das will ich doch schwer hoffen!«, rief Simon dem Jungen nach.
»Tschüss, Felix«, verabschiedete sich Marie. »Und pass auf, wo du deine Finger reinsteckst. Hörst du?«
Er nickte.
»Was machst du denn für Sachen?«, fragte seine Mutter genervt. »Ich musste einen wichtigen Termin absagen.« Dann hastete sie mit ihm zum Auto. Er drehte sich noch einmal um und winkte.
Simon betätigte die Lichthupe.
Marie schüttelte den Kopf. »Nun sieh sich das einer an. Denkst du auch, was ich denke?«
»Jepp«, kam es von Simon. »Der junge Mann bekommt zu wenig Aufmerksamkeit.«
»Ich könnte der Kuh eine scheuern!«, schimpfte Marie.
»Tja, für jedes Mofa brauchst du einen Führerschein«, sagte er. »Aber Kinder erziehen darf jeder …« Er schüttelte den Kopf.
Marie sah zu Simon. »Na, jetzt hat er ja einen Teddy, der auf ihn aufpasst.«
Simon nickte zustimmend und sah zu Marie. Dann grinste er. »Magst auch einen? Auf der Wache im Lager sind noch mehr davon!«
Marie schmunzelte. »Es täte schon gut, wenn hin und wieder jemand auf mich aufpassen würde.«
Simon sah ihr in die Augen und wollte etwas erwidern, als sich die Fahrertür öffnete.
»Sagt’s amoi, ihr zwoa Turteltaubn. Kommt’s ihr da heut no raus, oda was?« Bärli grinste süffisant in die Kabine.
Denkbar schlechtester Zeitpunkt , dachte Marie.
Simon spielte den Ball zurück. »Wir warten nur auf euch. Wenn es nach uns ginge, wären wir schon längst losgefahren.«
»Mia ham immerhin ois verräumt, während ihr da vorn Die Sendung mit der Maus nachgestellt habt’s. Vielleicht schälst’ deinen Astralkörper amoi raus da, oder wuist du zruckfahrn?«
Simon sprang aus dem Einsatzwagen und nahm eine Reihe weiter hinten Platz. Plötzlich war er wie ausgewechselt, fast mürrisch. Auf dem Weg zurück in die Wache sah er kein einziges Mal zu Marie.
Vielleicht ärgerte es ihn, dass die Kollegen so taten, als hätte er es auf Marie abgesehen. »Turteltauben « hatte Bärli gesagt. Ob Simon auch so reagieren würde, wenn ihn die Kollegen wegen einer älteren Dame aufziehen würden? Wahrscheinlich hätte er dann mit ihnen herumgealbert und seinen Spaß gehabt. Fühlte er sich am Ende von seinen Kollegen ertappt und reagierte deshalb so empfindlich? Simon tat, als würde er in seiner rechten Brusttasche etwas suchen, und drückte den Klettverschluss danach wieder zu. Wie nebenbei huschte sein Blick zu Marie und sie schaute rasch aus ihrem Seitenfenster. Nicht, dass er noch dachte, sie würde ihn beobachten.
Als sie es nicht länger ertrug, wandte sie ihm den Kopf wieder zu.
Jetzt schnellte Simons Gesicht in die andere Richtung. Er schaute aus seinem Fenster.
Hinter ihnen unterhielten Silas und Andreas sich über die Lehrerin, Bärli fuhr den Wagen und Erik telefonierte.
Langsam drehte Simon den Kopf in Maries Richtung. Sie hatte ihre linke Hand auf dem Sitz neben sich abgelegt. Behutsam ließ er seine Finger in ihre Richtung gleiten. Marie tat so, als würde sie es nicht bemerken, schaute nicht hin. Doch sie konnte es beinahe fühlen: Nur noch ein paar Zentimeter trennten Simons und ihre Hände.
Marie ließ die letzte halbe Stunde Revue passieren. Sie musste sich eingestehen, dass sie die wenigen Minuten mit Simon und Felix allein im Einsatzwagen genossen hatte. Wie er sie angesehen hatte, als sich ihre Hände berührten. Da war etwas in seinem Blick gewesen, als die beiden gleichzeitig nach dem Ordner griffen. Seine Gegenwart wühlte sie auf. Wenn sie doch nur einmal die Chance hätte, ihn außerhalb der Wache kennenzulernen. Ruhig Marie, dachte sie sich, du kennst ihn gerade mal eine Woche . Gut, für Heidi wäre dies kein Argument. Bei einigen ihrer Bekanntschaften wäre diese Zeitspanne schon einer halben Ewigkeit gleichgekommen.
