MÜTTER HABEN IMMER RECHT
Marie nahm die letzte Kurve und sah wie freudig erwartet in der Ferne den elterlichen Hof liegen, auf dem sie aufgewachsen war. Bis auf die Tatsache, dass die Zufahrtsstraße endlich anständig geteert war, hatte sich seit ihrer Kindheit hier kaum etwas verändert. Der L-förmige Hof war schon immer einer der stattlichsten im Umkreis von Steingaden gewesen. Der schneeweiße Verputz des Wohnhauses leuchtete Marie in der Sonne entgegen und bot einen schönen Kontrast zu den dunkelgrünen Fensterläden. Vor jedem der quadratischen Fenster prangte ein Blumenkasten, der bunt bepflanzt war und dem Haus einen gemütlichen Anstrich gab. Das Dach kragte an allen Seiten des Hauses weit aus und schenkte dem Balkon im zweiten Stock auch im Hochsommer genügend Schatten, um auf ihm in einem bequemen Liegestuhl die Seele baumeln zu lassen.
Marie fuhr auf den Hof, und die knirschenden Kieselsteine, die sich unter den Reifen wegdrückten, meldeten ihr Eintreffen an. Sie stellte den roten VW Polo neben dem Holzstoß vor der Scheune ab. Die Scheite waren nur zur Dekoration dort aufgestapelt; ihre Mutter meinte, es verleihe dem Innenhof eine heimelige Stimmung. Als Marie aus dem Auto stieg, hörte sie schon das kleine Glöckchen an der Tür des Hofladens, der sich
zwischen Scheune und Wohnhaus befand. Gudrun Bachs ganzer Schatz.
»Mama!«, rief Marie und verschloss ihren Wagen.
»Kind, du brauchst doch hier nicht abzuschließen.«
»Macht der Gewohnheit.« Sie umarmten sich.
»War viel Verkehr?«
»Ging so«, meinte Marie. »Kurz nach Landsberg gab es einen Unfall, aber nix Schlimmes. Da hat’s ein bisschen gestaut. Lass dich mal anschauen?« Marie drückte ihre Mutter ein wenig von sich weg und begutachtete sie. »Gut siehst du aus.«
»Ach, das sagst du jedes Mal«, meinte ihre Mutter fast ein bisschen verlegen.
»Na, wenn es sonst keiner tut. Wo ist denn Paps?«
»Der ist mit Franz auf der Weide. Heute sind zwei neue Rinder angekommen. Zu Mittag sind sie aber spätestens wieder hier. Magst den Laden ansehen? Ich habe umgeräumt.«
»Klar«, meinte Marie begeistert.
Gudrun Bach war eine schlanke Frau von Anfang fünfzig, die trotz ihrer grauen Haare, die sie mit Stolz trug, sehr jugendlich wirkte. Die braunen Augen hatte Marie von ihr geerbt. Was Marie jedoch nicht von ihrer Mutter geerbt hatte, war die Liebe zur Landwirtschaft. Umso froher war Marie vor ein paar Jahren gewesen, als ihr Bruder Franz den Weg des Landwirts einschlug, um später den elterlichen Hof zu übernehmen.
Marie folgte ihrer Mutter durch die einladende Holztür mit dem großen Fenster, in dem ein kleines Schild mit der Aufschrift »Heute Ruhetag
«
hing.
»Hast du samstags immer noch geschlossen?«
»Natürlich. Solange es noch geht.« Ihre Mutter breitete die Arme aus. »Und? Was sagst du?«
Marie ging ein paar Schritte weiter in den Laden hinein und blickte sich um. Es hatte sich einiges verändert, seit sie vor einem Monat das letzte Mal hier gewesen war. An der Wand
links neben dem Eingang hingen in unregelmäßigen Abständen Weinkisten aus Holz, die als Regale für Honig, Marmeladen und Pestos dienten. Daneben stand ein alter Bauernschrank, ohne Türen, in dem Nudeln und andere hausgemachten Spezialitäten feil geboten wurden. Mittig im Raum befanden sich Körbe, die an Verkaufstagen mit Obst und Gemüse befüllt waren.
