ÜBERSTUNDEN IM
B2
»Und warum genau darf ich da nicht mit?«
Heidi lehnte mit verschränkten Armen im Türrahmen des Badezimmers und zog eine Schnute.
»Das habe ich dir schon letztes Jahr erklärt, und auch das Jahr davor. Wo arbeitest du?«
»In einem Bekleidungshaus.«
»Habt ihr ein Blaulicht?«
»Nein.«
»Beweisführung abgeschlossen.« Marie seufzte zufrieden. Vier Tage Freischicht, die nach Schillers Ansage nicht besser hätten liegen können, um ein wenig Abstand zu gewinnen.
Außerdem stieg an diesem Abend die legendäre Blaulichtparty, und die war
das
Ereignis für alle Kollegen der Feuerwehr, Polizei, Rettungsdienste, des THW und Zolls. Einsatzort: das B2 – neben dem Monaco High einer der angesagtesten Clubs Münchens. Für diesen einen Abend im Jahr gehörte der Laden den Menschen, die sich tagtäglich für ihre Mitmenschen einsetzten. Zum Teil natürlich auch denjenigen, die einem das Leben schwer machen konnten. Deshalb durfte an diesem Abend auch die Justiz samt Staatsanwaltschaft nicht fehlen. So war die Frage, wo einmal im Jahr keinesfalls eine Razzia stattfinden würde, auch geklärt.
Marie störte sich keineswegs daran, dass sie bei dieser Party vermutlich auch auf Schiller oder Günther treffen würde. Schließlich endete die Reichweite der autoritären Keule ihres Vorgesetzten genau an der Wachpforte.
Heidi hob ihren Zeigefinger. »Aber …, aber ich wurde schon einmal von der Polizei aufgehalten. Und die hatten ein Blaulicht. Und das war an.«
»Sie hatten dich aufgehalten, weil du dir auf dem Mittleren Ring während der Fahrt den Lidstrich nachgezogen hast. Weißt du eigentlich, wie gefährlich das ist? Das nennt man dann Permanent-Make-up, wenn du scharf bremsen musst.«
»Es ist viel gefährlicher, auf den Mann meines Lebens zu treffen und dabei nicht gut auszusehen.«
»Und ein Kajal durch den Augapfel sieht deiner Meinung nach also gut aus?«
»Ach, du wieder!«
Marie presste ihre Lippen aufeinander, kontrollierte ihr Werk im Spiegel und steckte den Lippenstift in ihre Handtasche. Sie öffnete den Badschrank, schnappte sich das Haarspray und gab eine ordentliche Portion davon auf ihre Mähne.
»Ist dein Simon auch dort?«
Marie zupfte an ein paar Strähnen herum und sprühte nochmals.
»Davon ist auszugehen. Jedoch ist er nicht
mein
Simon, wie wir beide wissen.«
»Und? Hast du einen Plan?«
Marie stellte das Spray zurück und wandte sich zu ihrer Freundin um. »Der Plan ist, mir keine Gedanken darüber zu machen und die Sache auf mich zukommen zu lassen. Na, wie sehe ich aus?« Sie drehte sich einmal um die eigene Achse. Die dunkle Jeans saß perfekt und harmonierte hervorragend mit den dunkelblauen Pumps. Die weiße Bluse steckte nur vorne in der Jeans, um die glitzernde Gürtelschnalle nicht zu verdecken.
Dass ihr schwarzer Spitzen-BH leicht durch die Bluse schimmerte, war genau so gewollt und bedurfte keiner Korrektur.
»Süß!«
Marie riss die Augen auf. »Süß? Ich wollte gut aussehen und nicht süß!«
»Meine ich doch. Du siehst gut aus. Und du willst wirklich keinen Rock von mir anziehen?«
»Du immer mit deinem Rock. Ich möchte mich ja wohlfühlen und nicht ständig Angst haben, dass mir jemand beim Sitzen zwischen die Beine guckt. Am Ende noch der Schiller.« Marie schüttelte sich angeekelt.
»So kurz sind meine Röcke nun auch wieder nicht.«
»Heidi, das was du als Rock bezeichnest, nennen andere Stirnband! Also …, wünsch mir Glück.«
»Viel Glück. Und zeig Ihnen, was ’ne rattenscharfe Münchnerin auf der Tanzfläche alles kann.« Heidi küsste ihre Freundin auf beide Wangen.
