FRAU
GISELA HÄLT DEN
SCHLAUCH
»Na? Wie ich sehe, hast du wieder in die Wache gefunden – nach der langen Freizeit?«
»Hallo, Silas. Klar, warum nicht?«
»Es wurden schon Wetten abgeschlossen, ob du wiederkommst?«, feixte er, während er seine Einsatzhose samt Stiefeln vor dem Einsatzfahrzeug platzierte, für das er an diesem Tag eingeteilt war.
»Nur keine Angst«, gab Marie zurück. »So schnell werdet ihr mich nicht los. Irgendjemand muss euch Jungs ja zeigen, wie anständige Feuerwehrarbeit geht, oder?«
Silas gab sich geschlagen. Doch Marie nutzte die Gelegenheit, weiter an der Beziehung zu ihren Kollegen zu arbeiten. »Ihr könnt euch gern auf einer Liste eintragen. Dann gebe ich euch Nachhilfe. Ich glaube, ich habe noch ein paar Termine frei«, witzelte sie.
Doch Silas war abgelenkt von den Schritten eines älteren Herren, der sich mit einem Klemmbrett und dunkler Miene sehr schnell näherte und den Blick nicht von seiner Kollegin nahm. Silas stupste Marie an.
»Schau mal, Marie. Ich glaube, dein erster Termin kommt schon. Dann bring dem mal was bei. Na, was wollte ich denn jetzt gleich noch mal …« Er schnippte mit den Fingern. »Ach ja, ich weiß wieder.« Dann verschwand er hastig.
»Fräulein Bach?«
»Guten Morgen, Herr Schiller.«
»Es wäre ein schöner Morgen, wenn ich mich nicht mit Ihren Unterlagen herumärgern müsste.«
»Ich verstehe nicht …«
Er blieb mit hochrotem Kopf vor Marie stehen. »Ich finde hier keinerlei Nachweise darüber, dass Sie eine Atemschutzausbildung absolviert haben. Demnach hätten Sie bei dem Brand neulich überhaupt nicht ins Haus hineingehen dürfen.«
Leo tauchte neben Schiller auf. »Entschuldigen Sie, wenn ich mich einmische, aber ich bin mir sicher, dass Marie, ich meine Frau Bach, sehr wohl mit Atemschutz vertraut ist. Auch Erik hat gesagt, dass Marie sehr gut …«
»Mein lieber Herr Rindisbacher, ich werde Sie gern zu Rate ziehen, wenn ich Ihre Meinung hören möchte.«
Leo sah zu Marie, die nun mit ebenfalls hochrotem Kopf vor Schiller stand, und beschloss, es Silas gleichzutun.
»Also?«, forderte Schiller von Marie eine Erklärung.
Marie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. »Ich kann Ihnen versichern, dass alles seine Richtigkeit hat. Zu Hause habe ich alle Unterlagen, ich kann Ihnen …«
»Da liegen sie gut. Ich muss Rede und Antwort stehen, wenn etwas passiert.«
Jonah streckte seinen Kopf aus der Tür des Materiallagers nebenan. Schillers lautstarke Predigt war nicht zu überhören gewesen.
»Was ist passiert?«, versuchte er mit einem positiven Gesichtsausdruck die Lage zu entspannen.
»Die Unterlagen! Da fehlt ja die Hälfte«, blaffte der Wachleiter, während er wütend in den Unterlagen in seiner Hand herumblätterte.
»Ich bin mir sicher, dass eine Verzögerung oder ein elektronisches Problem bei der Datenübermittlung die Ursache ist. Ich schaue mir das gleich mal an«, bot Jonah seine Hilfe an.
»Das kann ich auch selbst erledigen«, schnaubte Schiller, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in seinem Büro.
Jonah kniff die Augen zusammen und schmunzelte, als wollte er Marie sagen:
Mach dir nichts draus
.
»Wird das jetzt zur Regel, dass meine Tage hier so beginnen?«, fragte Marie missmutig.
Jonah schüttelte den Kopf und zog sich wieder ins Lager zurück.
Simon, der etwa fünf Meter von Marie entfernt stand, hielt sich komplett aus der Sache heraus. Außer ein paar flüchtigen Blicken und einem kleinen Lächeln hie und da gab es zwischen den beiden keine Berührungspunkte mehr.
Leo hingegen setzte zur zweiten Runde an. »Na, jetzt habe ich mir aber eine Pizza mit dir verdient, oder?«, tönte er.
