EIN KAFFEE IST PRIVAT
Die Fußgängerzone der Münchner Innenstadt war an diesem Montagvormittag bereits stark frequentiert. Marie schlenderte gemächlich über die Pflastersteine, was für sie ungewöhnlich war. Normalerweise legte sie auf ihren Touren durch München eine schnellere Gangart ein. Da sie es jedoch tags zuvor in der Kletterhalle ein wenig übertrieben hatte, spürte sie an diesem Tag ein paar Muskeln mehr, als ihr lieb war. Zwar war Marie eine wahre Sportskanone, doch ein paar alte Bekannte und ihr Ehrgeiz hatten sie dazu genötigt, ihrem Körper mehr abzuverlangen, als dieser gewohnt war.
Natürlich konnte Marie nicht umhin, Heidi im Gewandhaus Buchert am Marienplatz einen Pflichtbesuch abzustatten, und als sie am Rathaus vorbeispazierte, entdeckte sie ein bekanntes Gesicht, mit dem sie in diesem Augenblick nicht gerechnet hatte: Es war Simon, der am Fischbrunnen lehnte und in sein Handy starrte.
Tausende von Menschen sind in der Münchner Innenstadt unterwegs , dachte Marie, und genau da, wo ich mich aufhalte, steht er nur wenige Meter entfernt er. Als ob eine höhere Macht unbedingt wollte, dass sie beide zusammenkamen. Sie linste genauer zu ihm hinüber. Hatte er schon wieder einen anderen Haarschnitt? Wie oft ging dieser Kerl denn zum Friseur?
Marie wurde nervös. Was sollte sie jetzt tun? Nach ihm rufen und winken? Nein. Das wäre peinlich. Tausend Gedanken reihten sich in ihrem Kopf aneinander. Vielleicht hatte er ein Date? Hoffentlich dachte er nicht, dass sie ihn verfolgte! Aus dem Weg gehen wollte sie ihm jedoch auch nicht. Was, wenn er sie längst gesehen hatte? Außerdem wäre jetzt die perfekte Gelegenheit, ihm endlich außerhalb der Wache zu begegnen. Ohne nervende Kollegen, die Simon mit ihren Anspielungen verschreckten.
Marie fühlte sich ziemlich verloren, wie sie da mit ihren zwei Tragetaschen mitten auf dem Marienplatz stand und versuchte, sich nicht zu bewegen. Dabei klappte das bei Antilopen doch prima. Löwen wurden erst auf ihre Beute aufmerksam, wenn die zu laufen begann.
Verzweifelt suchte Marie nach einer Beschäftigung. Sie blickte hinauf zum Glockenspiel, das sich im Turm des Rathauses befand. Immerhin war es ein Zuschauermagnet und lockte täglich Tausende von Touristen an. Marie sah auf die Uhr. Mist. Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis sich die Figuren zur Musik drehen würden. Die Uhrzeit für dieses Schauspiel waren sicherlich jedem Besucher aus China oder Kalifornien bekannt. Wie dumm würde es aussehen, wenn sie als Münchnerin die Unwissende mimte und den halben Vormittag lang gespannt nach oben starrte? Marie zog ihr Handy aus der Hosentasche und hielt es an ihr Ohr. Ein Handy war die ideale Allzweckwaffe, wenn es darum ging, beschäftigt oder abwesend zu wirken.
Bitte merke dir, was du mich gerade fragen wolltest, mein Handy vibriert , war ebenfalls eine gute Möglichkeit, bei einer unangenehmen Frage etwas Zeit zu schinden. Marie tat, als hätte ihr imaginärer Gesprächspartner etwas Witziges gesagt, und lachte laut. Nebenbei fixierte sie die oberen Stockwerke des Gewandhauses Buchert, um nicht versehentlich zu Simon zu blicken.
fleuron
Ist das Marie? Simon nahm mit zusammengekniffenen Augen eine junge Frau in den Fokus, die mitten auf dem Marienplatz stand und schallend in ihr Handy lachte. Zwischen ihren Füßen standen zwei Tragetaschen.
Simon zog die Sonnenbrille ein wenig nach unten, um ein klareres Bild zu bekommen. Ja! Eindeutig! Es war Marie. Er schob seine Brille wieder nach oben und wandte schnell seinen Blick von ihr ab. Es wäre ihm peinlich gewesen, wenn sie genau in dem Moment, in dem er sie anstarrte, zu ihm herübergeblickt hätte. Tausende von Menschen, dachte Simon, und unter ihnen ausgerechnet Marie.