Marie schnappte sich ihre Handtasche und den Schlüssel vom Schlüsselboard neben der Wohnungstür und verließ die Mädels-WG.
Der Abend war wohlig warm, sodass sie die kurze Strecke von etwa zwanzig Gehminuten zu Fuß nahm und sich ein Taxi sparte. Pärchen flanierten an ihr vorbei, die entweder zielstrebig ein Lokal ansteuerten oder einfach nur der Welt zeigen wollten, dass sie sich hatten. Für Marie als Single war der Sommer die Jahreszeit, die in ihr die Sehnsucht nach einem Partner ansteigen ließ. Doch so groß, um sich einem x-beliebigen Anwärter an den Hals zu werfen, war sie keineswegs.
Vor dem Eingang des B2 war einiges los. Die Armbänder, die es ausschließlich im Vorverkauf gegeben hatte, wurden eifrig von den Türstehern gescannt. Links und rechts neben dem roten Teppich waren Feuersäulen aufgestellt, um den Gästen
ein besonderes Willkommensgefühl zu geben. Sie streckte dem Türpersonal ebenfalls ihr Armband entgegen.
»Viel Spaß«, sagte der breitschultrige Mann von der Sicherheit und trat einen Schritt zur Seite, damit Marie eintreten konnte.
Der Bass wummerte bereits und die Scheinwerfer an der Decke drehten sich zum Beat, um die Mucke auch visuell perfekt zu unterstreichen. Partygäste standen mit Gläsern in der Hand im gesamten B2 herum und kämpften bei ihren Gesprächen gegen die laute Musik an. Dabei kamen sie sich zwangsläufig deutlich näher als in ihrem Berufsalltag. Ob dies von Vorteil war, wurde von der gegenseitigen Sympathie und vom Alkoholkonsum gesteuert.
»Da bist du ja«, sagte plötzlich jemand neben ihr und griff gleichzeitig nach ihrer Hand.
»Leo!« Marie lächelte freundlich, als sie ihren Kollegen erkannte.
»Komm, die anderen sitzen dort drüben.«
Leo zog Marie wie selbstverständlich zwischen den Gästen hindurch ans andere Ende des Clubs, ohne zu fragen, ob sie dies überhaupt wollte. Doch sie kannte Leo mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass er so oder so seinen Willen durchsetzen würde.
Silas winkte, als er Marie kommen sah, und kickte Bärli den Ellbogen in die Seite. Auch der hob nun die Hand.
»Oh, là, là«, grölte Silas, als Marie vor ihren Kollegen stand. »Sieh sich das einer an!«
»Mach a bisserl langsam, Silas«, pfiff Bärli seinen Kollegen zurück. »Sonst artet des noch in sexuelle Belästigung aus!«
Einer der wenigen Momente, in denen Bernhard fast hochdeutsch sprach. Vermutlich wollte er zu hundert Prozent von Silas verstanden werden. Die anderen lachten und prosteten Marie zu, die bis dato noch kein Getränk hatte.
»Na, bei euch ist ja schon richtig Stimmung!«, rief sie in die Runde.
Erik stand auf, um auf die Toilette zu gehen. Er blieb kurz neben Marie stehen. »Ein paar der Jungs haben auf dem Weg hierher schon ein wenig vorgeglüht«, lachte er und ging weiter. Marie nickte nur und bestellte sich bei der Bedienung, die vorbeikam, einen Weißwein.
Silas und Tobias rutschten auf der Sitzgruppe zur Seite, um Platz für sie zu schaffen. Sie schlängelte sich an dem Glastisch vorbei und stellte ihre Handtasche auf die schmale Ablage hinter sich.
»Bärli, schön dich zu sehen!«, rief Marie. »Geht es dir wieder besser?«
»Freilich! Hab mir nur ein bisserl den Magen verrenkt. Jetzt geht’s ma wieda guad!« Er klopfte auf seinen Bauch.
»Na, wenn ich so viele Aperitifs vor dem Essen trinken würde, wie du heute schon intus hast, würde es mir auch schlecht werden!«, feixte Silas.
Alle lachten wieder und zeigten auf ihren Kollegen, der nicht anders darauf zu reagieren wusste, als der Meute zuzuprosten.