»Und? Was sagst du?«
»Sehr schön«, meinte Marie und fuhr mit den Fingern sachte über den kleinen Tresen, der als Packstation und Kasse diente. »Ist der neu?«
»Mhm«, nickte ihre Mutter. »Hat dein Vater mir gebaut.«
»Tja, das hat Paps schon immer gekonnt. Mit Holz arbeiten … Was ist das?« Marie zeigte auf ein paar Leinensäcke, die auf einer Palette an der Wand lehnten.
»Da sind verschiedene Getreidekörner drin, die wir neuerdings anbieten. Dein Bruder hatte die Idee. Wird von den Kunden gut angenommen. Nächstes Jahr bauen wir vielleicht auch ein paar alte Sorten an. Franz meint, die seien wieder im Kommen.«
»Und was hält Paps davon?« Marie kniff zweifelnd die Augen zusammen.
»Kennst ihn ja«, lachte Gudrun. »Zuerst hat er versucht, es abzuschmettern, und nun tut er so, als handle es sich um seine eigene Idee.« Maries Mutter kam ein wenig näher. »Wir verkaufen jetzt auch über das Internet«, verkündete sie ganz stolz und mit leuchtenden Augen.
»Oh! Seid ihr doch schon im neuen Zeitalter angekommen? Respekt!«
»Du, gell! Mach vor deinem Vater bloß keine Witze drüber. Der war vom Onlinehandel überhaupt nicht begeistert. Dein Bruder hat da ganz viel Geld in die Hand genommen. Aber ich sage dir, da kann was draus werden.«
Marie griff in einen der Säcke und holte mit einer kleinen Holzschaufel ein paar Körner heraus.
»Was ist das für eine Sorte?«
Gudrun warf einen prüfenden Blick auf das Korn. »Das ist Emmer. Ist ein bisschen intensiver als Weizen.« Sie ging einen Schritt weiter. »Das hier ist Dinkel, hier haben wir Grünkern und das hier ist Quinoa. Alles sehr gefragt.«
Das Glöckchen an der Tür klingelte.
»Schwesterherz!«, schallte es Marie entgegen.
»Max!« Marie freute sich. Maries großer Bruder war das älteste der drei Kinder aus dem Hause Bach.
»Na, Frau Feuerwehrmann. Auch mal wieder im Lande?«
»Feuerwehrfrau und ja. Und? Wie geht es dem Psychotherapeuten?«, spielte Marie den Ball zurück.
»Physiotherapeut bitte, ja? Obwohl …«, ihr Bruder kratzte sich am Kinn, »bei ein paar meiner Patienten wäre ein Psychotherapeut wohl die bessere Wahl.«
In seinen weißen Klamotten sah er aus, als wäre er Arzt und nicht Therapeut. Er wirkte älter als neunundzwanzig, was vielleicht an seinem Bart lag, der die gesamte Kinnpartie bedeckte und nahtlos in seine Koteletten überging. Sein Gesicht war quasi von Haaren eingerahmt, das dadurch etwas rundlich wirkte. Bei seinen blauen Augen hatte sich ihr Vater durchgesetzt.
Maries Eltern nahmen es ihm nicht übel, dass er kein Interesse an der Landwirtschaft hatte. Natürlich half er hier und da auf dem Hof, doch weiterführen wollte er ihn als Erstgeborener nicht. Wie auch sein zwei Jahre jüngerer Bruder war er, bis auf ein paar kleinere Liebeleien, Single.
Auf dem elterlichen Hof bewohnte er das gesamte zweite Stockwerk, das er vor etwa drei Jahren komplett ausgebaut hatte. In der Kurklinik in Hopfen am See gehörte er mittlerweile unverzichtbar zur Belegschaft.
»Was machst du denn schon hier?«, fragte seine Mutter.
»Na, gleich ist Mittag …« Max sah auf die Uhr.
»Ach du grüne Neune! Ich muss kochen. Marie, hilfst du mir?«
»Klar. Was gibt es denn?«
Gudrun Bach lachte ihre Tochter an. »Was mag denn mein Mädchen am liebsten?«
Marie bekam leuchtende Augen. Denn auf diese Frage gab es für sie nur eine Antwort.
»Hey! Die verlorene Tochter ist zurückgekehrt!«, rief Johann Bach, als er mit Maries zweitem Bruder in die Küche kam.
