DER NÄCHSTE
SCHRITT
»Darts? Ist das wirklich euer Ernst?«
Marie saß mit ihrer Tasse im halben Schneidersitz auf einem Stuhl und war über die Programmwahl ihrer Kollegen nicht sonderlich glücklich. Der Fernsehraum der Wache 21 war derjenige Bereich, der in ruhigen Nächten am meisten frequentiert wurde. Auch an diesem Abend. Auf den Gängen war nur vereinzelt jemand zu sehen, der Alarmgong blieb still und die Männer zerstreuten ihre Gedanken, um die Ereignisse des Tages abzulegen.
»Natürlich. Europameisterschaft. Wer guckt da nicht?«, verteidigte Leo seine Kollegen, die auf den Bildschirm starrten, wo Männer mit verbissenem Gesichtsausdruck ihre kleinen Pfeile auf die Scheibe warfen, in der Hoffnung, mit einem Bullseye zu punkten.
»Ich bitte euch. Das ist doch kein Sport. Ich meine, wer sieht sich denn freiwillig so etwas an? Ich berichtige – außer der Wache 21?«
»Also ich bin mir sicher, dass die Einschaltquoten gar nicht so schlecht sind. Besser, die Leute schauen sich so etwas an, bevor sie auf dumme Gedanken kommen und irgendetwas abfackeln«, meinte Silas und sah in die Runde. Einhelliges Nicken.
»Na, wenn man es von der Warte sieht«, gab Marie klein bei. »Weiß man eigentlich schon etwas von dem Dachstuhlbrand neulich? War es denn Brandstiftung?«
»Jonah meinte, der Brandursachenermittler gehe schwer davon aus«, sagte Leo. »Er vermutet sogar, dass dort kein Laie am Werk war.«
»Das ist ja ein Ding! Dann ist es wahrscheinlich eine Frage der Zeit, bis der oder die …«
»… wieder zuschlagen wird. Ganz genau«, beendete Leo den Satz, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden.
Marie wartete, ob die Unterhaltung vielleicht Fahrt aufnehmen würde. Als von den Jungs aber nichts weiter kam, seufzte sie und sagte: »Ich gehe auf mein Zimmer. Sonst schlafen mir bei dem spannenden Programm noch die Füße ein.«
Silas lachte. »Ihr Frauen müsst gerade reden. Ihr seht stundenlang irgendwelchen Leuten beim Kochen zu!«
»Immer langsam!«, protestierte Lorenz. »Nix gegen Kochsendungen, ja?«
»Entschuldige! Ich vergaß, dass du ja unser Oberfeinschmecker bist. Na, dann eben Shoppen. Wo liegt der Sinn darin, mir eine Stunde lang anzusehen, wie jemand auf Zeit von einem Geschäft ins andere rennt, um sich etwas zum Anziehen zu suchen?«
»Das verstehst du nicht, Silas.
Wir Frauen
legen nun einmal Wert auf unser Äußeres. Wenn die Schuhe nicht zum restlichen Outfit passen, hat das Leben einfach keinen Sinn mehr.«
Silas verdrehte die Augen.
»Psst«, zischte Leo. »Er braucht jetzt nur noch ein Trippel-Zwanzig, dann spielt er in der Endrunde!«
»Okay, das war mein Stichwort. Weckt mich, wenn etwas Spannendes kommt«, lachte Marie und verließ mit ihrer Tasse den Fernsehraum.
Dass ihr niemand eine gute Nacht wünschte, wunderte sie nicht. Viel zu gebannt sahen die Kollegen auf den Bildschirm und fieberten mit den Kontrahenten.
Marie ging zu ihrem Ruheraum am Ende des Ganges. Die Tür gegenüber öffnete sich.
»Simon! Die Jungs haben dich schon vermisst.«
Er trug Sportkleidung, über der Schulter hing ein Frotteehandtuch und in der Hand hielt er eine Wasserflasche.