Er wandte ihr den Rücken zu, lehnte sich über den Beckenrand des Brunnens und starrte wieder in sein Handy. Was, wenn sie ihn längst gesehen hatte? Hoffentlich dachte sie nicht, er wäre ihr gefolgt. Nein. Das konnte er ausschließen. Immerhin stand er bereits seit gut zehn Minuten an diesem Brunnen. Ob sie sich mit jemandem traf? Und wer war am anderen Ende ihres Telefons, der sie so erheiterte, dass sie jedes Mal, wenn sie lachte, die Blicke vorbeigehender Passanten auf sich zog? Vielleicht hatte sie aus den Augenwinkeln mitbekommen, dass er sie bereits gesehen hatte. In dem Fall wäre es äußerst ungeschickt von ihm gewesen, ihr den Rücken zuzukehren. Simon drehte sich langsam zurück in Maries Richtung und blickte zum Glockenspiel hoch. Auch doof, wenn es sich nicht dreht , dachte er. Schnell wieder die Augen zum Handydisplay.
Ihm war bewusst, dass er nicht einfach so gehen konnte. Das hätte nach Flucht ausgesehen. Er blickte über seinen Brillenrand zu Marie. Toll sah sie wieder aus. Irgendetwas an ihr, das er von Anfang an verspürt hatte, zog ihn magisch an. Ihre Haare trug sie offen, Jeans und weiße Sneakers. Sie braucht sich nicht zu schminken oder sich mit teuren Designerklamotten aufzuwerten , dachte er. Diese Frau war naturhübsch.
Während sie telefonierte, fuhr sie sich mit den Fingern immer wieder durch die Haare und streifte diese nach hinten. Er sah es als Wink des Schicksals an, dass er sie hier, an diesem Ort, außerhalb der Wache treffen musste. Umso mehr fühlte er, dass er diese Gelegenheit beim Schopf packen musste.
Simon steckte sein Handy in die Hosentasche, schnaufte noch einmal tief durch und ging entschlossen auf Marie zu. Die einzige Möglichkeit, erhobenen Hauptes und ohne jegliche Peinlichkeiten aus dieser Situation zu entkommen, war für ihn die Flucht nach vorne.
fleuron
»Oh Gott, er kommt auf mich zu«, säuselte Marie mit zusammengepressten Lippen vor sich hin. Sollte sie ihn schon von Weitem grüßen und ihm entgegenwinken? Nein. Sie blickte auf ihre Schuhe, um überrascht wirken zu können, wenn Simon sie ansprach. Wieder lachte sie in ihr Handy und ließ Satzfragmente über ihre Lippen kommen wie: »Nein, das glaube ich nicht«, »ich verstehe« oder »ach, du wieder«, während sie mit einem Fuß auf dem Boden des Marienplatzes umherscharrte, als wäre sie in etwas hineingetreten.
Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie Simon immer näher herankam. Es wirkte beinahe, als würde er sich in Zeitlupe auf sie zu bewegen. Einzig ein Dutzend Tauben, das aufgeschreckt und ebenfalls in Zeitlupe vor ihm davonflog, hätte diese Szene noch dramatischer erscheinen lassen können. Ihr Herz pochte.
Dann stand er vor ihr und sah sie einfach nur an.
Marie hob ihren Kopf und tat überrascht, als sie ihm auf die verspiegelten Gläser seiner Sonnenbrille sah. Sie lächelte ihn an und gestikulierte in seine Richtung, dass das Gespräch gleich zu Ende wäre.
»Ja, ja, neiiin! Du lügst. Na, das hätte ich ja nicht gedacht«, kam es aus ihrem Mund. Sie war stolz auf sich, diese Situation so souverän zu meistern.
Während Marie mit ihrem imaginären Gesprächspartner telefonierte, passierte etwas, mit dem sie exakt in diesem Augenblick nicht gerechnet hatte. Ihr Handy läutete. Marie schoss die Farbe ins Gesicht.
Simon nahm seine Sonnenbrille ab und sah verwundert drein. Diese Funktion bei einem Handy war ihm offenbar neu.