»Papa!« Sie drückte ihn.
»Na, Schwesterherz? Auch wieder im Lande? Ich hab mich schon gefragt, wer da so beschissen im Hof parkt«, sagte Franz und lachte. »Fehlt nur noch das Blaulicht auf deinem roten Flitzer.«
Marie boxte ihren Bruder gegen die Brust. »Den Joke bringst du immer wieder und er wird und wird einfach nicht besser. Hallo, Franz. Na? Was machen die Kühe?«
»Weiß nicht«, zuckte Franz mit den Schultern. »Bin momentan Single.«
Marie verdrehte die Augen. Franz Bach eben. Sportlich, kernig und nicht auf den Mund gefallen. Für ihn war bereits mit fünf Jahren, als er zu Weihnachten seinen ersten Trettraktor bekommen hatte, klar gewesen, dass er zum Landwirt berufen war. Damals wusste er natürlich noch nicht, dass er den elterlichen Hof mit einer Biogasanlage, modernen Maschinen und gemäß dem Prinzip der Nachhaltigkeit in ein neues Zeitalter führen würde. Gut, dass die Eltern ihn nach anfänglicher Gegenwehr gewähren ließen.
Komisch eigentlich
, dachte Marie.
Wir sind alle noch Single.
Sicher, hier und da hatten ihre Brüder mal eine Freundin gehabt, aber es war noch nie etwas Festeres dabei entstanden. Seinen
ersten Kuss hat Franz im zarten Alter von vierzehn von Heidi bekommen. Das hatte ihn in Steingaden bei seinen Mitschülern auf eine ganz andere Stufe gehoben.
Heute dagegen wäre sie ihm viel zu bunt, wie er sagen würde. Und High Heels machten sich im Stall auch nicht so gut.
»Was gibt es denn Leckeres?«, Franz schnupperte in Richtung Herd. »Moment! Nix sagen. Ich komme selbst drauf. Ein rotes Feuerwehrauto ohne Blaulicht im Hof, die verlorene Tochter aus der Großstadt hier in unserer Küche …« Er schloss die Augen, breitete seine Arme aus und schnippte ein paarmal mit den Fingern. Dann öffnete er die Augen. »Ich weiß. Wiener Schnitzel mit Bratkartoffeln und Preiselbeeren! Hab ich recht oder hab ich recht?«
»Schlauberger!«, rief seine Mutter. »Setzt euch. Essen ist fertig. Johann, schenkst du die Getränke ein?«
Papa Bach nickte. Er schob seine Brille nach oben und schnappte sich Maries Glas. Mit seinen grauen Haaren stand er seiner Frau an gutem Aussehen in nichts nach. Maries Vater war schon immer eine stattliche Erscheinung gewesen. Seine beiden Söhne hatten ihn, was die Körpergröße betraf, nie eingeholt. Glücklicherweise auch nicht bezüglich des Bauchumfangs. Johann Bach war nicht etwa dick, doch sah man ihm an, dass die leckeren Speisen, die seine Frau zubereitete, bei ihm nicht lange auf dem Teller verweilten. Ein »gstandnes Mannsbild« würde Bärli über ihn sagen.
»Und? Was macht die neue Wache, Marie? Sind alle nett zu dir oder muss der Papa nach München kommen?« Er stellte Marie ein Glas Zitronenlimonade neben ihren Teller.
»Ach, der Unterschied zur Hauptwache ist nicht besonders groß. Etwas moderner ist sie natürlich schon«, erklärte Marie. »Nur der Wachleiter ist …, na, wie soll ich sagen …, ein Arsch!«
»Marie!«, rief ihre Mutter empört. »Doch nicht bei Tisch.«
»Ist doch aber wahr.«
»Wieso?«, fragte Max nach. »Was macht er denn?«
»So direkt tut er mir eigentlich nichts. Er ist einfach einer von dem Schlag, die der Meinung sind, dass Frauen hinter den Herd gehören.«
»Ha!«, lachte Franz. »Was für eine Ironie. Wo du doch Köchin bist!«
»Jetzt esst. Wird doch alles kalt«, forderte die Mutter ihre Familie auf.
»Und die Jungs? Ist gutes Material am Start?«, blökte Max seiner Schwester über den Tisch zu und erntete dafür von seinem Vater einen mahnenden Blick.