Marie gefiel, was sie sah. Das enge Shirt betonte seine trainierten Arme und ließ erahnen, dass noch ein Sixpack darunter verborgen war. Die kurze Sporthose gewährte einen Blick auf seine muskulösen Waden, die sich ebenfalls sehen lassen konnten.
»Ich mache mir nicht viel aus Dart.« Simon lächelte und wirkte dabei, als hätte Marie ihn gerade mitten aus seinen Gedanken gerissen.
»Und? Was hast du noch vor?« Kaum hatte Marie diese Frage gestellt, musste sie lachen. »Entschuldige. Was wirst du in diesen Klamotten wohl vorhaben.«
»Ja, ich pumpe gern vor dem Schlafengehen noch ein paar Eisen. Und du?«
»Ich, äh, ich glaube, ich werde noch etwas lesen.«
Simon nickte. »Na dann – man sieht sich.«
»Ja, klar.«
Marie betrat ihr Zimmer, verschloss die Tür und verweilte dort noch einen Augenblick. Vielleicht hatte er es darauf angelegt, dass sie sich über den Weg liefen.
Ich werde noch etwas lesen
, hatte sie gesagt. Simon, ein paar Jahre älter als sie, stemmte abends ein paar Gewichte, während sie im Schein ihrer Nachttischlampe in einer Liebesschnulze schmökerte. Marie fasste sich an die Stirn. Womöglich stellte er sie sich gerade in diesem Augenblick in einem Bärchen-Schlafanzug vor.
Etwas hibbelig öffnete sie den schmalen Kleiderschrank und ein paar gezielte Handgriffe später lagen eine lila Dreiviertel-Leggins und ein schwarzes Top, das aussah, als hätten ein paar Mäuse dran geknabbert, auf ihrem Bett. Schnell schlüpfte sie in die Sachen und streifte ein paar verwaschene Sportsocken über ihre Füße. Nachdem sie sich den zweiten Turnschuh geschnürt hatte, sah sie an sich hinab. Sie griff sich ihr Handy und schrieb eine WhatsApp.
MA: Heidi, wir müssen shoppen gehen.
HE: Dessous?
MA: Sportklamotten.
HE: Wie langweilig! :-(
Marie warf das Handy aufs Bett, schnappte sich ein Handtuch aus dem Schrank und machte sich auf den Weg hinunter in den Fitnessraum. Auch wenn sie Zweifel hatte, ob es richtig war, Simon in die Muckibude zu folgen, so war es immer noch besser, als weiterhin diesen bescheuerten Eiertanz aufzuführen.
»Hi.«
»Na, das Buch schon zu Ende?«
»Nö. Irgendwie bin ich noch zu aufgekratzt, um ins Bett zu gehen. Du hast mich angespornt. Stört es dich, wenn ich dir Gesellschaft leiste?«
»Iwo. Mach nur!«
Mach nur
, sagte er. Als ob es ihm gleichgültig wäre, dass sie nun mit ihm alleine im Fitnessraum war. Er schnappte sich zwei Kurzhanteln und begann mit einem Satz Bizeps-Curls. Marie wärmte sich auf dem Crosstrainer auf. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie ihn. Konzentriert und mit starrem Blick achtete
er auf seinen Oberarm und darauf, die Übung sauber durchzuführen. Bei der letzten Wiederholung stöhnte er kurz, dann legte er die Hanteln ab. Er zog sein Handtuch über die Stirn und trank aus seiner Flasche. Marie räusperte sich, doch Simon reagierte nicht.
Ein paar Minuten später, nachdem sie sich ausreichend aufgewärmt hatte, legte Marie ihr Handtuch auf die Hantelbank und legte zwei leichtere Gewichtsscheiben auf. Dann legte sie sich unter die Stange, umgriff mit beiden Händen in gleichmäßigem Abstand von den Gewichten die Stange und hob die Hantel an. Nach zwei Wiederholungen hatte sie endlich Simons Aufmerksamkeit. Wie ein Personal Trainer begutachtete er, wie sie die Übung ausführte.