»Mo… Moment, da ruft noch jemand an …«, stammelte Marie nervös, entschuldigte sich mit einer flüchtigen Geste und einem peinlich berührten Lächeln für die erneute Verzögerung bei Simon und nahm das Gespräch an.
»Bach?«
»Warum stehst du dir da unten die Beine in den Bauch und kommst nicht hoch? Und wer ist der Typ?«
»Hallo, Heidi. Du, ich komm gleich.« Maries Augen wanderten zur Fassade des Gewandhauses zum Bürofenster ihrer Freundin. Dort stand ihre Mitbewohnerin, die auf den Marienplatz heruntersah und nervös winkte. Super Timing, Heidi.
»Nun sag schon. Bring ihn doch mit. Ist das der Typ aus der …«
»Bis gleich, Heidi«, würgte Marie ihre Mitbewohnerin ab und steckte das Handy in die Hosentasche.
»Simon! Was machst du denn hier?«
»Das andere Gespräch.« Simon deutete auf Maries Hosentasche.
»Wie bitte?«
»Das andere Gespräch. « Er deutete auf ihr Handy. »Da ist noch jemand in der anderen Leitung.«
Blödmann , dachte sich Marie. Er wusste bestimmt genau, dass sie geflunkert hatte. Musste er da auch noch drauf herumreiten? Doch sie bewahrte ihre Würde, zog das Handy aus der Hosentasche und blickte aufs Display. »Hm, hat aufgelegt«, meinte sie geistesgegenwärtig und steckte das Smartphone zurück.
»Na? Auch hier beim Shoppen?«, fragte Simon.
»Ja«, meinte Marie. »Und du?«
»Auch.«
Marie blinzelte ihn an. »Alleine hier?«
»Jepp. Und du?«
»Auch!«
Peinliche drei Sekunden Stille stellten sich ein, die wie eine halbe Ewigkeit schienen.
»Und? Was machst du so in deiner Freischicht?«
Simon zuckte mit den Schultern. »Nichts Besonderes. Dies und das. Und du?«
»Ich war am Wochenende in Steingaden bei meinen Eltern, bisschen klettern, bisschen biken …«, sagte Marie und zuckte mit den Schultern. »Jetzt hüpfe ich schnell noch zu meiner Freundin bei Buchert rein. Sie ist dort Einkäuferin. Also … sie arbeitet da. Also … andere gehen dort hin zum Einkaufen, damit will ich sagen … Marie kümmert sich darum, welche Ware …«
»Ich weiß, was eine Einkäuferin macht«, unterbrach Simon und nickte lässig.
Marie nickte ebenfalls und hatte das Gefühl, dass ihr Gesicht immer mehr errötete.
»Ich glaube, mich hat am Wochenende die Sonne ein bisschen erwischt.« Sie strich sich über die Wangen. »Die hat schon ganz schön Kraft diesen Frühsommer.«
»Ja, das Wetter war herrlich am Wochenende. Ist es noch!«
Verdammt!, dachte Marie. Sie wollte sich die Chance nicht entgehen lassen, immerhin hatte Simon das schützende Gehege verlassen und lief durch die freie Wildbahn. So hatte sie es sich gewünscht. Was also sprach dagegen, jetzt ein bisschen Zeit miteinander zu verbringen? Außer natürlich, das Gespräch würde sich auf diese anstrengende Weise fortsetzen.
»Wie sieht es aus? Ich wollte gerade einen Kaffee trinken. Leistest du mir Gesellschaft?«
Simon wirkte überfordert. Mit dieser Frage hatte er sichtlich nicht gerechnet. Er konnte mit Feuer umgehen, das sich in alle Richtungen ausbreitete, behielt stets die Kontrolle, wenn es darum ging, ein Menschenleben zu retten. Doch mit der Situation, auf offener Straße spontan von einer Frau auf einen Kaffee eingeladen zu werden – damit war er anscheinend bis über beide Ohren überfordert. Vielleicht lag es jedoch daran, dass diese Frau auch seine Kollegin war und ein gemeinsamer Vormittag weitreichende Folgen nach sich ziehen könnte?