»Ach, so genau habe ich mir die noch gar nicht angesehen.« Marie trank von ihrer Limonade. In München würde sie nie auf die Idee kommen, sich im Hop Sin bei Baihu eine zu bestellen. Doch hier … da war es einfach Heimat. Außerdem wollte sie ihre Eltern nicht vor den Kopf stoßen. Sie kauften sie nur, wenn ihre Tochter zu Besuch kam, weil sie einmal gesagt hatte, dass die so lecker sei. Da war Marie neun gewesen.
»Ha, erwischt«, meinte Franz. »Ich kenne doch meine Schwester. Weil du dir die Jungs angeblich ›noch gar nicht angesehen‹ hast. Das musstest du doch allein schon wegen der Heidi tun.«
»So ein Quatsch. Du bist wohl zu lange im Stall gewesen«, wehrte Marie ab.
Maries Vater blickte kurz auf, als Heidi erwähnt wurde. Er hatte das Mädchen schon damals nicht gemocht, als sie Marie täglich zur Schule abgeholt hatte. Laut Papa Bach war sie kein guter Umgang für seine Tochter. Und noch unerfreulicher war für ihn, dass sich seine Tochter mit ihr in München eine Wohnung teilte.
Tja, das hat Papa seit jeher ausgezeichnet
, dachte Marie.
Wenn er sich einmal eine Meinung von einem Menschen gebildet hatte, dann galt sie für alle Ewigkeit.
Maries Mutter holte die Pfanne vom Herd und verteilte die restlichen Bratkartoffeln auf die Teller ihrer Lieben. Als treusorgende Mutter wusste sie, dass die Harmonie bei Tisch nur durch volle Mägen gewährleistet war.
»Das sind sie, unsere Limpurger Rinder«, sagte Maries Vater stolz, als sie die Stallungen betraten. Nach dem Essen machten sie den traditionellen Hofrundgang und Marie bekam alles gezeigt, was neu war. »Die letzten beiden sind heute eingetroffen und auf der Weide.«
»Wow«, tat Marie begeistert. »Die sehen ja kraftvoll aus.«
»Ja. Ich war zuerst skeptisch. Aber dein Bruder war recht hartnäckig. Kennst ihn ja.« Die beiden lehnten sich über das Gatter. »Na ja, ist heutzutage alles ein bisschen anders mit der Landwirtschaft. Ich muss ihm da freie Hand lassen. Im Grunde sind deine Mutter und ich ja froh. Die anderen Landwirte im Ort jammern, dass keins von ihren Kindern den Betrieb weiterführen will.«
Marie nickte und streichelte einem Rind, das näherkam, über den Kopf. »Tolle Hörner!«
»Ja, und die bleiben dran. Seit wir komplett auf Bio und Mutterkuhhaltung umgestellt haben, verzichten wir auf das Enthornen. Was sagst du denn zum Hofladen?«
»Sieht hübsch aus. Ich habe gehört, ihr exportiert jetzt auch in die USA?«
»Was?«
»Jetzt, wo ihr einen Onlineshop habt?«
Ihr Vater wechselte das Thema. »Sag doch mal – gefällt es dir noch in München? Die Annemarie, du weißt schon, die vom Langwieser Hof, die fragt jedes Mal nach dir. Die würden dich mit Kusshand nehmen. Ein, zwei Jahre, und du hättest die Leitung in der Küche.«
Marie lächelte ihren Vater an, als sie die Stallung verließen. »Ein tolles Angebot, danke. Ich bin aber gern bei der Feuerwehr.«
Ihr Vater legte den Arm um sie. »Das glaube ich dir ja auch. Ach, was warst du eifrig bei der Sache, als du hier bei der Jugendfeuerwehr warst. Weißt du noch, als sie dir die Jugendflamme bei der Weihnachtsfeier überreicht haben? Ich war so stolz. Es ist, als wäre es gestern gewesen.«
»Papa, da war ich dreizehn.«
»Ich weiß. Ich habe nur manchmal Angst, dass du in dieser Männerdomäne unter die Räder kommst.«
»Mach dir mal keine Sorgen. Ich pass schon auf mich auf. Und wenn doch was sein sollte, dann erfährst es du als Erster, okay?«
»Versprochen?«
»Ja!«, bestätigte Marie.
