STILLE AM
UFER
»Ich kann’s kaum fassen, dass du ihm nicht gefolgt bist. Das hätte ich nicht auf mir sitzen lassen. Dir erst die Zunge in den Hals schieben und sich dann mit einem dummen Spruch aus dem Staub machen! So weit kommt’s noch! Was hat er gleich noch mal gesagt?«
»Heidi! Geht es vielleicht noch lauter?«, zischte Marie aus der Umkleidekabine. »Vielleicht haben dich die Damen vorne an den Kassen noch nicht gehört!«
»Nun sag schon!« Heidi ließ nicht locker.
Marie streckte den Kopf durch die Vorhänge. »Dass er sich vor sich selbst schützen müsse.«
»Und wer schützt die Frauenwelt vor ihm? Greenpeace? Käpt’n Blaubär?«
Marie zog die Vorhänge wieder zusammen und schlüpfte in eines der Outfits, die sie zuvor aus den Regalen zusammengestellt hatte. »Vielleicht bin ich aber auch selbst schuld.«
»Wie bitte!? Ich glaube, ich höre wohl nicht richtig. Wieso das denn?«
Marie kam auf Socken und in knöchellangen Leggins aus der Kabine und begutachtete sich im Spiegel. »Na, vielleicht habe ich ihn ein bisschen überrumpelt. Und … vielleicht war es
auch Quatsch, deine Tipps auszuprobieren. Das bin ich einfach nicht.«
Heidi atmete schwer aus, griff nach Maries Schultern und drehte sie zu sich. »Ein bisschen überrumpelt?« Sie drehte ihre Freundin wieder zum Spiegel und sah mit ihr hinein. »Sieh dich doch mal an. Du bist jung, du bist schön, alle wollen so sein wie du.«
Marie sah ihre Freundin im Spiegelbild an. »Du willst so sein wie ich?«
»Okay, ich berichtige: Fast alle wollen so sein wie du. Ein Kerl, der sich von dir überrumpelt fühlt, spielt vielleicht doch in einer anderen Mannschaft oder ist verklemmt. Auf wen wartet er denn? Rebecca Ferguson?«
»Wer ist das?«
»Das spielt doch keine Rolle. Fakt ist, du hast alles richtig gemacht.« Heidi entfernte sich einen Schritt und musterte Marie von oben bis unten. »Außer bei dieser Hose. Lila ist definitiv nicht deine Farbe. Lila ist von niemandem die Farbe.«
»Was stimmt denn damit nicht?« Marie drehte sich, um sich von der Seite zu betrachten.
»Außerdem ist sie zu lang. Da sieht ja niemand deine Beine. Du hast so schöne Beine«, schmachtete sie.
»Aber dann muss ich sie ständig rasieren«, setzte Marie dagegen.
»Das musst du so oder so. Immer vorbereitet sein, meine liebe Marie. Was ist, wenn es mal überraschend zum Äußersten kommt? Willst du bei deinem Lover dann erst ins Bad und dir die Beine enthaaren?«
Marie zog wortlos eine Schnute. Dann blickte sie wieder in den Spiegel und zupfte an ihrem Oberteil herum. »Und was sagst du zu diesem Top?«
Heidi bedachte ihre Freundin mit einem weiteren prüfenden Blick. »Hm, vielleicht gibt es ja etwas mit Rollkragen …,
oder besser, eine Jacke mit Kapuze. Dann sieht man überhaupt nichts mehr von dir.«
»Heidi, also weißt du, ich …«
»Was denn? Glaubst du, ich opfere hier meine Mittagspause, um dir beratend zur Seite zu stehen, während du dich bis obenhin zuschnürst und unter Wert verkaufst? Du bist jung und hast eine klasse Figur. Ich wäre froh, wenn ich so ein samtiges Dekolleté hätte.«
»Tja, Heidi, das liegt daran, dass ich mich nicht jeden Sommer so erbarmungslos in die pralle Sonne knalle.«
Heidi kniff die Augen zusammen. »Ich möchte nun einmal gebräunt sein und nicht die Hauptrolle in ›Twilight‹ spielen.«
»Also, welche Art von Oberteil schlägt meine Chefeinkäuferin vor?«
»Tiefer Ausschnitt, seitlich geschlitzt, eine andere Farbe und am Rücken überkreuzte Träger. Das hebt deinen Busen weiter nach oben und lässt ihn voller wirken.«
Marie ersparte sich eine nähere Erörterung dieses Kommentars und tapste auf ihren Söckchen erneut zu den Regalen.