»Warum denn?«
»Na, wie ich mich eben ritterlich vor dich gestellt habe, als dich Schiller …«
»Du warst aber genauso schnell wieder weg, wie du gekommen bist«, lachte Marie.
»Hätte ich gewusst, wie streng du das siehst, wäre ich geblieben«, verteidigte sich Leo.
»Ich danke dir!«, holte Marie nach.
»Gern. Also? Wie sieht’s aus? Morgen Abend – na, sagen wir später Nachmittag. Wir müssen ja früh raus und …«
»Leo, lass mal. Ich sagte doch schon, Beruf und Privates …« Sie wackelte abwägend mit den Händen und schaute dabei über
Leos Schulter hinweg zu Simon, der sie in dem Moment ebenfalls beobachtete.
»Na gut«, gab sich Leo geschlagen, »aber du weißt ja …«, er hob den Zeigefinger.
»Ja, Leo, ich weiß. Du gibst nicht auf.«
»Ganz genau. Irgendwann werden sie alle schwach«, drohte er seiner Kollegin zum Spaß. »Auf der Blaulichtparty kommst du mir nicht aus. Da fegst du mit mir übers Parkett. Besser, du schreibst meinen Namen schon mal quer über deine Tanzkarte«, riet er ihr lachend.
Marie lachte mit und sah auf die Uhr. Wie sie bei der Wachübergabe von Jonah erfahren hat, stattete an diesem Tag die Butterblumengruppe des nahe gelegenen Kindergartens der Wache 21 einen Besuch ab. Jonah hatte die Ankündigung noch nicht zu Ende vorgetragen, da war Marie bereits klar, dass sie das große Los gezogen hatte, die Brandschutzerziehung mit den Kindern durchzuführen. Schiller konnte sich natürlich einen dummen Spruch nicht verkneifen: »Lasst die Bach die Kindergruppe übernehmen. Da kann sie schon mal üben«, hatte er gesagt.
Lorenz kam diese Entscheidung nur gelegen. Er betonte, dass er währenddessen in der Küche ein leckeres Mittagessen zubereiten würde, und untermalte diese Information mit einem süffisanten Blick in ihre Richtung. Und damit nicht genug, wurde ihr schließlich auch noch Simon an die Seite gestellt, und Marie war sich nicht sicher, ob sie sich darüber freuen sollte.
Natürlich war sie gern in seiner Nähe. Jonahs Entscheidung durchkreuzte jedoch Maries Plan, sich bei Simon etwas rar zu machen. In jedem Fall hielt sie es für besser, das Treffen in der Münchner Innenstadt nicht weiter zu erwähnen.
»Schon mal Brandschutzerziehung bei Kindern durchgeführt?«, fragte Simon.
»Ja. Schon zwei- oder dreimal. Wir hatten dafür zwei Puppen auf der Hauptwache. Flammi und Löschi hießen die«, erklärte Marie. »Wo sind denn eure Puppen? Dann hole ich sie.«
Simon grinste. »Na, die eine bist du, und die andere steht vor dir.«
Marie verdrehte die Augen. Noch bevor sie etwas darauf erwidern konnte, hörte sie die Kinder, die im Anmarsch waren.
»Na, dann … Action.« Simon klatschte in die Hände.
»Es wäre toll gewesen, wenn wir uns wenigstens ein bisschen abgesprochen hätten.«
»Ach was. Das klappt schon«, meinte er lapidar und ging auf den Vorplatz, wo Jonah bereits eines der beiden Löschfahrzeuge für die Kinder bereitgestellt hatte.
Marie wunderte sich über das Selbstbewusstsein, das Simon an den Tag legte. Zwei Tage zuvor, als sie ihn auf dem Marienplatz getroffen hatte, war davon keine Spur zu sehen gewesen.
Simon begrüßte die beiden Erzieherinnen, die mit zehn Kindern neben dem Feuerwehrauto Aufstellung genommen hatten. Marie kam hinterher.
»Hallo, Kinder, und herzlich willkommen auf unserer tollen Wache«, begrüßte Simon die Gruppe, als ob er tagtäglich nichts anderes tun würde.
Die gemeinschaftliche Begrüßung seitens der Kinder, die allem Anschein nach vorab einstudiert worden war, schlug fehl, da sich besonders die Jungs viel mehr für das Löschfahrzeug interessierten als für die beiden Feuerwehrleute.