Simon, der ebenfalls am Tisch saß, wirkte ausgelassener als sonst. Jedoch hatte er es bisher vermieden, mit Marie Blickkontakt aufzunehmen. Leo war am anderen Ende des Tisches stehengeblieben. Sich zu setzen, wäre unsinnig gewesen, da er ohnehin ständig angesprochen wurde. Die Singles im Club fanden offenbar Gefallen an ihm. Andreas knipste ab und an mit seinem Handy in die Runde, Lorenz ließ den Blick kaum von der Tanzfläche, auf der ein paar Frauen ohne männliche Begleitung zum Beat des DJs tanzten, und Günther tat, was er auch sonst tat: einfach nur dabei sein.
Als Marie so unauffällig wie möglich zu Simon blickte, huschte ein kleines Lächeln über seine Lippen. Er prostete ihr zu. Marie erwiderte die Geste flüchtig und trank von ihrem
Wein. Sie hatte ihr Glas noch nicht wieder auf dem Tisch abgestellt, als jemand ihre Hand berührte.
»Tanzt du mit mir?«, fragte Leo und sah sie mit leuchtenden Augen an. »Wir könnten so tun, als wärst du mit mir hier, dann lassen mich die anderen Mädels vielleicht mal in Ruhe.«
Marie lachte. »Als würde dir die Aufmerksamkeit der Weiblichkeit nicht gefallen!«
Leo grinste ertappt. »Gegen deine Aufmerksamkeit hab ich aber auch nichts.«
Marie wusste, dass es zwecklos war, sich zu sträuben, zumal Leo wohl ohnehin einer der Wenigen zu sein schien, der überhaupt einen Fuß auf die Tanzfläche setzte.
Sie ergab sich und folgte ihm unter den wachsamen Augen Simons zur Tanzfläche. Leo war ein guter Tänzer und Marie konnte nicht leugnen, dass es ihr gefiel, sich ein wenig zu präsentieren. Sonst war das eigentlich nicht so ihr Ding. Es ging jedoch nicht spurlos an ihr vorüber, dass sie unter der Beobachtung der kompletten Wache 21 stand. Leider auch unter der von Schiller, der mittlerweile ebenfalls die Location heimgesucht und sich an den Tisch gesetzt hatte. Von der Tanzfläche aus konnte Marie erkennen, dass die Stimmung unter den Männern plötzlich weniger ausgelassen war als noch Minuten zuvor.
»Du wirkst abwesend«, stellte Leo nach drei Songs fest und deutete in die Richtung, in die Marie gerade blickte. »Was ist los?«
»Schiller ist da«, stellte Marie fest und war beinahe froh um Leos Hand, als er sie gemächlich zurück an den Tisch führte.
»Guten Abend«, grüßte Marie den Wachleiter förmlich und quälte sich einen freundlichen Gesichtsausdruck aus den Mundwinkeln.
»Na, Ihnen gefällt es hier, was?«, grüßte Schiller zurück und prostete ihr mit seinem Weizen süffisant zu.
Marie erkannte den Unterton, der in diesem Satz mitschwang, nickte nur kurz und suchte die Toilette auf.
Da Schiller wie eine Bulldogge vor ihrer Handtasche saß und sie diese nicht einfordern wollte, fiel für diese Runde eine Korrektur des Make-ups aus.
Als sie zurückkam, drehte sie allein eine Runde durch den Club. Die Stimmung hatte eine weitere Stufe der Ausgelassenheit erreicht, man kam sich näher, lachte mehr, und die Servicekräfte hatten allerhand zu tun, um die durstigen Kehlen zu versorgen. Etwa auf halber Strecke durch den Club sah Marie Simon mit Erik an der Bar sitzen. Wahrscheinlich hatte Schillers Anwesenheit die beiden vom Tisch vertrieben. Da Marie sich ein wenig verloren fühlte und keinesfalls den Abend in Schillers Nähe verbringen wollte, steuerte sie geradewegs auf die beiden Männer zu.
»Nehmt ihr zwei eine gestrandete Seele auf? Ich wurde von meinem Platz vertrieben.«
»Klar«, meinte Simon und zog einen weiteren Barhocker zwischen sich und seinen Kollegen.
Marie freute sich, dass es Simon war, der ihr einen Platz anbot, und nicht Erik.