»Darf ich dir helfen?« Er stellte sich ans Kopfende und griff unterstützend unter die Stange.
»Gern«, schnaufte Marie. »Ich glaube, ich habe die Langhantel ein wenig unterschätzt. Bisher habe ich ausschließlich mit geführten Gewichten gearbeitet.«
»Ich verstehe. Also das erste Mal.»
»Sozusagen.« Marie presste ihre Lippen aufeinander und stemmte das Gewicht erneut zur Decke.
»Du musst gleichmäßig anheben. Links kommst du einen Tick zu spät.«
Marie korrigierte die Lage der Stange und drückte jetzt die Stange symmetrisch von ihrer Brust weg.
»Ja, gut so. Schau, dass dein Rücken komplett auf der Bank liegt. Sonst tust du deinen Bandscheiben nichts Gutes.«
»Mache ich es so richtig?« Sie atmete schwer.
Simon stellte sich seitlich zur Bank und fuhr mit seiner Hand zwischen Bank und Maries Rücken.
»Drück dich mit dem Rücken gegen meine Hand. Siehst du, da ist immer noch Luft.«
Marie tat, was er sagte, und presste sich gegen seinen Handrücken. Sie spürte jeden einzelnen seiner Finger an ihrer Wirbelsäule.
»Besser«, sagte er, zog seine Hand heraus und griff nach der Stange, um sicherzugehen, dass Marie sie nach der letzten Wiederholung komplett auf der Halterung ablegte.
»Puh!«, schnaufte Marie. »Das geht ganz schön in die Arme.«
»Da soll es ja auch hin.« Er sah schmunzelnd zu Marie herab. »Fürs erste Mal hast es super gemacht. Quasi ein Naturtalent.« Seine Augen glänzten. Marie konnte die Berührung seiner Hand an ihrem Rücken immer noch spüren.
Simon sah ihr etwas länger in die Augen als sonst, und Marie hatte das Verlangen, ihn einfach am Shirt zu sich herunterzuziehen und zu küssen. Ihr Herz pochte vor Anstrengung und Aufregung gleichermaßen.
»Eine Minute ist rum. Zweite Runde?«, schlug Simon vor und machte sich bereit, erneut Hilfestellung zu geben.
Marie nickte und griff nach der Stange. Dabei berührte sie seine Hände, verweilte so und sah ihm tief in die Augen.
Simon ließ es geschehen, was Marie als einen Fortschritt verbuchte. Dann glitten ihre Hände an der Stange entlang, bis sie die endgültige Position erreichten und ihre Finger sie fest umschlossen. Marie atmete tief ein und hob die Stange an. Mit festem Blick fixierte sie sein Gesicht. Sie hatte den Eindruck, er würde ihren Körper scannen, und es gefiel ihr. Nur zu gern hätte sie nochmals seine Hand an ihrem Rücken gespürt. Und dann hätte er ihren Bauch berühren dürfen und seine Hände wären hinauf zu ihren Brüsten gewandert. Wo sie dann …
»Reicht schon«, unterbrach Simon ihre Gedanken. »Nicht zu viele Wiederholungen pro Satz.«
»Ich habe überhaupt nicht mitgezählt«, meinte Marie, atmete tief aus und setzte sich auf. »Puh, da wird mein Bizeps aber wachsen«, witzelte sie und massierte sich ihre Arme.
»Na, dafür ist die Hantelbank aber nicht geeignet. Damit trainierst du die Brust und deinen Trizeps.« Simon stellte sich hinter Marie und berührte die Rückseiten ihrer Oberarme.
Ein leichter Schauer fuhr Marie durch den Körper, die feinen Härchen auf ihrer Haut stellten sich auf. Sie schloss die Augen. Was machte er nur mit ihr?
»Deinen Bizeps trainierst du mit ein paar Curls mit der Kurzhantel. Auch dabei ist die saubere Ausführung wichtig.«
Bisher hatte sich Marie fast ausschließlich um ihre Ausdauer gekümmert. Wie es schien, kannte sich Simon bestens mit dem Gewichtstraining aus, was sein Körper eindeutig bewies. Marie gefiel, wie er sich zuvor bemüht hatte, ihr die Übung zu zeigen, ohne dabei überheblich zu wirken. Demnach sprach nichts dagegen, von seinem Wissen zu profitieren.