Plötzlich verspürte Marie eine leichte Berührung an ihren Fingern. Sie zuckte innerlich zusammen und wagte es nicht, ihren Kopf zu drehen. Ruhig ließ sie ihre Hand genau dort, wo sie sie abgelegt hatte. Etwas strich zart über ihren kleinen Finger. Sie verspürte Wärme, die in ihr aufstieg. Eine Welle aus glücklichem Wohlbefinden überflutete sie und verlangte ihr größte Disziplin ab, um die Fassung zu bewahren. Schon lange nicht mehr hatte sie sich zu einem Mann so stark hingezogen gefühlt wie in diesem Augenblick zu ihm. Sie hob ihre Finger an, um die Berührung zu erwidern. Sanft umkreisten sich ihre Fingerspitzen, glitten zärtlich ineinander und lösten sich wieder, nur damit das Spiel erneut beginnen konnte. Marie drehte ihre Hand, damit auch die Innenfläche die sanfte Liebkosung empfangen durfte. Simon erhöhte den Druck seiner Finger, der bis in Maries Haarspitzen alle Nervenbahnen eroberte und sie in einen Zustand versetzte, in dem sie für alle Ewigkeiten verweilen wollte.
Schlagartig wurde sie aus ihrem Tagtraum gerissen, als ihr Oberkörper nach vorne schnellte und kraftvoll in den Gurt gedrückt wurde.
»Ja, pass doch auf, ’zefix. Du hast rot, du Depp!«, schrie Bärli nach seiner Vollbremsung.
Der Mann mit Aktenkoffer und Handy am Ohr zuckte nur mit den Schultern und ging weiter die Straße hinunter.
»Hast du des g’sehn?«, fragte Bärli seinen Nebenmann. »Läuft da blind in da Gegend rum.« Er schüttelte den Kopf und setzte den Wagen wieder in Gang.
Marie sah zu Simon, der ebenso wie sie und der Rest der Truppe ziemlich erschrocken war. Sie blickte zu seinen Händen, die beide auf seinen Oberschenkeln lagen. Er machte nur große Augen und presste die Lippen zusammen. Dann schaute er wieder aus seinem Fenster, als ob nichts geschehen wäre.
Hatte Marie die Berührungen nur geträumt? Sie blickte auf ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen. Nein, sie hatte das nicht geträumt. Marie versuchte, das Kribbeln, das sie noch immer in den Fingerspitzen spürte, zu verinnerlichen, in der Hoffnung, dieses Gefühl später immer wieder wachrufen zu können.
»Ich liebe Einsatznachbesprechungen. Du auch?«, fragte Marie, als sie mit Simon aus dem Besprechungsraum kam.
»Ich hoffe, du hast das ironisch gemeint. Oder hat es dir wirklich gefallen, als Schiller meinte, dass es ja vielleicht doch etwas Gutes habe, wenn bei einem Einsatz mit Kindern eine Frau dabei ist.«
Marie zuckte mit den Schultern. »Tja, Schubladendenken eben. Der hat dich noch nicht mit Kinder gesehen.«
»Untersteh dich und sag ihm das«, erwiderte Simon und lachte gequält.
»Ach, Fräulein Bach?«, rief jemand hinter ihr her.
Simon und sie blieben stehen und drehten sich um. Es war Schiller.
»Ja?«
»Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie hier Kochkurse veranstalten. Bitte unterlassen Sie das künftig. Das gemeinsame Kochen ist Tradition bei der Feuerwehr. Wenn Sie unbedingt Mama Mirácoli spielen wollen, dann tun Sie das in Ihrer Freizeit, ja?«
»Ich habe nur auf Wunsch …«
»War noch was? Fräulein Bach?«
Marie stoppte ihren Versuch, sich zu verteidigen. »Nein. Sicher. Ich habe verstanden. Es wird nicht wieder …«
»Vorkommen, ich weiß«, beendete Schiller den Satz und damit auch das Gespräch.
Als der Wachleiter verschwunden war, atmete Marie tief durch. Simons Blick riet ihr, das nicht so ernst zu nehmen.