»Ich wollte noch nach einer Uhr gucken, und dann brauche ich noch eine neue Kette für mein Mountainbike. Die werde ich vermutlich heute noch einbauen. Muss ja irgendwie weitergehen.«
Marie kniff die Augen zusammen und versuchte, süß auszusehen. »Ach, komm schon. Ein Tässchen wird deinen Zeitplan nicht sonderlich durcheinanderwerfen. Ein Kerl wie du hat doch eins, zwei, drei die Kette eingebaut.«
Simon zierte sich. »Ne, du. Außerdem wartet bestimmt schon deine Freundin, die Einkäuferin.«
»Ach, sie ist da noch bis sechs Uhr abends drin. Die läuft nicht davon. Dort drüben wird was frei.« Marie deutete zu den Tischen eines Cafés, wo sich in diesem Augenblick ein Pärchen erhob. Sie setzte alles auf eine Karte, warf ihm einen verliebten Blick zu und schnappte sich seinen Arm, um ihn ein Stückchen näher zum Café zu ziehen.
Doch die Reaktion, die nach diesem Frontalangriff normalerweise kommen sollte, blieb aus.
»Nein. Weißt du … ich trenne gern Beruf und Privates«, kam es aus Simons Mund.
Die Worte trafen Marie wie eine Bombe. Was wollte er ihr damit zu verstehen geben? Es war doch nur ein Kaffee und keine Szene aus »Fifty Shades of Grey « , die sie mit ihm nachstellen wollte. Sie kam sich dumm vor. Als ob sie es nötig hätte, einen Kerl dazu zu überreden, mit ihr einen Kaffee trinken zu gehen. Bei Leo hätte wahrscheinlich ein winziger Blick gereicht, und zwei Tassen Kaffee würden bereits dampfend vor ihnen stehen. Marie hatte keine Ahnung, ob Simon Spielchen mit ihr trieb.
»Ah. Ich verstehe«, meinte sie kleinlaut und nickte verständnisvoll, obwohl sie ihm am liebsten einen Tritt gegen das Schienbein verpasst hätte.
Er presste seine Lippen aufeinander und setzte seine Sonnenbrille auf. »Also, ich muss dann mal … Hat mich gefreut, dich zu sehen.« Dann machte er sich auf den Weg.
»Ach …Simon?«
Er drehte sich nochmals um. »Ja?«
»Machst du das bei den Jungs auch? Ich meine – Beruf und Privates?«
Er zögerte. »Das ist was anderes. Also, bis übermorgen.« Dann ging er weiter die Kaufingerstraße hinunter Richtung Stachus.
»Was war das denn?«, hörte Marie sich laut sagen. Sie blieb stehen und starrte ihm nach, bis er zwischen den vielen Passanten verschwand. Das war also der Lohn für den Mut, den sie aufgebracht hatte, einen Typ auf einen Kaffee einzuladen. Eigentlich wäre dies sein Job gewesen. Würde Marie an einem Wettbewerb mit dem Titel »Wer hat die größte Abfuhr bekommen « teilnehmen, könnte sie jetzt mit einem Pokal in der Hand den Heimweg antreten.
Marie bückte sich und griff nach ihren Tragetaschen. Was soll’s. Schließlich hatte sie ein Date mit Heidi. Einer Frau, die Beruf und Privates als eine Einheit sah.
fleuron
»Ich weiß, was eine Einkäuferin macht! Vermutlich werde ich heute noch eine Fahrradkette einbauen! Muss ja weitergehen!«, schimpfte Simon auf dem Weg zum Stachus zähneknirschend vor sich hin. »Was Blöderes ist dir nicht eingefallen!«
Es ärgerte ihn maßlos, dass er vor Marie so unsicher wirkte, als ginge es um sein erstes Date.
Er blieb für einen Moment stehen und drehte sich nochmals zum Marienplatz um. Er haderte mit sich. Sollte er zurückgehen? Nein! Das würde lächerlich wirken. Und was sollte er dann sagen? Sorry Marie, mir ist gerade eingefallen, dass ich erst gestern eine neue Fahrradkette eingebaut habe. Ich hätte nun doch kurz Zeit. Wollen wir uns zusammen das verdammte Glockenspiel ansehen?
Ganz sicher nicht. Außerdem wollte er denselben Fehler nicht noch einmal machen. Gefühle am Arbeitsplatz waren tabu. Das hatte er sich geschworen.
Er ging weiter. Am liebsten hätte er mit Marie noch einmal ganz von vorne angefangen. Dieses zufällige Treffen hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht.
Simon versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Denn es gab Wichtigeres zu überlegen: Wie begegnete er seiner Kollegin zwei Tage später auf der Wache?