Die beiden Erzieherinnen waren sehr untypisch für ihren Berufsstand gekleidet. Auf Marie machte es den Eindruck, die beiden seien Businessfrauen in einer Führungsposition. Ihr Erscheinungsbild war vielleicht aber auch der Tatsache geschuldet, dass das Ziel dieses Ausflugs nicht ein Tierpark oder ein
Bauernhof war, sondern eine Feuerwache voll durchtrainierter, schmucker Feuerwehrmänner. Eine der Damen trug einen engen Rock samt schneeweißer Bluse, die alles andere als geeignet war, um nachmittags mit Fingerfarben zu experimentieren. Ihre langen blonden Haare hatte sie nach oben gesteckt. Lippenstift, Eyeliner, Lidschatten, Make-up – alles am Start. Eigentlich hätte sie nach ihrem Dienst umgehend ins Monaco High abschwirren können. Der Türsteher hätte sie eigenhändig die Stufen hinaufgetragen. Die andere Frau hatte eine enge Jeans an, dazu ein luftiges Top mit der äußerst unpassenden Aufschrift »Partygirl
«
. Ihre ebenfalls blonden, schulterlangen Haare trug sie offen, wodurch sie ständig damit beschäftigt war, sich die Strähnen aus dem Gesicht zu fummeln. Auch sie war geschminkt, jedoch nicht so extrem wie ihre Kollegin.
»Na? Seid ihr das erste Mal auf einer Feuerwache?«, fragte Simon.
Ein kleiner Junge mit dicker Hornbrille schnippte wie verrückt mit den Fingern. Simon erteilte ihm das Wort.
»Mein Papa ist bei der Freiwilligen Feuerwehr. Ich hatte schon einmal einen Helm auf. Ich durfte auch schon einmal die Sirene einschalten. Wenn ich älter bin, gehe ich auch zur Feuerwehr. Oder ich werde Pilot. Außerdem bin ich schon einmal mit einem Feuerwehrauto mitgefahren.«
»Bist du nicht!«, unterbrach ihn sein Nachbar. »Frau Gisela, Torben flunkert!«
»Bin ich wohl«, verteidigte er sich und gab dem Ungläubigen einen Schubs, dass dieser seine Position um gut zwei Meter korrigierte.
»Philipp, Torben – wollt ihr wohl aufhören?«, zischte die Dame mit dem Rock.
Marie fragte die Kinder, wer von ihnen denn wisse, was bei einem Feuer zu tun war.
Diese Gelegenheit nutzte Frau Gisela und löste sich von der Gruppe. Unauffällig schlenderte sie zu Simon, der zwischenzeitlich zum Fahrzeug gegangen war. Sie strich sich über ihr Dekolleté, während sie mit ihm sprach. Simon schien die Dame gut zu unterhalten, da sie ständig kicherte.
»Frau Michaela? Ich muss mal!«, rief ein kleines Mädchen der zweiten Erzieherin zu.
Marie streckte ihr die Hand entgegen. »Na komm, ich zeige dir, wo du hinmusst. Ihr anderen dürft solange zu meinem Kollegen gehen. Dann könnt ihr mal einen Blick auf ein echtes Feuerwehrauto werfen.«
Die Kinder waren begeistert und hüpften zum HLF, während Marie mit dem Mädchen ins Wachgebäude ging.
»Wie heißt du denn?«
»Josephine.«
»Was für ein schöner Name. Ich heiße Marie.«
Auf der Treppe in den ersten Stock kam ihnen Schiller entgegen.
»Ja, wen haben wir denn da?«, sagte er zuckersüß, grinste das Mädchen an und kniff ihr in die Wange.
Die Kleine wich zurück.
»Besuchst du uns heute?«
Josephine nickte schüchtern. Schiller schien ihr nicht geheuer. Auch Marie war erstaunt darüber, dass er noch gemeiner wirkte bei dem Versuch, als freundlicher Onkel in Erscheinung zu treten.
»Ja, wie heißt du denn?«, fragte er das Mädchen.
»Ich muss mal«, sagte sie leise und blickte zu Marie.
»Kein Problem. Gleich haben wir es geschafft«, beruhigte Marie, nickte kurz zu Schiller und geleitete die Kleine die letzten Stufen nach oben.
