FREIHEIT IN
MÜNCHEN
Wo war ein Stau, wenn man ihn brauchte? Die Fahrt zurück verging wie im Flug. Dabei hätte Marie noch stundenlang neben Simon in seinem Bus sitzen und seiner Playlist lauschen können. Rock war eigentlich überhaupt nicht ihr Ding. Doch seit sie damals in der neunten Klasse wegen ihres Schwarms Lars Stober Tag und Nacht Black Metal gehört hatte, war alles möglich.
»Da sind wir«, sagte Simon, als er vor Maries Haustür den Motor abstellte.
Marie lehnte sich gegen die Kopfstütze, drehte den Kopf und sah Simon an. »Ja, leider. Danke noch mal für die Einladung zum Abendessen.«
»Hey, du kanntest diesen Geheimtipp, da war es nur fair, die Rechnung zu übernehmen. Ich liebe italienisches Essen.«
Marie lächelte und legte ihre Hand auf Simons, die den Schaltknüppel umfasst hielt. »Da hatte ich ja Glück. War schön heute.«
»Ja, sehr schön. Und ich habe erkannt, dass ich meine Kondition weiter ausbauen sollte!«, lachte Simon.
Marie langte nach ihrem Rucksack und öffnete die Autotür. Simon ging nach hinten, lud ihr Bike aus und lehnte es gegen
seinen Bus. Dann griff er nach Maries Hüften und zog sie an sich heran.
Marie sah ihn fordernd an. »Was ist das nun zwischen uns? Ein kleines Feuer, oder …«
»Ich würde sagen, ein unkontrollierbarer Großbrand«, flüsterte Simon und küsste sie.
Marie schlang ihre Arme um seinen Hals und genoss es, von seinen starken Armen gehalten zu werden.
Plötzlich unterbrach sie seine Küsse. »Kommst du noch mit hoch?«, flüsterte sie und beugte den Kopf, sodass er umgehend ihren Hals küsste. Marie hatte das Gefühl, als wären seine Lippen überall an ihrem Körper.
»Nichts lieber als das«, bekundete Simon, ohne mit seinen Liebkosungen aufzuhören. »Aber dann verliere ich komplett die Kontrolle über mich.«
»Wäre das so schlimm?«
Er streichelte über ihre Wange und gab ihr noch einen Kuss. »Schlaf gut.«
Marie schnappte sich ihr Bike. »Du auch.« Sie lächelte.
Wie am Abend zuvor blieb Simon, ganz Gentleman, stehen, bis sie im Haus verschwunden war. Dann fuhr er davon.
Marie war sich nicht sicher, was sie von Simons Reaktion halten sollte. Hatte sie ihn überrumpelt? Vielleicht sollte sie von seiner Entscheidung, nichts zu überstürzen, beeindruckt sein. Immerhin könnte dies auch bedeuten, dass sie ihm für ein schnelles Abenteuer zu wichtig war und er vielleicht die Drei-Date-Regel einhalten wollte, bevor es zu mehr kam. Stellte sich nur die Frage, ob der Abend auf der Blaulichtparty als Date Nummer eins zählte.
»Vielleicht hätte ich doch mit ihr nach oben gehen sollen«, sagte Simon an der nächsten roten Ampel zu sich selbst. Sie
denkt doch jetzt bestimmt von mir, ich wäre so ein Weichei. Leo würde nach solch einem Angebot wahrscheinlich bereits nur noch mit seinen Shorts bekleidet in ihrem Bett liegen
.
Jemand hupte hinter ihm. Simon entschuldigte sich per Handzeichen aus dem Seitenfenster und gab Gas.
Er ließ den Tag noch einmal Revue passieren und musste schmunzeln. Die anderen Biker waren sicher amüsiert gewesen, als sie Marie und ihn wild knutschend in der Wiese entdeckt hatten. Netterweise taten sie, als hätten sie nichts bemerkt, und fuhren kommentarlos weiter. Beim Italiener hatte der Wirt ihnen nach dem Hauptgang ein Tiramisu mit zwei Löffeln hingestellt. »Für zwei Verliebte genau das Richtige an solch einem schönen Abend!«, hatte er gesagt.
Simon bog in seine Straße ein, erwischte sogar einen Parkplatz direkt vor dem Haus und blickte auf den Beifahrersitz, auf dem zehn Minuten zuvor Marie noch gesessen und ihn angelächelt hatte. Hatte er mit diesem Tag seinen Weg verlassen, den er sich vor ein paar Jahren so akribisch genau festgelegt hatte?
Marie versuchte, leise zu sein, als sie die Wohnungstür aufschloss. Doch anzunehmen, dass Heidi auch nur ein Auge zutat, ohne die News gehört zu haben, war naiv.