»Und nimm eine Nummer kleiner. Schlabberlook ist out!«, rief Heidi ihr hinterher.
Marie stoppte und drehte sich um. »Wie wäre es, wenn du mir was aussuchst?«
»Na bitte, geht doch.« Heidi schnappte sich ihre Handtasche und folgte ihrer Freundin. »Ich dachte schon, du fragst nie.«
Am nächsten Abend nutzte Marie die erste gute Gelegenheit, um erneut den Fitnessraum aufzusuchen.
Tagsüber war nicht viel los gewesen. Nur ein defekter Kontakt an einer Brandschutztür im Seniorenheim und ein kleiner Verkehrsunfall ohne Personenschaden. Also würde Marie sich um ihre Strandfigur kümmern, die in letzter Zeit durch
nächtliche Nudelorgien mit Heidi auf ihrem Balkon gelitten hatte. Was nützten schließlich die coolsten Sportklamotten, wenn sie im Kleiderschrank ihr Dasein fristeten? Außerdem hatte sie beschlossen, sich nicht zu verstecken. Simon hatte sich den ganzen Tag über rar gemacht und sie nur kurz im Vorbeigehen gegrüßt. Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass sie das irgendwie verunsicherte.
Als Marie die Muckibude betrat, waren der Azubi Tobias und Lorenz gerade dabei, ihre Muskeln zu stählen. Das heißt, eigentlich saßen die beiden nur je auf einer Hantelbank und unterhielten sich.
»Was dagegen, wenn ich zu euch stoße?«, fragte Marie, als sie die Tür hinter sich zumachte.
»Quatsch. Komm nur rein«, lud Tobi seine Kollegin ein.
Marie hatte kurz das Gefühl, sie wäre in die Umkleide des FC Bayern gestolpert, da der Azubi das komplette Trikot des Vereins trug. Lorenz hingegen war ganz unaufgeregt in eine graue Jogginghose samt weißem T-Shirt gekleidet.
»Cooles Tanktop!«, bemerkte Lorenz. »Neu?«
Marie sah an sich runter. »Ach was«, flunkerte sie, »das alte Ding.«
Sie legte ihr Handtuch auf einen Stuhl und bestieg den Crosstrainer. »Über was redet ihr?«
»Nur über diesen Bericht in der Onlineausgabe der Tageszeitung«, informierte Lorenz seine Kollegin.
»Warum? Was steht denn da?«
Tobi drehte Marie das Display sein Tablets zu, doch sie war zu weit entfernt, um etwas lesen zu können. Daher übernahm Lorenz das für sie.
»Hat der Brandstifter seine Ruhe gefunden?«
Marie sah verdutzt drein und setzte das Trainingsgerät in Gang. »Ich verstehe nicht …«
»Es geht in dem Bericht darum, ob die Brandstifterei nun ein Ende gefunden hat, weil schon längere Zeit nichts mehr passiert ist.«
Marie schüttelte den Kopf. »Sind die bescheuert? Dann könnten die ja gleich schreiben: ›Ist dem Brandstifter das Benzin ausgegangen? Wann schlägt er endlich wieder zu?!‹«
Die beiden Jungs nickten zustimmend.
Marie beschleunigte die Frequenz. »Das ist ja fast schon eine Aufforderung. Da sieht man mal wieder, welche Sensationsgier hinter manchen Reportagen steckt. Außerdem ist die Sache mit dem Dachstuhlbrand noch gar nicht so lange her.«
»Schon, aber ehrlich gesagt fragen wir uns auch, wann es wieder so weit sein wird. Ich meine, so ein Typ hört doch nicht plötzlich damit auf«, bemerkte Tobi und schnappte sich eine Hantel.