»Hey, da steckst du«, rief Franz, als er aus der Haustür kam. »Wie sieht es denn mit einer kleinen Verdauungsrunde aus?«, fragte er.
»Und was ist mit der Hofarbeit?«
»Na, wenn meine kleine Schwester uns einen ihrer seltenen Besuche abstattet, kann ich schon mal eine Ausnahme machen.«
Marie sah zu ihrem Vater. Er nickte, was so viel bedeutete wie: Geh nur.
»Ich habe aber mein Bike nicht dabei.«
»Hab ich mir schon gedacht, dass du dir für deinen Flitzer immer noch keinen Dachträger geleistet hast. Dann nimmst du einfach meinen alten Hobel. Ich mach dir den Sattel tiefer.«
»Na gut. Ich hole nur noch meine Tasche aus dem Auto und zieh mich um.«
Sie griff in die Hosentasche und drückte auf den Funkschlüssel.
»Ach, bleibst du bis morgen?«, wollte ihr Vater wissen. Marie nickte.
»Schön.«
»Siehst du, Paps«, lachte Marie. »Du musst dir nur hier Sorgen machen, dass ich unter die Räder komme – so, wie dein Sohn fährt.«
Johann Bach lachte und schloss für Marie die Kofferraumklappe.
»Ach, das ist nicht nötig«, sagte er. »Ich glaube, du fährst deinem Bruder immer noch davon.«
»Das habe ich gehört«, maulte Franz.
Nach dem Abendessen duschte Marie, schlenderte dann barfuß in ihr altes Zimmer im Erdgeschoss und schloss die Tür hinter sich. Während sie sich den Pyjama überstreifte, schweifte ihr Blick durch ihr altes Kinderzimmer. Bis auf das Bett, den Kleiderschrank und zwei Poster von Robbie Williams erinnerte kaum etwas an die Zeit, als sie sich fast jedes zweite Wochenende spät nachts durch ihr angelehntes Zimmerfenster zurück ins Haus geschlichen hatte.
Auf einem Regal über dem Bett waren diverse Pokale aus Maries Jugend aufgereiht, die ihre Leistungen im Skifahren und Schwimmen dokumentierten. Mitten im Zimmer standen neuerdings ein Rudergerät und ein Hometrainer.
Ihr Handy, das auf der Bettdecke lag, brummte zweimal. Sie schnürte die Kordel ihrer Pyjamahose zu, ließ sich aufs Bett fallen und griff nach dem Smartphone.
Offenbar hatte Heidi brennende Sehnsucht nach ihrer Freundin überfallen, während Marie im Badezimmer die Spuren der schweißtreibenden Biketour beseitigt hatte. Maries Display war bunt wie ein Weihnachtsbaum vor lauter Meldungen über Anrufversuche und diverse WhatsApp-Nachrichten.
HE: Ich will auf die Piste und du bist in Steingaden.
HE: Dann gehe ich eben allein.
HE: Wie geht es Franz? Hat er ne Freundin?
HE: Ist er immer noch Bauer?
HE: Am Montag gehst du mit mir ins Monaco High! Da ist ein total süßer Barkieper!
HE: Barkeeper.
Marie wollte gerade antworten, als ein Anruf einging. Ohne aufs Display zu schauen, nahm sie ihn an.
»Marie Bach?«
»Na, endlich! Ich hab mir schon Sorgen gemacht. Sag mal, welches Klopapier kaufst du immer?
»Hallo, Heidi. Ich war im Bad.«
»Das ist doch kein Grund, nicht ans Handy zu gehen. Also?«
»Was also?«
»Welches Papier!«, wiederholte Heidi genervt.
»Egal. Kauf doch einfach irgendwas.«
»Und, wie ist es?«
»Schön, wie immer. In Steingaden hat sich wenig geändert.«
»Dann kannst du ja wieder heimkommen. Mir ist langweilig.«
»Du könntest doch deine Handtaschen zählen. Oder noch besser: Geh aus.«
Heidi tat, als wäre sie ganz arm dran und müsste unbedingt getröstet werden. Das konnte in solchen Momenten entweder
durch eine dicke Umarmung geschehen, oder man tingelte mit ihr durch das Schwabinger Nachtleben.