»Ich habe euch vom Fenster aus gesehen!«
Marie sparte sich jeglichen Kommentar und grinste bis über beide Ohren.
»Und? Wo ist er?«
»Heimgefahren«, antwortete Marie und stellte ihren Rucksack im Flur ab.
»Was erwartet ihn denn dort? Wäsche? Schmutziges Geschirr, oder muss er seine Steuererklärung noch machen?«
»Heidi, er ist, ganz Gentleman, einfach nach Hause gefahren. Weiter nichts.«
»Das ist das Traurigste, was ich gehört habe, seit sie mein Lieblingsshampoo vom Markt genommen haben«, sagte Heidi und wischte sich imaginäre Tränen von den Wangen.
»Wir haben alle Zeit der Welt.«
»Du musst mir alles ganz genau erzählen. Grüner Veltliner oder Pinot Grigio?«
Marie ließ sich neben der Garderobe auf den Boden fallen und zog die Schuhe aus.
»Sei mir bitte nicht böse, aber ich möchte einfach nur unter die Dusche und dann in die Falle.«
»Was?« Heidi wirkte entrüstet. »Ich bin diejenige von uns beiden, die morgen arbeiten muss. Du hast wenigstens frei!«
»Schon, aber ich bin echt platt. Was glaubst du, wie ich heute gestrampelt bin, um ihm zu zeigen, dass ich in der Männerwelt mithalten kann? Ich dachte, der gibt nie auf.«
»Hast du unsere Frauenehre verteidigt?« Heidi streckte Marie ihre flache Hand entgegen.
»Klar«, beteuerte Marie und klatschte ab.
»Das ist ja schon einmal was. Aber morgen will ich alle Einzelheiten hören. Sonst besuche ich dich nachts mit meinem Kreppeisen und kümmere mich, während du schläfst, um deine Haare.«
»Untersteh dich!«
Heidi verschwand in ihrem Zimmer.
Dies war das erste Mal, dass Marie gegen eine goldene Regel der Mädels-WG verstoßen hatte: Sofortige Berichterstattungspflicht!
Nach dem Duschen schlüpfte sie in einen Slip und zog ihren übergroßen Lieblingspullover an, den sie sommers wie winters trug. Vorzugsweise, wenn es gemütlich werden sollte. Dabei
eignete er sich sowohl für die halbe Stunde, bevor sie das Licht ausmachte, als auch für nächtliche Gelage auf dem Balkon, weil er, wenn es kühler wurde, eine Decke überflüssig machte.
Marie setzte sich auf ihre Bettkante, um sich die Beine einzucremen, als ihr Handy eine neue Nachricht anzeigte.
SI: Was machst du?
MA: Ich komme gerade aus der Dusche. Und du?
SI: Ich hab auch schon geduscht. War schön heute.
MA: Ja, sehr schön sogar.
SI: Das sollten wir wiederholen.
MA: Und was genau? ;-)
SI: Alles.
MA: Ich wünschte, du wärst jetzt hier.
Marie biss die Zähne zusammen, als sie den Text abgeschickt hatte. Das klingt ja, als würde ich mich ihm willenlos an den Hals werfen.
Auf keinen Fall wollte sie ihn in dem Stadium, in dem sie sich befanden, verschrecken. Ihr Handy vibrierte erneut.
SI: Das lässt sich einrichten.
Marie vergewisserte sich noch zweimal, ob sie richtig gelesen hatte.
MA: Wie meinst du das?
SI: Mach mal dein Fenster auf. :-)
Marie hob den Blick vom Display und starrte verwirrt vor sich hin. Was meinte er denn damit? Sie ließ ihr Handy auf der Bettdecke liegen, erhob sich vom Bett und ging zum Fenster. Jemand stand auf dem Gehsteig und sah zu ihr herauf.
»Ist das …« Sie öffnete das Fenster und streckte ihren Kopf in die Nacht hinaus. »Simon?«
»Lässt du mich rein?«
Ohne darauf zu antworten, spurtete Marie barfuß zur Wohnungstür und drückte auf den Summer.
Sie streckte ihren Kopf ins Treppenhaus und hörte, dass Simon mindestens zwei Stufen auf einmal nehmend heraufeilte. Dann stand er schnaufend vor ihr.
»Was machst du denn hier, du Verrückter?«
»Du hast was im Auto vergessen.«
»Und was?«
»Steht vor dir!«
Marie machte einen Satz und sprang Simon an den Hals. Ihre Beine umschlangen seine Hüften. Sie küssten sich wild. Simon trug sie in die Wohnung und schloss mit einer geschickten Bewegung seines Fußes die Tür.
»Psst! Heidi schläft!«, flüsterte Marie.