»Willst du was trinken?«
»Weißweinschorle!«
Simon orderte Maries Wunsch beim Barkeeper, der umgehend das Glas vor Marie auf eine kleine Cocktailserviette stellte.
»Seid ihr auch geflüchtet?«
Die beiden nickten.
»Wir müssen ja nicht ständig alle aufeinanderhocken«, umschiffte Erik galant den wahren Grund und prostete Marie und Simon mit seinem Pils zu.
»Hast du den wehmütigen Blick von Jonah gesehen, als wir beide aufgestanden sind?«, sagte Erik an Marie vorbei zu Simon.
Simon nickte. »Der wäre uns am liebsten hinterhergelaufen.«
»Ja, das glaube ich auch. Einer der Nachteile an seinem Job. Da kann man als Offizier nicht einfach den Kapitän sitzen lassen!«
»Wenn du schon aufs Traumschiff abdriftest, dann wäre Jonah eher der Staff Kapitän.«
»Traumschiff?« Erik verdrehte die Augen. »Du weißt schon, wer unser Chef ist, oder? Ich denke da umgehend an die Titanic – wenn es unbedingt ein Schiff sein soll. Oder die Bounty.«
»Auch wieder wahr. Was meinst du, Erik, ob Jonah die Zeit hier im B2 als Überstunden abrechnet?«
Wieder lachten sie. Marie tat es ihnen gleich. Ihr gefiel, wie Simon sich an diesem Abend zeigte. Anscheinend gab ihm in diesem Augenblick Eriks Anwesenheit die Sicherheit, dass es okay war, mit seiner Kollegin an der Bar zu sitzen.
Mehr als erstaunt war sie jedoch, als Simon sie knapp eine Stunde später zum Tanzen aufforderte. Selbstredend, dass Marie dieser Aufforderung umgehend nachkam. Selbst mit einem Gipsbein hätte sie sich aufs Parkett geschleppt.
Die Tanzfläche war jetzt voll, und bestimmt dachte er, dadurch den wachsamen Blicken seiner Kollegen zu entgehen. Doch bei seiner Größe konnte er locker über etwa achtzig Prozent der Gäste hinwegblicken. Somit ging sein Plan wohl nicht ganz auf.
Marie bewegte sich sexy und gelassen zum Beat, auch wenn die Songs eigentlich etwas mehr an körperlichem Einsatz forderten. Simon tanzte ebenfalls eher gemäßigt, und es fühlte sich an, als wäre dies nicht der erste Tanz, den sie miteinander bestritten. Marie drehte sich mit dem Rücken zu Simon und streckte ihre Arme nach oben. Mit geschlossenen Beinen ging sie in die Knie und wippte dabei mit den Hüften hin und her wie eine Burlesque-Tänzerin.
Simon taute auf und berührte sie immer wieder flüchtig, um den Kontakt zu ihr nicht abreißen zu lassen. Nie im Leben hätte Marie noch vor ein paar Stunden daran gedacht, sich mit ihm von der Musik einfach treiben zu lassen, ohne Rücksicht darauf, was ihre Kollegen von ihr halten würden.
Simon wirkte im Gegensatz zu ihr noch etwas steif in der Hüfte und vermied es, Maries sexy Dancemoves unter den wachsamen Augen seiner Kollegen nachzueifern.
Als sie nach einer Weile die Tanzfläche verließen und die Bar ansteuerten, stand Erik alles andere als ein freudiger Ausdruck ins Gesicht geschrieben. Der Grund dafür saß neben ihm. Schiller!
»Na? Wer ist als Nächster dran?« Er sah auf die Uhr. »Jetzt müssen Sie sich aber ranhalten. Sonst schaffen Sie es nicht mehr, bis der Laden dicht macht.«
Schiller glänzte im Gesicht. Es war ihm anzusehen, dass er die vergangenen Stunden etwas zu tief ins Glas geschaut hatte.
»Wie wäre es?«, konterte Marie keck und warf den Ball zurück. Sie deutete zur Tanzfläche.
»Ne, lassen Sie mal.« Er griff nach seinem Glas und streckte es Marie vor die Nase.
Marie wich einen kleinen Schritt zurück, da ihr ansonsten der kleine Bierschwall, der über den Rand trat, die Bluse versaut hätte.
»Hier! Damit haben wir früher einen beschissenen Einsatz verarbeitet!« Er nahm einen Schluck und knallte das Glas unsanft zurück auf den Tresen.