»Ich mag nicht alleine ausgehen. Das sieht so bemitleidenswert aus. So, als wäre ich auf der Suche.«
»Das bist du doch!«
»Ja, aber das brauchen doch die Typen nicht zu wissen. Was machst du denn?«
»Ich sitze hier auf meinem Bett und gehe bald schlafen.«
Heidi prustete ins Telefon. »Was? Es ist gerade mal zehn Uhr abends. Ich kenne Mädels, die stehen jetzt erst auf.«
»Das mag sein, ich aber nicht. Außerdem weißt du ganz genau, dass hier nicht viel los ist.«
»Weshalb wir auch in München wohnen, meine liebe Marie.«
»Ich komme ja morgen wieder. Wird aber etwas später. Ich wollte noch in die Kletterhalle, ein bisschen bouldern.«
Marie hörte förmlich, wie Heidi ihren Kopf schüttelte. »Du und dein Sport.«
»Das wäre genau das Richtige für dich, Heidi. Da gibt es viele fesche Burschen. Mega gebaut, gut aussehend, mit viel Ausdauer …«
»Ja, genau«, lachte Heidi. »Jungs, die dann plötzlich so tolle Einfälle haben wie: Lass uns doch mal wandern.«
»Na und. Auf der Alm, da kann viel passieren.«
»Nicht mit mir. Ich wüsste überhaupt nicht, was ich da für Schuhe anziehen sollte. Außerdem mag ich keinen Sportler an meiner Seite. Der guckt bestimmt ständig auf meinen Teller und stellt Fragen wie: ›Was? Du isst Kohlehydrate?‹«
»Also«, lenkte Marie das Gespräch dem Ende entgegen. »Morgen bin ich wieder daheim.«
»Und Montag geht’s ins Monaco High.«
»Von mir aus, du gibst ja doch keine Ruhe. Gute Nacht.«
»Bussi!«
Marie krabbelte vom Bett, ging in die Hocke und verband ihr Handy mit dem Ladekabel, das in der Steckdose neben der Zimmertür steckte.
Es klopfte und im selben Moment öffnete sich auch schon die Tür und traf Marie empfindlich an der Stirn.
»Au!«, rief sie, verlor das Gleichgewicht und landete wie ein verunglückter Käfer auf dem Rücken.
»Oh, entschuldige, meine Süße«, meinte ihre Mutter peinlich berührt, als sie ihren Kopf zwischen Türrahmen und Tür ins Zimmer streckte. »Hast du dir wehgetan?«
»Nee«, meinte Marie, stand auf und rieb sich die schmerzende Stelle.
»Das tut mir leid.« Die Mutter öffnete die Tür komplett und trat ein. »Warum stehst du aber auch so dicht an der Tür. Ich wollte nur fragen, ob du alles hast.«
Marie ließ sich wieder aufs Bett fallen. »Alles gut. Hab alles. Deine Brotzeit war klasse. Ich weiß nicht mehr, wann ich zuletzt abends einfach eine Brotzeit gemacht habe. Das Geräucherte war einfach fantastisch!«
»Ja, dein Vater liebt es auch.«
»Vielleicht ein bisschen zu sehr? Hat ein wenig zugelegt, oder?«
Ihre Mutter setzte sich zu ihr an den Bettrand. Sie warf nochmals einen prüfenden Blick zur Tür und flüsterte. »Was glaubst du denn, warum hier diese Geräte stehen.« Sie kicherte vorsichtig. »Sag aber nichts.«
»Und? Ist er fleißig?«
Maries Mutter sah nochmals zur Tür. »Ganz ehrlich? Seit die Geräte vor drei Wochen geliefert wurden, war er einmal auf dem Rudergerät. Dann ist er mit einem schmerzverzerrten Gesicht ins Wohnzimmer gekommen, hat sich die Schulter gehalten und ich habe ihn mit Franzbrandwein eingerieben.«
»Dann gebt die Geräte doch zurück.«
Ihre Mutter schmunzelte. »Ich finde sie eigentlich ganz praktisch. Ich lege immer ein bisschen Wäsche zum Trocken drüber. Aber jetzt sag doch mal. Wie geht es dir wirklich?«
Marie sah ihre Mutter an. »Alles super. Ehrlich.«
»Marie, Mütter haben einen Instinkt. Das wirst du merken, wenn du selbst einmal Kinder hast. Also, raus mit der Sprache.«
Marie zögerte. Doch sie wusste, ihre Mutter würde nicht locker lassen. Also setzte sie sich in den Schneidersitz und klemmte eine Strähne hinters Ohr.