»Wo bleibt denn bitte schön euer Sinn für Gleichberechtigung? Es könnte immerhin auch eine Frau dahinterstecken«, sagte Marie erzieherisch. »Es ist ja in Ordnung, wenn man sich Gedanken über die Sache macht. Aber muss es denn gleich überall auf Seite eins stehen? Das gibt solchen Menschen viel zu viel Aufmerksamkeit.«
Lorenz entschloss sich, auch etwas für seine Ausdauer zu tun, und wechselte auf das Spinning-Rad.
Marie hatte nichts dagegen, mit den zwei Jungs im Raum allein zu sein. Das verschaffte ihr die Gelegenheit, mit Lorenz ein normales Gespräch zu führen, wenn die restlichen Kollegen nicht dabei waren. Die waren viel zu sehr damit beschäftigt, den Wettstreit zwischen ihr und dem Hobbykoch zu entfachen, den weder sie noch Lorenz wollten.
»Was, wenn es jemand von der Zeitung ist?«, fragte Marie.
Die beiden Kerle sahen sich an. »Das kann ich mir nicht vorstellen«, meinte Lorenz. »Das wäre schon sehr naheliegend, einen Brand zu entfachen, nur damit man eine Schlagzeile hat.«
»Und? Nur, weil es nicht total naheliegend klingt, kann es dennoch so sein.«
Die beiden sahen Marie an, ließen ihre Aussage jedoch unkommentiert.
Marie trat weiter fleißig auf dem Crosstrainer und kam langsam ein wenig ins Schwitzen. Sie fragte sich, ob Simon vielleicht doch noch kommen würde. Aber wahrscheinlich hätte er bei ihrem Anblick auf dem Absatz kehrt gemacht – unter dem Vorwand, den Herd nicht ausgeschaltet zu haben oder irgend einem anderen Schwachsinn. Schade fand sie es trotzdem, dass er sie an diesem Abend in ihrem neuen Outfit nicht zu Gesicht bekam. Für Lorenz und Tobi hätten die lila Leggins allemal gereicht.
»Dein Gulasch heute Mittag war übrigens klasse«, wechselte Lorenz das Thema.
Marie war sich nicht sicher, ob er ihr damit einen Seitenhieb verpasste oder es wirklich ernst meinte.
»Findest du?«
»Mhm. War gut abgebunden. Bei mir flockt jedes Mal die Crème fraîche, wenn ich sie unterziehe.«
Marie wunderte sich. War dies eine Fachfrage, die der Hobbykoch ihr gestellt hatte, oder wollte er sie testen?
Sie lächelte. »Das ist mir auch schon passiert. Bis mir mein damaliger Chef den Tipp gab, den Topf ein paar Minuten vom Herd nehmen, bevor ich sie hinzugebe. Wenn sie flockt, ist es zu heiß.«
Lorenz tat, als würde ihm das absolut einleuchten. Tobi hielt sich aus diesem Gespräch gänzlich raus. Für einen Kerl in seinem Alter bedeutete das Thema Essenszubereitung vermutlich, zum nächsten Fast-Food-Restaurant zu fahren und dort zu bestellen.
»Vielleicht hast du ja mal das eine oder andere Rezept für mich«, fragte Lorenz vorsichtig und hob die Augenbrauen.
»Klar. Aber nur, wenn wir tauschen. Ich bin mir sicher, du kannst mir auch das eine oder andere Geheimnis aus deiner Küche verraten.«
Dieser Satz bewirkte bei Lorenz eine aufrechte Sitzposition. »Ja, gern.«
»Mir reicht’s für heute. Außerdem habe ich jetzt Hunger, und ihr seid schuld«, stöhnte Tobi, legte die Hantel zurück und schnappte sich sein Handtuch.
»Ich auch«, schloss sich Lorenz an und stieg vom Spinning-Rad ab. »Also, man sieht sich.«
»Ja«, verabschiedete sich Marie, während sie auf dem Crosstrainer weiter Strecke machte. »Bis später!«
»Hoffentlich nicht«, meinte Lorenz. »Ich bin etwas müde und hätte nichts gegen eine ruhige Nacht.« Dann schloss er die Tür.