Simon ignorierte Schillers Aufklärung und griff wortlos zu seinem Glas, um nach der Tanzeinheit seinen Durst zu stillen. Zuvorkommend reichte er Marie ihren Wein. Doch sein Vorgesetzter war mit seinem Vortrag noch lange nicht am Ende.
»So ein Muttersöhnchen, das vorgestern bei uns auf der Wache war, brauchen Sie uns nicht mehr anzuschleppen, verstanden?«
Erik versuchte, die Lage mit einem Lächeln auf den Lippen zu entschärfen: »Chef, ich glaube, Marie hat das mittlerweile verstanden. Trinken wir doch auf den schönen Abend!« Er nahm sein Glas und hielt es in die Höhe. Simon und Marie taten es ihm gleich.
Schiller ging nicht darauf ein und redete weiter. »Wo kommen wir denn mit diesem ganzen Weichgespüle hin? Nicht mehr lange, und einer nach dem anderen nimmt am Ende auch noch Elternzeit!« Er lachte dreckig. Damit stand er allerdings alleine da.
Marie hatte keine Lust mehr, seine Ausschweifungen höflich unter den Tisch zu lächeln. Die Freude über den bisher schönen Abend wich aus ihrem Gesicht, was auch Schiller nicht verborgen blieb. Er sah Marie mit zusammengekniffenen Augen an.
»Oho!«, triumphierte er. »Habe ich da den Nagel auf den Kopf getroffen? Hat Madame einen Braten in der Röhre? Wer ist denn der Glückliche? Oder weiß sie das noch nicht?«
»Herr Schiller, ich glaube, es reicht«, sagte Simon ruhig.
Schiller rutschte etwas unbeholfen von seinem Barhocker herunter und baute sich provozierend vor ihm auf.
»Halten Sie sich da raus!« Schiller wurde lauter und kam Simon gefährlich nah. Er wankte.
»Chef, nichts für ungut, aber ich glaube, das kann ich nicht tun.«
Marie traute ihren Augen nicht. Simon stellte sich ritterlich vor sie, um sie zu beschützen. Und das nicht vor irgendjemandem, sondern vor dem Chef.
»Geh beiseite, Bürschchen!« Schiller ballte seine Faust, holte aus und versuchte, Simon einen Kinnhaken zu verpassen.
Der jedoch wich dem Schlag blitzschnell aus, wodurch Schiller das Gleichgewicht verlor, strauchelte und unsanft vor der Bar auf den Boden knallte.
Simon entschied, dass dies der richtige Zeitpunkt war, zu gehen. Zu warten, bis sich sein Chef wieder aufgerappelt hatte, um die zweite Runde einzuläuten, darauf konnten sie alle gut verzichten. Er nickte Erik verabschiedend zu, griff nach Maries Hand und ging mit ihr zum Ausgang.
Auf dem Weg dorthin schnappte sich Marie ihre Tasche, die noch immer bei den anderen Kollegen stand, verabschiedete sich flüchtig und verließ mit Simon den Club.
»Puh! Jetzt ist er wohl völlig durchgedreht!«, meinte Marie aufgeregt und verlangsamte ihre Schritte.
»Tja, der Alkohol. Die einen vertragen ihn, und die anderen …« Simon steckte lässig seine Hände in die Hosentaschen.
Marie blieb stehen. »Willst du nicht lieber wieder hineingehen? Ist vielleicht doof, wenn die anderen gesehen haben, wie wir zusammen die Party verlassen.«
Simon wirkte wie ausgewechselt und zuckte mit den Schultern. »Ich glaube eher, die würden es mir vorwerfen, wenn ich eine Frau nachts alleine in der großen Stadt durch die Straßen spazieren lasse. Die wissen sicher alle spätestens in diesem Augenblick, was Schiller veranstaltet hat.«
Marie ging weiter. »Glaubst du nicht, dass das ein Nachspiel hat? Ich meine, dass er dich deswegen …«
»Ach was«, winkte Simon cool ab. »Ich bezweifle stark, dass der morgen noch weiß, wie er sich aufgeführt hat. Außerdem habe ich nichts getan. Ich bin nur einen Schritt zur Seite gegangen, wie er es mir befohlen hat. Wüsste nicht, dass das verboten ist.«
Marie nahm Simon diese Gleichgültigkeit nicht ab. Immerhin hatte er vor seinem Vorgesetzten für sie Stellung bezogen.