Als Marie wenig später mit Josephine zurück auf den Vorplatz kam, sah sie von Weitem, dass Simon bereits das
C-Rohr an den Verteiler angeschlossen hatte. Und nicht nur das. Anscheinend hatte sich Frau Gisela bereit erklärt, bei der Löschvorführung tatkräftig mitzuwirken. Charmant gab ihr Kollege Hilfestellung und erklärte ihr ganz genau, wie sie das Hohlstrahlrohr zu halten hatte. Die Kinder und Michaela waren zu diesem Zeitpunkt außen vor. Zeit für Marie, die Initiative zu ergreifen. Schließlich waren die Kinder zu Besuch auf der Wache, um den Umgang mit Feuer zu verinnerlichen, und nicht, wie man einen Feuerwehrmann klarmacht.
»Simon? Entzündest du mal den Behälter dort hinten? Ich erkläre den Kindern in der Zwischenzeit, welche Mittel wir für die Brandbekämpfung …«
»Ach, wie schade!« Gisela unterbrach Marie und formte einen Schmollmund. »Simon erklärt mir gerade so schön, wie man mit dem Schlauch richtig umgeht. Vielleicht können wir beide gemeinsam ja den Schlauch halten?«, fragte sie und berührte dabei seinen Oberarm.
»Kein Problem«, bot Simon sich mit stolzgeschwellter Brust an und bat Marie, das Entzünden des Feuers zu übernehmen.
Michaela schien nicht sonderlich überrascht über ihre Kollegin zu sein. Sie gab sich größte Mühe, die Jungs und Mädchen bei Laune zu halten, indem sie überschwängliche Begeisterung über das Löschfahrzeug ausschüttete und auf die Hebel und Knöpfe des Fahrzeugs deutete.
»Seht ihr bitte kurz zu mir?«, bat Marie die Gruppe. »Normalerweise befeuern wir diesen Behälter mit Gas, heute aber möchte ich euch zeigen, wie gefährlich es ist, im Sommer etwas Brennbares einfach in den Wald oder aus dem Fahrzeug zu werfen. Deshalb nehmen wir trockenes Holz. Ihr werdet sehen, wie schnell sich ein Feuer ausbreiten kann. Seid ihr bereit?«
»Jaa!«, kam es einstimmig von der Butterblumengruppe, die gespannt auf den großen Metallbehälter inmitten des Vorhofs starrte.
Marie entzündete mit einem Grillanzünder das Stroh, das sich zwischen den Holzscheiten befand. In Sekundenschnelle breitete sich das Feuer in dem Behälter bis auf den letzten Zentimeter aus.
»Mein Kollege wird euch nun demonstrieren, wie wir von der Feuerwehr ein Feuer löschen.«
Marie gab Simon ein Zeichen, dass er loslegen konnte. Der war jedoch damit beschäftigt, Giselas Fragen, welche auch immer das waren, zu beantworten. Sie ärgerte sich, dass er sich von dieser Frau einwickeln ließ, jedoch gegen ihre Signale immun zu sein schien.
»Ich bin gleich wieder da«, informierte Marie die Gruppe und lief zum Einsatzfahrzeug. »Simon, würdest du jetzt bitte?« Sie deutete eindringlicher in den Hof auf das stark lodernde Feuer.
»Äh … ja«, kam es etwas peinlich berührt von ihm zurück.
Gisela beachtete Marie überhaupt nicht. Keine Sekunde ließ sie den schmucken Feuerwehrmann aus den Augen und hielt mit ihrer Begeisterung für ihn nicht hinterm Berg.
»Was für starke Arme Sie haben. Die braucht man wohl, wenn das Wasser mit so großem Druck aus dem Schlauch schießt, oder? Sie trainieren doch bestimmt täglich …«
»Na ja, also …«
Sah Marie da etwa eine leichte Schamesröte in Simons Gesicht aufsteigen? Aus ihrer Sicht war auf dem Vorhof viel zu viel Hitze entstanden, die jedoch nicht vom Feuer kam.
»Also«, wies Simon die Erzieherin an. »Ganz fest mit beiden Händen hier gut festhalten. Keine Angst, es ist wenig Druck auf dem Schlauch und dieser Hebel hier vorne ist komplett geschlossen. Es kann überhaupt nichts passieren.«
»Wie heißt dieses Ding noch gleich?«
»Hohlstrahlrohr«, erklärte Simon.
»Ach, ich kann mir das einfach nicht merken!« Aufgeregt zog Gisela ihren Rock ein wenig nach oben, damit sie sich etwas breitbeiniger hinstellen konnte. »Mache ich das so richtig?«, schmachtete sie Simon an.