»Zeigst du mir das Bizeps-Training?«
»Kein Problem.«
Simon ging in die andere Ecke des Raumes und schnappte sich eine leichte Kurzhantel. Marie folgte ihm und setzte sich auf die Trainingsbank.
»Siehst du?« Er setzte sich neben sie. »Wichtig ist eine gleichmäßige und ruhige Bewegung im perfekten Winkel. Den Arm drückst du gegen dein Bein.«
Ich wüsste noch andere Sachen, die du gegen mein Bein drücken darfst. Und ganz nebenbei fällt mir auch etwas zu deinen gleichmäßigen Bewegungen ein
, dachte sich Marie und folgte mit interessierter Miene Simons Einweisung. Sein Bizeps presste sich bei jeder Aufwärtsbewegung der Hantel nach außen.
»Wie ich sehe, trainierst du öfter.«
Simon lächelte und übergab die Hantel an Marie. »Jetzt du.«
Wieder berührten sich ihre Hände. Sie spreizte ihre Beine etwas auseinander, beugte sich nach vorne und begann mit der Übung. Nach zwei Wiederholungen sah sie zu ihm.
»So richtig?«
Er rückte etwas näher an sie heran. »Ist schon ganz gut, nur den Oberarm noch etwas mehr an den Oberschenkel pressen.« Simon griff unterstützend nach Maries Hand, die die Hantel umklammerte.
Er war ihr nun so nah, dass sie den Geruch seiner Haut wahrnehmen konnte. Sie spürte seinen Atem, der sanft wie eine Feder ihren Hals liebkoste. Wie ein Magnet schien sein Körper den ihren anzuziehen.
Marie stoppte vor der nächsten Wiederholung und drehte ihren Kopf zu Simon. Ihr Blick wechselte zwischen seinen Augen und seinem Mund hin und her. Er schwieg und schaute sie einfach nur an. Marie befeuchtete ihre Lippen und fixierte seinen Mund. Sie kam ihm näher.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis auch Simon begriff, dass das Unvermeidliche unmittelbar bevorstand. Er nahm Marie die Hantel aus der Hand und legte diese, ohne den Blick von ihrem zu lösen, auf dem Boden ab. Sanft umgriff er ihr Gesicht mit beiden Händen und zog sie näher zu sich heran.
Willenlos ließ sie es geschehen und schloss langsam ihre Augen.
Dann berührten sich erstmals sanft ihre Lippen für einen kurzen Moment. Marie löste sich von ihm, sah ihn an, um sicherzugehen, dass auch er es wirklich wollte.
Simon blickte ihr tief in die Augen. In diesem Blick erkannte Marie, dass er diesen Kuss nicht bereute, und presste ihre Lippen nun stärker auf seinen Mund. Sie küssten sich so selbstverständlich und perfekt, als hätten sie es hundertmal geprobt.
Als Simon ihren Körper fest umgriff, beschleunigte ihr Atem. Ihre Zungen umkreisten sich, während Simons Hand an Maries Rücken hinabglitt. Erregung schoss durch Maries Körper und bereitete sie auf den nächsten Schritt vor.
Schon lange nicht mehr hatte sie sich zu einem Mann so intensiv hingezogen gefühlt. Sie legte ihre Hand an seine Brust und ließ sie hinabgleiten, stoppte jedoch kurz vor seinem Schritt. Auch Simon atmete nun erregt, als seine Hand Maries Po erreichte. Marie blendete alles um sich herum aus und war bereit für das, was nun kommen würde.
Umso überraschter war sie, als Simon sie plötzlich von sich wegdrückte. Erschrocken sah er sie an und wischte mit den Fingern über den Mund.
»Was ist los?«, hauchte Marie.