Leo tauchte auf, drückte sich zwischen Marie und Simon und legte seine Arme um die Schultern der beiden. »Na, ihr zwei? Hab gehört, ihr habt ein Kind adoptiert? Wird es den Namen behalten oder bekommt es einen neuen? Vielleicht sogar einen Doppelnamen?«
»Spinner«, sagte Marie. »Erstens haben wir uns nur um den Kleinen gekümmert, und zweitens werden adoptierte Kinder nicht umbenannt. Sie sind schließlich keine Hunde.«
»Na, von mir aus. Jedenfalls habt ihr drei anscheinend ein schönes Bild abgegeben, was man so hört.«
Simon löste sich von Leos Arm. »Und aus welcher Richtung hört man solch spannende Sachen?«
»Tjaaaa«, Leo zwinkerte seinen Kollegen an. »Ich verrate meine Quellen nur ungern. Nur so viel …« Er kam Simon etwas näher. »Er fängt mit S an und hört mit ilas auf. Mehr kann ich euch leider nicht als Hilfestellung geben. Da müsst ihr jetzt schon selbst draufkommen. Also!« Er klopfte Marie und Simon auf die Schultern. »Man sieht sich.«
Simon kaute sichtlich betreten auf seiner Unterlippe. Marie hingegen sah es locker. Kollegen quatschen nun einmal. Da standen Männer den Frauen in nichts nach. Sie rieb sich am Kinn, blickte zur Decke und tat, als ob sie eifrig überlegen würde.
»Hm, fängt mit S an, und hört mit ilas auf … Wer könnte das nur sein?« Sie schnippte wie Wickie mit den Fingern. »Ich weiß es! Bärli!«
»Wos is mit mia?« Der Genannte stand plötzlich hinter ihnen.
Simon fuhr zusammen. »Sag mal, wird das zur Gewohnheit auf dieser Wache, dass alle zwei Minuten irgendjemand plötzlich aus dem Nichts auftaucht?«
»Wir fanden, dass du super reagiert hast. Du weißt schon, mit dem Fußgänger und der roten Ampel«, flunkerte Marie.
»Ach so. Der Depp. An den Ohrwascheln hätt’ ich den packen können! Aber ihr zwoa, i muaß scho sagn, wia ihr da mit dem Buam … Man hätte meinen können, ihr wärt …«
»Bitte, Bärli, verschone uns«, bremste Simon seinen Kollegen genervt ab. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und zog ab.
Bernhard sah ratlos zu Marie. »Was hat er denn?«
Marie zuckte mit den Schultern. »Hormone.«
»Aha!«
Marie folgte Simon in den Kästchenraum, in dem die Angestellten der Feuerwache ihre Wertsachen aufbewahrten.
Simon stand vor seinem Fach, öffnete es und holte sein Handy heraus. Er nickte Marie zu, als sie eintrat, und tippte auf dem Display herum. Marie vermutete, dass er genauso gut auf seiner Geldbörse hätte herumtippen können. Das Ergebnis wäre dasselbe gewesen. Wahrscheinlich suchte er nur eine Rückzugsmöglichkeit, und Marie war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob es gut gewesen war, ihm gleich zu folgen. Was, wenn er sich von ihr bedrängt fühlte? Hoch konzentriert starrte er auf das Display, als ob er kurz davor stünde, die großen Rätsel der Menschheit zu entschlüsseln. Er setzte an, etwas zu sagen. Hielt dann aber inne.
Vermutlich wurmte es ihn gewaltig, dass er mit dieser Situation nicht gelassen umgehen konnte. Er war schließlich ein Mann, der im Beruf und im Leben mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand, und kein zwölfjähriger Junge, der völlig verstört durch die Gegend torkelte, weil ihn die Süße aus der Parallelklasse auf dem Pausenhof angelächelt hatte. Oder bildete Marie es sich nur ein, dass er unsicher reagierte? War nicht vielmehr sie diejenige, die sich wenig souverän benahm?
Er sah so konzentriert aus. Sollte sie ihn ansprechen? Nein. Sie wollte nicht aufdringlich sein. Andererseits … zu spät. Immerhin war sie ihm wie eine Motte dem Licht in den Kästchenraum gefolgt.
Sie ging zu ihrem Wertfach, das sich schräg gegenüber dem von Simon befand, und öffnete es. Sollte sie ebenfalls E-Mails checken? Oder Heidi eine WhatsApp schreiben? Nein. Das wäre zu auffällig.
»Ach, da ist sie ja«, sagte Marie und winkte mit ihrer Geldbörse. »Ich dachte schon, ich hätte sie zu Hause vergessen.«
Simon lächelte mit zusammengepressten Lippen und wippte zweimal mit den Augenbrauen. Dann starrte er wieder auf sein Handydisplay.
Marie räumte ihre Börse zurück in ihr Fach und verschloss es. »Und? Was treibst du in deiner viertägigen Freischicht so?«, fragte sie unbeholfen.
Simon hob den Blick von seinem Display. »Weiß noch nicht. Vielleicht mit einem Kumpel treffen, am Auto schrauben oder mit dem Bike eine Runde drehen …«
»Oh, du fährst Motorrad?« Marie interessierte sich nicht unbedingt für Motorräder, aber vielleicht konnte sie Simon so doch noch ein Gespräch herauskitzeln.