Marie schmunzelte und machte innerlich auf ihrer imaginären Liste einen Haken hinter Lorenz’ Namen. Einer weniger, der ihre Anwesenheit missbilligte. Blieben nur noch Günther und Schiller. Wobei Günther im Allgemeinen wechselhaft mit seiner Laune war, seit sie ihn kannte. Deshalb erschloss es sich ihr noch nicht so ganz, ob er sie als Kollegin schon akzeptiert hatte, oder nicht.
Marie steigerte erneut die Trittfrequenz, als die Tür zum Fitnessraum aufging. Fast stockte ihr der Atem. Was, wenn nun doch Simon …
»Hallo, Marie. Fleißig, fleißig!«
»Ach, du bist es, Jonah.« Marie schien erleichtert.
Jonah drehte sich um, dann sah er wieder zu Marie. »Wen hast du denn erwartet?«
»Niemanden. Das war nur so eine Floskel«, sagte sie verschämt und trank vorsorglich aus ihrer Flasche, um sich und Jonah weitere nichtssagende Sprüche zu ersparen. Jonah bestieg das Spinning-Rad, um sich aufzuwärmen.
»Und?«, fragte er.
»Was meinst du?«
»Ich meine, gefällt es dir bei uns? Jetzt bist du ja doch schon einige Zeit hier. Ich hoffe, unser Haufen benimmt sich dir gegenüber manierlich und ist nicht allzu anstrengend.«
»Da kann ich dich beruhigen. Sie sind alle nett zu mir. Natürlich holpert es an der einen oder anderen Stelle noch ein wenig, aber …«
»Du meinst Schiller«, unterbrach Jonah.
Marie sagte nichts dazu, was für den Wachabteilungsleiter natürlich einem Ja gleichkam.
»Mach dir nichts draus. Der ist einfach so. Ein Typ der alten Schule. Wenn man ihn länger kennt, kann er auch nett sein – habe ich gehört«, fügte er noch hinzu und lachte.
»Und wie lange ist das? Habe ich eine Chance, das vor meinem Ruhestand zu erleben, oder muss ich dafür unsterblich werden?«
Jonah lachte erneut. »Das kommt ganz darauf an, ob du ihn auch privat treffen willst. Denn eines steht fest: Er wird definitiv vor dir in Pension gehen.«
»Auch wieder wahr.«
Stille. Nur das Säuseln der Geräte war zu hören. Dann setzte Jonah erneut an:
»Schon was vor in deiner viertägigen Freischicht?«
Marie zuckte die Achseln. »Ich werde wohl spontan etwas unternehmen. Vielleicht fahre ich heim nach Steingaden. Und übermorgen ist ja erst einmal die Blaulichtparty«, stellte sie fest.
»Ach ja, stimmt. Schon einmal dort gewesen?«
»Klar! Das war ein Muss für die Hauptwache. Wer nicht auf der Party war, musste dafür später einen ausgeben.«
Jonah nickte. »Bei uns wird das etwas lockerer gesehen. Allerdings gibt es bei uns auch einige Kandidaten, für die diese Party eine größere Bedeutung hat als Weihnachten.«
Beide lachten. Und damit sollte es an Plauderei für diesen Abend auch genug sein. Der Alarmgong ertönte.
»
Erstes HLF – Person am Kleinhesseloher See vermisst
.«
Sie ließen ihre Handtücher zurück und liefen aus dem Fitnessraum. Für beide war das nicht der schlechteste Zeitpunkt für einen Einsatz. Jonah hatte bereits Betriebstemperatur und Marie – bekam nun doch noch die Gelegenheit, Simon ihr neues Outfit zu zeigen. Wenn auch nur für einen Augenblick.
»Auf geht’s«, wies Jonah Simon an, als er mit dem Alarmfax auf den Beifahrersitz sprang. Marie und Erik sowie Leo und Silas waren bereits im Fahrzeug. Das Rolltor war geöffnet und Simon fuhr aus der Fahrzeughalle.
»Wir werden immer schneller«, lobte Jonah die Mannschaft. »Noch ein bisschen, und wir sitzen nächstes Mal vor dem Alarmgong im Fahrzeug. Also, hört zu. Am Kleinhesseloher See wird eine Person vermisst. Die Wasserwacht ist schon alarmiert und wird höchstwahrscheinlich gleichzeitig mit uns eintreffen.«
Marie und Erik nickten. »Person vermisst« konnte alles bedeuten. Wenn dies allerdings mitten in einer Stadt passierte, war die Wahrscheinlichkeit eines Unglücks deutlich geringer als an einem See.