»Ich … ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe«, kam es aus Simons Mund.
Marie glaubte, sich verhört zu haben. Sie ließ von ihm ab.
»Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Nein, es liegt nicht an dir. Es tut mir leid, wenn ich …« Er stand auf.
Marie fühlte sich nicht imstande, sich zu bewegen. Versteinert sah sie ihn an und wusste nicht, wie ihr geschah.
Völlig durch den Wind schnappte er sich sein Handtuch samt Flasche und ging zur Tür. Dort drehte er sich nochmals zu Marie um.
»Sorry«, sagte er knapp und tat sich schwer, ihr in die Augen zu sehen. Dann öffnete er die Tür.
Marie fing sich wieder, bevor er verschwinden konnte. »Was ist eigentlich mit dir los?«, fragte sie in einem etwas forscheren Ton.
Er blieb stehen und ließ einen Moment verstreichen. Sein Blick wanderte zu ihrem Gesicht. Sie sah ihm an, dass er versuchte, die richtigen Worte zu finden.
»Nun sag schon!«
»Ich schütze mich nur vor mir selbst.« Dann ging er und schloss die Tür hinter sich.
Maries Gefühle wechselten zwischen Wut, Traurigkeit und Erregung hin und her. Sie ließ die letzten Minuten Revue passieren. Hatte sie etwas falsch gemacht? Sie verwarf den Gedanken, da sie absolut nicht das Gefühl hatte, es hätte ihm nicht gefallen. Am liebsten wäre sie ihm nachgelaufen, um ihn erneut zur Rede zu stellen. Marie musste sich zusammenreißen, um nichts Unüberlegtes zu tun. Das war genau die Situation, die sie hatte vermeiden wollen: Sie und ein Kerl bei der Arbeit, und es war kompliziert.
Marie blieb noch eine Weile sitzen und hoffte, dass an diesem Abend niemand mehr den Fitnessraum aufsuchte. Hatte sie sich zu schnell ihrer Leidenschaft hingegeben? Sie sah nach unten auf die Hantel, die Simon zuvor auf dem Boden abgelegt hatte. Marie hob sie auf und begann mit einem weiteren Satz Bizeps-Curls. Mit jeder Wiederholung lichtete sich ihr Ärger mehr, und er war gänzlich verflogen, als sie nochmals über ihre Lippen schmeckte. Sie hatte ihn geküsst. Simon Leitner. Groß, gutaussehend, sportlich. Schließlich gab es Schlimmeres. Marie wandelte ihre Selbstzweifel um in Stolz. Sie war es, die für diesen Moment die Initiative ergriffen hatte. Nun war er an der Reihe.
Simon schloss die Tür seines Ruheraums und drückte den Rücken dagegen. Sein Hinterkopf knallte zweimal gegen das Holz.
»Verdammt, verdammt!«, schimpfte er mit sich. »Was machst du Vollidiot denn nur?«
Er warf sein Handtuch aufs Bett und stellte die Flasche auf den Tisch. Wie konnte er es nur zulassen, derart die Kontrolle über sich zu verlieren? Was, wenn einer seiner Kollegen plötzlich in den Fitnessraum gekommen wäre?
Klar, er fühlte sich stark zu Marie hingezogen, doch der Preis, den er vielleicht für diese Unbesonnenheit zahlen müsste, war einfach zu hoch. Für seine Kollegen wäre es doch ein gefundenes Fressen, wenn sie ihn zusammen mit Marie erwischten. Auf die dummen Sprüche, die auf ihn einprasseln würden, konnte er gut verzichten. Allen voran auf die von Schiller.
Simon stützte sich auf die Fensterbank und sah hinaus. Es dämmerte bereits. Er schloss die Augen. Ein schlechtes Gewissen überkam ihn. Während er feige auf sein Zimmer geflüchtet war, saß Marie wahrscheinlich immer noch unten und verstand die Welt nicht mehr. Sollte er hinuntergehen? Es ihr erklären?