»Sorry«, flüsterte er zurück. »Du riechst gut.« Wieder küssten sie sich.
»Danke, du auch.« Marie umklammerte ihn fester.
»Wie gesagt, ich hab geduscht«, sprach er in ihren Mund hinein.
»Geradeaus durch«, wies sie ihn durch den Flur.
»Hier?«
»Noch eine Tür weiter – jetzt links.«
Simon versuchte, mit dem Ellbogen die Türklinke nach unten zu drücken.
»Nein«, verbesserte Marie. »Das andere links.«
Simon visierte aus den Augenwinkeln die gegenüberliegende Tür an, die bereits offenstand, und trug Marie hinein. Auch diese Tür drückte er so souverän mit dem Fuß zu, dass man annehmen konnte, er schließe Türen ausnahmslos auf diese Weise.
Während er Marie weiter küsste, versuchte Simon, sich an ihrem Kopf vorbei im Zimmer zu orientieren. Er steuerte ihr Bett an und ließ sich mit Marie im Arm darauf nieder. Marie blieb auf Simon sitzen, drückte seinen Oberkörper auf die Matratze und begann sein Hemd aufzuknöpfen. Er schob ihren dicken Pullover nach oben. Sie nahm ihm die Arbeit ab, streifte ihn über ihren Kopf und warf ihn auf den Boden. Dann knöpfte sie weiter. Simon berührte vorsichtig ihre Brüste.
»Du bist wunderschön«, hauchte er und ließ seine Hände zu ihrem Rücken wandern. Dann zog er sie fester an sich.
»Ich weiß«, meinte sie keck und stützte sich auf seiner Brust ab. »Moment! Erst das Hemd.«
Simon hob den Oberkörper an und zog sein Hemd aus. Marie ließ ihre Finger über Simons durchtrainierten Bauch wandern, der durch das schummrige Licht der Nachttischlampe perfekt in Szene gesetzt wurde.
»Also Model«, flüsterte Marie, als sie seine Bauchmuskeln zählte.
»Nur für die Haare … und den Bart«, fügte er hinzu.
»Der kratzt.«
»Tja, das ist der Preis, den Frauen zahlen müssen«, schmunzelte er und zog sie zu sich. »Willst du das wirklich?«
Marie verweilte in seinem Blick. Dann nickte sie und öffnete seinen Gürtel. Simon übernahm und zog die Hose aus. Nur noch mit schwarzen Shorts bekleidet lag er neben ihr und küsste zentimeterweise ihren Hals entlang über ihr Schlüsselbein bis zu ihren Brüsten. Seine Hand strich über ihren Oberschenkel und
Marie musste sich beherrschen, ihre Leidenschaft, die mit jeder Sekunde wuchs, im Zaum zu halten. Ihr Atem beschleunigte.
»Hast du was dabei?«, fragte sie ihn mit sanfter Stimme.
»Ich bin Feuerwehrmann«, flüsterte er. »Die Ausrüstung muss immer vollständig sein.«
Marie löste sich aus seinem Arm und setzte sich wieder auf ihn. Dann beugte sie sich nach vorne und ließ ihren nackten Oberkörper langsam über seine Brust gleiten, während seine Hände mit sanftem Druck den Rücken hinunter zu ihrem Slip wanderten. Dort verweilten sie einen Augenblick, bis sich seine Fingerspitzen erneut auf die Suche nach unberührten Gebieten auf Maries Körper begaben, um diesen dieselbe Aufmerksamkeit zu schenken.
»Ich will dich«, hauchte sie leidenschaftlich, während ihre Lippen die feinen Härchen seiner Ohrläppchen sanft berührten. Simon presste seine Lenden noch stärker gegen sie. Seine Art, ihr zu zeigen, dass ihrem Wunsch nichts im Wege stand. Marie konnte seine Erregung spüren und sehnte sich nach mehr.
Als ihre Körper sich endlich vereinten, hatte sie das Gefühl, als ob sie Simon nicht das erste Mal so nah gewesen wäre. Alles fühlte sich vertraut an. So, als wären ihre Körper schon immer füreinander geschaffen gewesen und hätten nun endlich zueinander gefunden.
Zärtlich und doch mit Kraft bewegte sich Simon und trieb ihre Leidenschaft auf die Spitze. Fest umklammerte Marie seinen Körper, um noch näher bei ihm zu sein, bis sich das Feuer in ihr in jeden Winkel ihres Körpers ausgebreitet hatte und sie gemeinsam den Höhepunkt erreichten. Eng umschlungen spürten sie ihm nach und besiegelten ihre Leidenschaft füreinander mit einem innigen Kuss.