Marie traute ihren Augen nicht. War das etwa der wahre Simon, den sie hier vor sich hatte? Ein Weiberheld, der nur Schüchternheit spielte, um geheimnisvoll zu wirken? Nein. In diesem Fall hätte sie ihr Gespür für das männliche Geschlecht völlig im Stich gelassen. Vielleicht war es seine Art zu sagen:
Marie, gib dir etwas mehr Mühe. Wie du siehst, bin ich heiß begehrt
. Vielleicht war er aber auch, und das konnte gut möglich sein, einfach nur naiv und sprang auf alles an, das lange Beine hatte. In diesem Fall würde er sich von Leo gerade mal in der Haarfarbe unterscheiden.
Marie stellte fest, dass Gisela vor lauter Übereifer den Hebel des Hohlstrahlrohrs komplett nach hinten geklappt hatte. Dadurch stand einer maximalen Wasserabgabe nichts mehr im Wege.
Diese Tatsache ermutigte Marie, die Pumpe am Löschfahrzeug umgehend zu betätigen. Das Wasser machte sich auf den Weg zum Verteiler. Meter um Meter füllte sich der Schlauch und straffte sein Äußeres. Wenig später hatte das Wasser den Verteiler erreicht. Zeit, Frau Gisela sich selbst und ihrem Schicksal zu überlassen.
»Simon? Kommst du mal? Irgendetwas stimmt hier mit dem Druckmanometer nicht! Es zeigt keinen Unterdruck an!«, rief Marie ihrem Kollegen zu.
»Vielleicht ist der Entwässerungshahn offen!«, rief Simon zurück. Marie tat, als würde sie ihn aufgrund des Pumpenlärms nicht verstehen.
»Einfach nur festhalten. Ich bin gleich wieder da«, wies Simon die Erzieherin an, die daraufhin mit festem Griff das
Rohr umklammerte. Stolz lächelte sie zu den Kindern, als hätte sie soeben ein Fohlen auf die Welt gebracht.
Ihre Kollegin zückte ihr Smartphone und schoss ein Foto. Jetzt füllte sich der Schlauch vom Verteiler zum Rohr. Nur noch wenige Meter …
»Was ist denn?«, fragte Simon, als er Marie fast erreicht hatte.
»Die Anzeige hier hat ein wenig gesponnen, aber … ach, sieh einer an. Jetzt funktioniert sie. Alles klar. Kannst weitermachen«, gab Marie grünes Licht.
In dem Moment, als sich Simon umdrehte, um zu Frau Gisela zurückzukehren, hatte das Wasser das Hohlstrahlrohr erreicht und schoss mit vollem Druck aus der Öffnung.
»Huch!«, schrie Gisela auf. »Simon!«
Frau Giselas Versuche, das Rohr zu bändigen, scheiterten kläglich. Der Druck war einfach zu mächtig.
»Boah!«, riefen die Kinder im Chor und jubelten vor Begeisterung. Endlich gab es mal Action in der Butterblumengruppe.
Michaela hingegen zeigte sich gefasst und entschied sich dafür, die Ereignisse via Handy für die Nachwelt festzuhalten. Sie wischte über das Display und wechselte von Foto auf Film und hielt die kleine Linse erneut auf ihre Kollegin.
Sekunden später verlor Frau Gisela das Gleichgewicht und fiel etwas unsanft auf ihren Po. Doch sie gab nicht auf und bewies Kampfgeist. Zeitweise sah es so aus, als würde sie mit einem Krokodil ringen. Immer wieder versuchte sie, das Rohr zu greifen, das sich jedoch vehement dagegen wehrte und zügellos das Löschwasser auf dem ganzen Innenhof verteilte. Das Feuer brannte weiterhin lichterloh.
»Marie! Die Pumpe aus!«, rief Simon.
Marie tat, als würde sie eifrig dazu beitragen, die Lage zu entschärfen. Ein paar Sekunden gab sie sich jedoch noch. Es
war einfach zu schön, mit anzusehen, wie Simon nun ebenfalls versuchte, den Schlauch, der sich mit dem Rohr wie eine wild gewordene Boa am Boden schlängelte, einzufangen. Frau Giselas lange Beine hatten mittlerweile maximale Bewegungsfreiheit, da ihr Rock seitlich eingerissen war. Auch ihre Haarspange hatte sich gelöst, was insgesamt zu einem recht lockeren Erscheinungsbild führte.