»Eigentlich ist wirklich alles in Ordnung.«
»Eigentlich?«
»Na ja, auf der Hauptwache waren wir Mädels zu dritt. Jetzt bin ich allein. Nicht falsch verstehen, die Jungs sind alle echt nett …, bis auf ein paar Ausnahmen. Genauer gesagt bis auf eine.«
»Du meinst … wie heißt er noch mal?«
»Schiller.«
»Und?«
»Ach, der hat mich irgendwie auf dem Kieker. Als ob er nur darauf warten würde, dass er mich abschießen kann.«
Gudrun Bach strich ihrer Tochter über den Hinterkopf. »Dann darfst du das einfach nicht zulassen.«
Marie legte ihren Kopf auf der Schulter ihrer Mutter ab. »Das ist mir schon klar. Ich will ja auch stark sein, aber manchmal … Weißt du, alles ist neu, alles ist anders und dann noch dieser Schiller …« Marie setzte sich wieder auf. »Nun, als Paps das heute vom Langwieser Hof erzählt hat, da dachte ich mir für einen kurzen Moment: Ich schmeiß am besten alles hin und komm zurück.«
»Ja«, lachte ihre Mutter, »die Annemarie. Die liegt uns ständig in den Ohren.« Sie drehte ihren Kopf zu Marie. »Glaube mir, dein Vater und ich würden uns nichts mehr wünschen, als dass du wieder nach Steingaden zurückkommst.«
Marie lächelte. »Das würde sich aber irgendwie nach Weglaufen anfühlen.«
Gudrun nahm Marie an den Schultern und drehte sie zu sich. »Und genau deshalb musst du dort bleiben. Zeig denen, dass du eine Bach bist. Schau mich an. Glaubst du, es ist leichter geworden, seit du nicht mehr hier im Haus wohnst? Ich bin mit drei Männern unter einem Dach. Das ist auch nicht immer einfach. Gib dir einfach ein bisschen Zeit. Wenn dieser Schiller erst einmal gemerkt hat, welchen Schatz er auf seiner Wache hat, wird er seine Meinung über dich bestimmt ändern.«
»Und wenn nicht?« Marie setzte ihren Rehblick auf.
»Dann kommt deine Mutter nach München und schüttelt den Kerl kräftig durch.«
Marie lachte. »Wahrscheinlich hast du recht.«
»Ich bin deine Mutter. Natürlich habe ich recht!«
»Außerdem kann ich überhaupt nicht von München weg. Wer kümmert sich dann um Heidi?«
»Oh, sag das bloß nicht vor deinem Vater.«
»Ist sie ihm immer noch ein Dorn im Auge?«
»War so, wird immer so sein«, lachte sie. »Seit sie seinem Sohn die Jungfräulichkeit genommen hat.«
Marie wich zurück. »Die haben geknutscht!«
»Das war zur damaligen Zeit für deinen Vater dasselbe.«
Sie lachten wieder. Marie hatte ganz vergessen, wie gut ihr die Frauengespräche mit ihrer Mutter taten. Kein Problem war dann noch so groß, dass sie es nicht gemeinsam klären konnten. Außer, es ging um Liebeskummer. In diesen Fällen half meist nur eine anständige Portion Eis.
»Und? Was macht die Liebe? Hatte dein Bruder recht? Gibt es da einen feschen Feuerwehrmann?«
»Ach … ich weiß nicht. Ist vielleicht noch zu früh …« Sie zeichnete mit ihrem Finger kleine Kreise auf die Bettdecke. »Vielleicht auch nur eine Schwärmerei …«
»Na, komm schon. Wie heißt er?«
»Ach, das ist vielleicht wirklich nichts. Er ist auch irgendwie komisch.«
»Marie?« Gudrun sah ihre Tochter mit strengem Blick an.