»Komm, ich bringe dich heim«, bot Simon an.
»Ach was, ist nicht weit.«
»Ich weiß«, sagte er und grinste.
Marie ließ die Frage, woher er wusste, wo sie wohnte, offen und genoss es, in seiner Nähe zu sein.
Die beiden schlenderten gemächlich durch die leeren Straßen und die Stille, die hin und wieder von einem vorbeifahrenden Taxi unterbrochen wurde. Immer wieder berührten sich ihre Hände wie zufällig, wurden zurückgezogen, um nicht mehr als ein paar Sekunden lang und nur wenige Zentimeter voneinander entfernt darauf zu warten, dass es nochmals geschah.
Es kam ihr vor, als würde Simon nur dann zu ihr stehen, wenn er spontan zu einer Entscheidung gezwungen wurde. Wie er allerdings am nächsten Tag darüber dachte, stand in den Sternen.
Marie sah aus den Augenwinkeln zu Simon, der wirkte, als würde er verbissen nach einem Gesprächsthema suchen, um die Stille zu überdecken. Sie hatte nichts dagegen, neben ihm zu gehen und dabei zu schweigen. Auf diese Weise spürte sie, wie gut es sich anfühlte, mit ihm allein zu sein. Fast verfluchte sie die Tatsache, nicht am anderen Ende von München zu wohnen.
»Wir sind da«, sagte sie leise und kramte in ihrer Handtasche nach dem Hausschlüssel.
»Dann enden meine Dienste wohl hier«, sagte Simon übertrieben ernst, streckte einen Arm zur Seite und pumpte seinen Bizeps auf.
»Du hast dich heute sehr heldenhaft verhalten.«
»Immer wieder gern«, sagte er und salutierte.
Marie ging einen Schritt auf ihn zu, stellte sich auf die Zehenspitzen, um die knapp zwanzig Zentimeter Größenunterschied zu überbrücken. Dann nahm sie allen Mut zusammen, um ihren Helden zum Abschied zu küssen.
Da Simon jedoch seinen Kopf leicht zur Seite drehte, landete der Kuss auf seiner Wange. Marie tat, als hätte sie es genau so gewollt, und ließ sein scheues Verhalten unkommentiert.
»Danke fürs Nachhausebringen«, flüsterte sie ihm zu, während ihr Gesicht für einen Augenblick neben seinem verweilte.
»Gern«, hauchte er ihr ins Ohr und berührte mit seiner Wange ihr Gesicht. »Schlaf gut.«
Das war Maries Stichwort, den Schlüssel in die Haustür zu stecken, um nicht allzu erwartungsvoll zu wirken. Ganz Gentleman wartete er, bis sie im Hausflur war.
Noch bevor die Tür ins Schloss fiel, stieß Marie sie erneut auf und rief in die Nacht hinaus. »Was machst du eigentlich morgen?!«
Simon hatte sich bereits ein paar Schritte entfernt und drehte sich um. »Weiß noch nicht!«
»Lust auf eine Mountainbike-Tour?«
Simon wankte mit dem Oberkörper hin und her. Noch bevor er darauf antworten konnte, legte Marie nach.
»Ein Nein wird übrigens nicht akzeptiert. Es gibt da einen super Trail in der Nähe von Steingaden. Den kennen nur die Einheimischen. Und ich natürlich.«
»Wann? Ich meine… um wie viel Uhr ginge es denn los?« Marie war von Simons Gegenfrage wohl noch mehr überrascht als er selbst.
»Sieben Uhr?«
Simon sah auf die Uhr. »Bist du dir da ganz sicher?«
»Klar!«
»Na, wenn du das sagst.« Er lachte, drehte sich um und ging weiter.
»Du fährst!«, rief sie ihm noch hinterher. Simon hob zustimmend seinen Daumen, ohne sich nochmals umzudrehen.
Marie nahm zwei Stufen gleichzeitig. Nicht etwa, um schnell eine Mütze voll Schlaf zu bekommen. Viel wichtiger war die Frage: Was zieh’ ich an? Dass sie diese Frage nicht alleine klären musste, wurde ihr klar, als Heidi mit einem Glas Rosé wartend auf der Couch saß, um alle Neuigkeiten der Nacht zu erfahren.