Als Simon endlich das Rohr in seine Finger bekam, hatte Marie die Pumpe bereits deaktiviert. Die letzten Liter dümpelten aus der Öffnung, bis Simon den Hebel nach vorne klappte und dem Zauber ein Ende bereitete. Dafür erntete er einen dicken Applaus der Butterblumengruppe.
Simon legte das Rohr zu Boden und sah an sich herab. Als er an diesem Morgen das Bett verlassen hatte, hatte er sicher nicht damit gerechnet, dass er noch vor dem Mittagessen bis auf die Boxershorts durchnässt auf dem Hof der Feuerwache 21 stehen würde.
Ganz Gentleman reichte er Gisela eine Hand und half ihr zurück in den Stand. Auch sie war von oben bis unten nass. Die Tatsache, dass sie eine weiße Bluse trug, ermöglichte allen Beteiligten einen Blick auf den Spitzen-BH, den sie darunter trug. Auf den zweiten Blick war durch den BH zu erkennen, dass sie fror. Auch ihr sorgfältig aufgetragenes Make-up ähnelte nun mehr einer Kriegsbemalung.
»Was war denn das?«, rief sie empört.
Marie kam hinzu und tat mitfühlend. »Simon, hattet ihr denn nicht den Hebel des Rohrs verschlossen?«
Der zuckte mit den Schultern und sah zu Frau Gisela.
»Kann sein, dass ich mich an dem Griff dort festgehalten habe«, versuchte sie zu erklären. »Nach hinten ist doch zu, oder?«
»Nein, dann ist es komplett geöffnet«, erklärte Simon. »Trotzdem, das war ganz allein meine Schuld. Ich hätte Sie nicht alleine mit dem Rohr …«
»Ach was«, lachte Gisela ein wenig gequält. »Das kann doch mal passieren. Ist ja glücklicherweise noch einmal gut gegangen.«
Marie hatte das Gefühl, als wollte sie sich vor den Kindern und ihrer Kollegin nicht die Blöße geben, emotional auf ihr Missgeschick zu reagieren. Schon gar nicht vor Simon, auf den sie offensichtlich ein Auge geworfen hatte. Stolz streifte sie ihren lädierten Rock nach unten und strich sich mit beiden Händen die nassen Haare nach hinten zu einem Zopf, den sie mit seitlich geneigtem Kopf wie einen Schwamm ausdrückte. Simon, noch immer ganz Gentleman, bot Gisela an, sie mit einem Handtuch und trockenen Klamotten zu versorgen, und geleitete sie zu den Waschräumen. Zwischenzeitlich hatten Leo und Silas das Feuer in dem Behälter fachmännisch gelöscht.
»Das war voll cool«, freute sich der kleine Philipp begeistert. Die anderen Kinder stimmten ihm zu. Michaela schwieg. Doch Marie entdeckte in ihrem Gesicht einen zufriedenen Ausdruck, während sie ihr Handy zurück in die Tasche steckte. Möglich, dass Marie nicht nur sich selbst an diesem Tag einen Gefallen getan hatte.
»Habt ihr gesehen, wie schnell meine beiden Kollegen das Feuer im Griff hatten?« Marie versuchte, wieder Ordnung in den Ablauf zu bringen. »Applaus für Leo und Silas!«, rief sie den Kindern zu, die umgehend ihrer Aufforderung folgten.
Marie stellte sich mitten in die Gruppe und ging in die Hocke. »Na? Wer von euch weiß denn schon, was man am Telefon sagen muss, wenn man die Feuerwehr anruft?«
»Ich weiß es. Darf ich es sagen?«, kam es schüchtern von einem kleinen Mädchen, das in zweiter Reihe stand.
Bevor ihr Marie das Wort erteilte, schaute sie zu Schillers Büro hinauf. Er stand am Fenster und verfolgte mit starrer Miene das Geschehen auf dem Hof. Marie verharrte kurz und sah ihn an. Der Wachleiter schüttelte den Kopf und verschwand von der Scheibe. Ihre Möglichkeiten, bei Schiller zu punkten, waren auch für diesen Tag dahin. Dennoch war Marie zufrieden. Die hitzigen Temperaturen im Hof der Feuerwache 21 waren auf ein erträgliches Maß zurückgegangen. Und das lag sicher nicht an dem beherzten Löscheinsatz von Leo und Silas.