»Simon.«
»Und? Sieht er gut aus?«
Marie grinste und nickte ein paarmal.
»Glaubst du, er mag dich auch?«
Marie atmete schwer aus. »Einen Tag glaube ich das, den anderen Tag wieder nicht. Vielleicht ist es aber wirklich noch etwas zu früh. Immerhin kenne ich ihn erst seit einer Woche.«
»Ach so!«, wunderte sich ihre Mutter. »Und wie lange muss man jemanden kennen, bevor man sich verliebt?«
Marie kniff die Augen zusammen. »Vielleicht … zwei … Wochen?«
Gudrun Bach lachte. »Ach, Marie. Wo ist bei euch jungen Leuten nur die Romantik geblieben.« Sie strich Marie über den Hinterkopf. »Nach zwei Wochen weißt du, ob dir Schuhe passen. Ob ein neuer Haarschnitt die richtige Entscheidung war oder ob es an Heiligabend Gans oder Ente gibt. Als ich deinen Vater damals auf der Berufsschule kennen gelernt habe, wusste ich von der ersten Sekunde an: Das ist der Richtige. Diesen Mann werde ich heiraten.« Sie sah Marie an. »Hör auf dein Herz. Es wird dir schon sagen, ob dieser Simon der Richtige für dich ist.«
»Aber, er ist doch ein Kollege«, gab Marie zu bedenken. »Ich denke nicht, dass der Rest der Wache begeistert ist, wenn unter ihnen …«
»Ach was«, unterbrach ihre Mutter. »Und was ist, wenn du nach einem halben Jahr versetzt wirst, oder wenn du genug von der Feuerwehr hast und etwas anderes machen willst? Die große Liebe, mein Schatz, die kann dein ganzes Leben andauern.« Sie
nahm Marie bei den Schultern. »Mach dein Glück nicht von anderen Menschen abhängig, hörst du?«
Marie nickte und gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. »Du bist die Beste!«
»Ich weiß.« Gudrun nahm Maries Gesicht in beide Hände. »Und jetzt schlaf gut, damit du mir morgen nicht von der Kletterwand fällst.« Sie stand auf. »Ach, warum kannst du in deiner Freizeit nicht stricken, wie andere Mädchen auch?«
»Mama, ich glaube, es wird nur noch ganz selten gestrickt.«
»Hm«, meinte sie und ging zur Zimmertür, »eigentlich schade.«
»Ach, und Mama?«
»Ja?«
»Sag bitte Paps vorerst nichts davon, ja?«
»Gott bewahre! Der denkt, du wärst immer noch seine Kleine und bist jeden Tag um spätestens neun Uhr im Bett. Wenn ich nicht wäre, würde er jeden Tag einen Kontrollanruf absetzen.« Sie schmunzelte. »Gute Nacht.«
»Dir auch eine gute Nacht.«
Als ihre Mutter gegangen war, legte Marie sich aufs Bett, sah zur Decke und ließ deren Worte noch einmal durch ihren Kopf kreisen. Gern hätte sie die Situation ebenso romantisch gesehen. Doch es gelang ihr nicht. Was, wenn sie sich in etwas verrannte, wenn sie in Simon jemanden sah, der er gar nicht war? Sie kannte ihn doch überhaupt nicht. Was, wenn sie die Initiative ergriff und er ihre Gefühle nicht erwiderte? Dann würde sie lieber im Erdboden versinken, als weiterhin mit ihm Seite an Seite zu arbeiten.
Marie deckte sich zu und knipste die Nachttischlampe aus. Sie sah auf ihr Handy und legte es auf den Nachttisch. Was Simon wohl gerade machte?
Obwohl sie vor Müdigkeit gähnte, hielten ihre Gedanken sie in dieser Nacht noch lange wach. Ein Plan musste her, denn
eine Person gab es, die auf keinen Fall mitbekommen durfte, dass sie nun doch entgegen ihrer Überzeugung am Arbeitsplatz ihre Fühler nach einem Mann ausstreckte. Schiller! Es blieb also nur eine Möglichkeit für Marie, sich Simon anzunähern: Er musste raus aus seinem Gehege in die freie Wildbahn. Denn außerhalb der Wache galten andere Gesetze. Und die kannte Marie dank ihrer Mitbewohnerin nur zu gut.