Simon ging zur Zimmertür und nahm die Klinke in die Hand. Er drückte sie hinunter. Doch ohne die Tür auch nur einen Spalt zu öffnen, ließ er die Klinke schließlich in die Ausgangsposition zurückgleiten.
Was sollte er ihr sagen? Dass das alles ein Missverständnis war? Dass er sich nicht in sie verliebt hatte? Das wäre eine glatte Lüge gewesen und würde sie noch mehr verletzen. Und dass er seine Passion, Feuerwehrmann auf der Wache 21 zu sein, nicht aufs Spiel setzen wollte, war sicher das Letzte, das eine Frau nach einem stürmischen Kuss hören wollte.
Simon setzte sich aufs Bett. Aber genauer betrachtet war es nicht seine Schuld, oder? Schließlich hatte sie es eindeutig darauf angelegt. Warum war sie ihm denn in den Fitnessraum gefolgt? Bestimmt nicht, um ein paar Gewichte zu stemmen. Hätte sie ihn nicht so angesehen, dann …
»Nein«, flüsterte er.
Marie durfte er nicht dafür verantwortlich machen. Er war ein erwachsener Mann, der stets die Kontrolle über sich haben sollte.
Simon hörte, wie gegenüber die Tür zufiel. Marie war auf ihr Zimmer gegangen. Sollte er bei ihr klopfen? Niemand würde sie beide auf ihrem Zimmer stören, sie hatte als Einzige auf der Wache einen Ruheraum für sich allein.
Sofort verwarf Simon diesen Gedanken. Bereits seine bloße Anwesenheit als Feuerwehrmann im Zimmer einer Feuerwehrfrau würde Schiller genügen, und er würde schneller seinen Spind räumen, als er »Wir haben doch nur geredet
«
sagen könnte. Hätte er Marie doch nur in einem Supermarkt kennengelernt! Warum konnte sie nicht immer noch Köchin sein oder als Sekretärin in einem Büro arbeiten?
Doch Simon war klar, dass dieser Wunsch eine Farce war. Er lernte keine Frauen im Supermarkt kennen. Weder dort noch auf der Straße.
Er ließ seine bisherigen Beziehungen Revue passieren. Entweder, er hatte seine Freundinnen auf einer Party kennengelernt, oder über Bekannte. Bis auf das eine Mal. Nein, es durfte nicht noch einmal passieren. Simon war noch nie der Typ gewesen, der einfach eine Frau auf der Straße oder in der U-Bahn ansprach. Jederzeit würde er sich, ohne mit der Wimper zu zucken, mit breiter Brust einer Feuerwand entgegenstellen. Kein Berg war ihm zu hoch gewesen, den er mit seinem Mountainbike erklommen hatte, um ihn anschließend mit einem breiten Grinsen waghalsig hinunterzurauschen. Doch wenn es um Frauen ging, überkam ihn stets ein Schwall aus Unsicherheit und Zweifeln.
Nur bei Marie war das anders. Obwohl er sie kaum kannte, hatte er sich vom ersten Moment an zu ihr hingezogen gefühlt. Eigentlich kein Wunder. Marie war bildhübsch und hatte eine tolle Figur. Doch es war mehr an ihr, etwas, das ihn von Anfang
an fasziniert hatte. Diese Leichtigkeit, die sie ausstrahlte, zog in magisch an und übertrug sich auf ihn, wenn sie in seiner Nähe war.
Leider beruhte diese Nähe auf ihrer gemeinsamen Arbeit, was ihm die Erfüllung seines Wunsches, mit Marie zusammenzusein, verwehrte. Dabei war er sich sicher, dass sie die Richtige für ihn war. Und er hatte die Gewissheit, dass die Gefühle, die er für sie hegte, auf Gegenseitigkeit beruhten.
Leider stand auch bombensicher fest, dass er sich mit dem Kuss in eine Lage gebracht hatte, die einem Buschfeuer gleichkam, das ihn eingekesselt hatte. Um da wieder herauszukommen, war wohl etwas mehr nötig als ein schlichtes »sorry«.