Als sie am Kleinhesseloher See ankamen und aus dem Fahrzeug sprangen, liefen einige junge Menschen am Uferrand nervös auf und ab und riefen ein ums andere Mal den Namen Gabriel auf eine Weise, die erkennen ließ, dass es sich bei dem Vermissten um einen Franzosen handelte. Verzweiflung stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Ein Mann der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft kam zum Einsatzwagen.
»Hallo. Schneider. Ich habe die Leitung der Wasserwacht.« Jonah begrüßte den Mann mit Handschlag. »Wie es aussieht, wird ein französischer Austauschstudent vermisst. Ein paar junge Leute feiern dort drüben bereits seit dem Nachmittag. Ist
wohl jede Menge Alkohol im Spiel. Zwei Studenten berichten, dass die vermisste Person anscheinend Nichtschwimmer ist.«
»Wie können wir helfen?«, wollte Jonah wissen.
»Wir suchen mit zwei Booten die Wasseroberfläche ab und bekommen gleich noch Unterstützung von der Luftrettung. Es wäre gut, wenn ihr unseren Taucher absichern könntet und diesen Bereich hier vorne ausleuchtet.«
Jonah drehte sich um. »Kümmerst du dich darum, Simon?« Der nickte und machte sich gleich an das Fahrzeug, um für den nötigen Strom zu sorgen.
»Marie? Wir benötigen dort drüben zwei Strahler.« Marie nickte und folgte Simon zum Einsatzfahrzeug.
»Mit ganz viel Glück liegt er irgendwo im Englischen Garten und schläft seinen Rausch aus«, meinte Schneider von der DLRG.
»Das ist zu hoffen!«, ließ Jonah verlauten und wandte sich an Leo und Silas. »Ihr habt es gehört. Ihr sichert mir den Taucher mit einem Seil vom Ufer aus ab. Ich spreche mal mit den Kollegen vom Roten Kreuz, damit das Hand in Hand geht.«
Die beiden nickten. Leo sah zum Himmel. Die Luftunterstützung kam per Hubschrauber näher und begann, systematisch den Englischen Garten abzufliegen. Als die Polizei dann ebenfalls eintraf, waren etwas mehr als vierzig Personen am Einsatzort.
»Hast du zwei Stative und zwei paar Flutlichtstrahler für mich?«, fragte Marie, als sie neben Simon stand.
»Warte, ich hole nur schnell die Kabeltrommel raus.« Simon streckte sich ins Fahrzeug und griff sich zielsicher, was er benötigte. »Hier, die Stative. Die Strahler kommen auch gleich.«
»Danke.«
»Du, wegen der Sache im Fitnessraum …, ich hab da …« Weiter kam Simon nicht.
»Nicht schnacken«, ging Silas etwas forsch dazwischen. »Ich brauch eine Leine.«
Simon sah wieder zu Marie und zog die Augenbrauen nach oben. Marie reagierte nicht darauf. Erstens hatte sie zu tun und zweitens wollte sie Simon nicht einfach so zwischen Tür und Angel die gewünschte Absolution erteilen. Wenn, dann musste er sich schon zu einem geeigneteren Zeitpunkt etwas mehr Mühe geben.
Sie schnappte sich die zwei Stative und baute sie an der vorgegebenen Stelle auf. Dann montierte sie die Strahler, verband sie mit der Kabeltrommel, die Simon bereits verlegt hatte, und schaltete sie an. Mit ein paar Handgriffen fuhr sie die Teleskopstangen aus den Stativen nach oben, korrigierte ein wenig die Position und leuchtete den Uferbereich aus. Das gleiche Prozedere wiederholte sie mit dem zweiten Set. Simon blieb als Maschinist beim Fahrzeug, während Marie zu Jonah ging.
»Die Strahler stehen.«
»Gut. Es sind noch ein paar Hilfskräfte dazugekommen und bilden um das Ufer herum eine Menschenkette. Wir können nur abwarten. Am besten, du bleibst bei Leo und Silas, falls die Unterstützung brauchen. Ich bin auch gleich bei euch.«
Marie bestätigte Jonahs Anweisung.