»Nein, Mountainbike.«
»So ein Zufall! Ich bike auch. Hardtail oder Fully?«
Diese Begriffe mussten ihm zeigen, dass sein Gegenüber Ahnung von der Materie hatte.
Simon biss an. »Fully. Und du?«
»Auch. Und? Wo fährst du so?«
Simon zuckte mit den Schultern. »Hier und da.«
»Ah«, sagte Marie wissend, obwohl sie sich eine etwas genauere Ortsangabe gewünscht hätte. »Hier und da« bedeutete ganz grob geschätzt auf dem ganzen Erdball und einem Teil des Mondes.
Simon merkte wohl, dass er in diesem Moment kein guter Gesprächspartner war, und legte nach. »Und du?«
»Auch«, meinte Marie ebenso knapp wie er.
Er nickte wieder.
»Ich glaube, ich weiß übrigens, wer mich bei Schiller angeschwärzt hat. Ich meine mit dem Kochen und so.«
»Ach ja? Und was meinst du?«
»Das war bestimmt Lorenz. Ich glaube, der war ziemlich verärgert. Was ich ihm nicht einmal verdenken kann.«
»Ach, der beruhigt sich schon wieder.«
»Auf jeden Fall habe ich ganze Arbeit geleistet und mich gleich in der ersten Woche bei drei Kollegen beliebt gemacht.«
»Wieso?«, hakte Simon nach, legte sein Handy zurück ins Fach und verschloss es. »Bei wem denn noch?«
»Na, Schiller …«
»Schiller ist kein Kollege, sondern Vorgesetzter. Außerdem zählt er sowieso nicht, weil den keiner von uns so richtig mag. Und wer noch?«
»Günther kann mich, glaube ich, auch nicht so richtig leiden.«
»Ach was. Günther ist ganz in Ordnung. Der muss nur erst mit der Situation, dass er eine Frau als Kollegin hat, umzugehen lernen.«
Marie legte ihren Kopf schräg und blickte zu Simon auf. Ihr Herz pochte, wie er da so vor ihr stand. Groß, männlich und verlässlich attraktiv. Sie nahm allen Mut zusammen, um einen Schritt weiter auf ihn zuzugehen. Sie verspürte den unbändigen Drang, ihm zu zeigen, dass sie nicht abgeneigt war, ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang mit ihm einzugehen. »Und du? Kannst du mit der Situation umgehen?«
Simon wusste offenbar so schnell nicht, was er darauf antworten sollte, und tat so, als würde er an der Decke des Kästchenraums nach der richtigen Antwort suchen. Dann endlich blickte er sie an. Seine Augen glitzerten ungewöhnlich. Marie wartete nicht weiter auf eine Antwort.
»Das da vorhin im Einsatzwagen …«, sie sah zu ihren Schuhen, verweilte dort kurz und blickte wieder auf. »Kann es sein, dass du meine Hand …?«
»Das? Ach, das war aus Versehen«, schoss es aus Simon heraus. »Das war nur, weil Bernhard …, also der Bärli so arg gebremst hat.« Er schluckte kurz. »Ich hab mich da nur abgestützt.« Marie trat einen Schritt zurück. »Ach so, und ich dachte …«
Innerlich schimpfte sie mit sich selbst. Was hatte sie denn als Antwort erwartet? Ja Marie, ich habe mich unsterblich in dich verliebt, du raubst mir die Sinne, und wenn wir alleine wären, würde ich dich gleich hier im Kästchenraum nehmen. Dann würde ich ein Pferd kaufen und mit dir in den Sonnenuntergang reiten … Marie hatte eindeutig zu viele Abende mit Heidi in Begleitung einer Flasche Pinot Grigio auf dem Balkon verbracht.
»Was wäre denn gewesen, wenn …«, setzte Simon an.
Die Tür ging auf. »Ach, hier bist du! Jonah sucht dich. Es geht um den Dienstplan für die nächste Schicht«, rief Vincent Simon zu. Dann sah er zu Marie. »Oh, sorry. Störe ich?«
Simon schnaubte verächtlich und ging dann zur Tür. Er blieb neben Vincent stehen. »Sag mal, würdest du das auch fragen, wenn ich mit Günther hier stehen würde? Hört auf mit dem Scheiß!« Dann zog er ab.
Vincent sah wieder zu Marie. »Hat der was?«
»Hormone.«
Vincent nickte verwundert und ging wieder. Marie öffnete erneut ihr Schließfach, holte ihr Handy heraus und tippte eine WhatsApp.
MA: Hallo, Heidi. Du brauchst für mich nichts mit einzukaufen, bin übers Wochenende in Steingaden bei meinen Eltern. Bussi
Dann legte sie das Handy wieder zurück ins Fach und verließ den Kästchenraum.