Ein paar Meter weiter am Ufer stieg ein Taucher im Neoprenanzug, der von Leo und Silas abgesichert wurde, ins Wasser. Über Marie kreiste der Hubschrauber und warf den Strahl seines starken Scheinwerfers auf die Wasseroberfläche, während zwei Schlauchboote den See durchquerten.
Marie ahnte Schlimmes. Denn eines war klar: Auch ein Betrunkener würde durch den Lärm, verbunden mit dem Aufgebot an Einsatzkräften, aufgeschreckt werden und sich irgendwie bemerkbar machen. Er müsste schon bewusstlos und in einiger Entfernung, beispielsweise am Chinesischen Turm oder am Monopteros liegen, damit ihm dieser Aufmarsch
verborgen blieb. Die Tatsache, dass es mittlerweile komplett dunkel war und wegen der lauen Sommernacht viele Frischluftjunkies und Schaulustige den Bereich besiedelten, erschwerte die Suche nach dem Vermissten. Simon stand neben dem Löschfahrzeug und redete mit einem Kollegen vom Roten Kreuz. Allem Anschein nach kannten sich die beiden, so vertraut, wie sie aus der Entfernung wirkten.
Simon sah immer wieder zu Marie und wirkte dabei, als hätte er das dringende Bedürfnis, mit ihr zu sprechen. Der Mann vom Roten Kreuz ging zu seinem Fahrzeug zurück, als jemand am Ufer auf sich aufmerksam machte.
»Wir haben was!«, rief ein Mann von der DLRG. Er deutete zu der Stelle, an der Leo und Silas dem Taucher unterstützend zur Hand gingen, als dieser sich schwer tat, ohne Hilfe aus dem Wasser zu kommen.
Umgehend breitete sich das Ufer entlang Stille aus. Nur das Summen der verschiedenen Stromaggregate war zu vernehmen.
In den Armen des Tauchers hing der leblose Körper eines bekleideten jungen Mannes, den er mithilfe von Silas am Uferrand vorsichtig ablegte.
Bis auf den Notarzt, der umgehend herbeieilte, bewegte sich alles um Marie herum ganz langsam. Zwei junge Mädchen bahnten sich den Weg durch die Einsatzkräfte, sicher in der Hoffnung, sie würden die soeben geborgene Person nicht erkennen. Als jedoch eine der beiden weinend auf die Knie sank, war klar, dass es Gabriel war, der dort leblos auf dem Boden lag.
Als der Notarzt nach ein paar Minuten von dem jungen Mann abließ, war allen umstehenden Menschen am Kleinhesseloher See bewusst, dass Gabriels Leben viel zu früh und fern seiner Heimat in einer lauen Sommernacht in München sein Ende gefunden hatte.
Als der Hubschrauber abdrehte und die beiden Schlauchboote am Ufer die Motoren abstellten, legte sich eine beklemmende Stille über den sonst so idyllischen Ort. Leute des DRK kümmerten sich um die Gruppe, die zu Beginn dieses Tages noch nicht geahnt hatte, dass er so schlimm enden würde. Schock, Trauer und Schuldgefühle hingen in der Luft und würden die jungen Studenten wohl ihr Leben lang begleiten.
Dies war einer jener Momente, auf die Marie in ihrem Beruf gern verzichtet hätte. Denn auch, wenn viele Menschenleben durch ihren Einsatz und den ihrer Kollegen gerettet wurden, war jedes einzelne, das verloren wurde, eines zu viel.
Ihre Blicke schweiften nochmals über den See, der sich, nachdem die Schlauchboote nicht mehr darin kreuzten, beruhigt hatte. Als Marie zum Löschfahrzeug sah, entdeckte sie Simon, der am Kotflügel lehnte und ebenfalls auf den dunklen See blickte. Als er sein Gesicht in ihre Richtung drehte, trafen sich ihre Blicke wie zwei Magneten und bauten eine feste Verbindung auf. Stärker denn je fühlte Marie sich zu Simon hingezogen. Ohne Hintergedanken, ohne Lust zu verspüren. Sie wollte einfach nur – bei ihm sein.