Dass Marie mit Simon einen schönen Tag verbringen würde, dessen war sie sich, als sie morgens ihre Augen geöffnet hatte, sicher gewesen. Dass sie beide jedoch am selben Tag noch
miteinander schlafen würden, hätte sie nicht gedacht. Dass es in dieser Nacht nicht bei einem Mal blieb, überraschte sie dann allerdings weniger …
»Hey, Süße, nur ganz kurz. Ich komme heute etwas später, weil …« Heidi unterbrach ihre frühmorgendliche Informationsrunde und starrte auf das behaarte Bein, das unter Maries Bettdecke hervorlugte.
Ihre Hand verharrte immer noch an Maries Türklinke, während ihr Blick weiter nach oben in Simons verträumtes Gesicht wanderte, der sie aus kleinen Augen ansah und gähnte.
»Ups!«, kam es von Heidi. »Sorry, ich wusste nicht, dass … Weitermachen!«, rief sie, bevor sie die Tür zuzog.
»Wer war das?«, schmatzte Marie, die in dem Moment aufwachte.
»Wie viele Menschen wohnen denn in diesem Haushalt?«, wunderte sich Simon über Maries Frage.
»Heidi und ich.«
»Da du hier neben mir liegst, vermute ich, dass es Heidi war«, schlussfolgerte Simon und legte seinen Kopf aufs Kissen. »Sie sah jedenfalls genauso aus, wie die Frau gestern Morgen am Fenster.«
»Ich ruf dich später an!«, hörten sie Heidi über den Flur rufen, bevor die Wohnungstür ins Schloss fiel.
Marie und Simon sahen einander an.
»Guten Morgen.«
»Guten Morgen«, erwiderte Marie.
»Lust auf Frühstück?«
»Mh … ja!«
»Café Münchner Freiheit?«, schlug Simon vor.
»Sehr gern.«
»Hast du vielleicht eine Zahnbürste für mich?«
»Im Spiegelschrank müsste noch eine verpackte sein. Die kannst du nehmen.«
Simon küsste Marie, bevor er aus dem Bett sprang und ihr Zimmer verließ. Marie zog sich die Decke über den Kopf.
Zwei Sekunden später kam er noch mal zurück. »Äh, Handtuch?«
»In dem hohen Schrank im Bad«, murmelte sie, ohne die Decke vom Gesicht zu nehmen.
»Alles klar mit dir?«
»Ich bin müde«, klagte sie wehleidig.
»Nix da!«, rief Simon und zog ihr die Bettdecke weg. »Raus aus den Federn!«
»Hey! Sieh zu, dass du ins Bad kommst«, wies sie ihn mit ausgestrecktem Zeigefinger an.
Er warf die Bettdecke über sie und tat, wie ihm befohlen. Dass die Geräusche, die wenig später aus dem Bad kamen, nicht von Heidi kamen, fühlte sich für Marie ungewohnt an. Doch daran konnte sie sich sicherlich gewöhnen.
Marie zog die Wohnungstür der Mädels-WG zu und drehte ihren Schlüssel zweimal im Schloss. Dann steckte sie ihn in die kleine Handtasche, die sie crossover trug. Simon konnte nur schwer seine Augen von ihr lassen. Ihr leichtes, hellblaues Kleid, das knapp über den Knien endete, betonte ihre sportliche Figur. Ihre Haare waren noch etwas feucht vom Duschen, weshalb sie leicht gewellt auf ihren Schultern lagen. Wie es sich gehörte, ging Simon vor Marie die Treppe hinab und wusste durch das klappernde Geräusch ihrer Riemchensandalen, dass sie dicht hinter ihm war.
Als die zwei durch die Haustür auf den Gehsteig traten, blitzte ihnen die Sonne ins Gesicht, was Simon dazu bewog,
seine Sonnenbrille aus seinem Bus, der nur wenige Autos entfernt parkte, zu holen. Marie strich sich fröstelnd über ihre Oberarme. »Die Sonne sah durchs Fenster wärmer aus «, bemerkte sie.
Simon streckte ihr eine Hand entgegen, die sie ergriff, um sich mit ihm auf den Weg zur Münchner Freiheit zu machen, wo um diese Zeit an einem Morgen unter der Woche sicherlich ein gemütlicher Platz, warme Croissants und duftender Kaffee auf sie beide warteten.
»Gut siehst du aus! Habe ich dir das heute schon gesagt?«, schmeichelte Simon und blickte dabei über den oberen Rand seiner Brille.
»Ich glaube, einmal im Bad, dann, als ich aus meinem Zimmer gekommen bin … Aber du kannst es gern so oft sagen, wie du möchtest.« Gerade noch rechtzeitig wich Marie einem Dackel aus, den sie fast über den Haufen gerannt hätte. Die Hundehalterin lächelte und nahm ihren Vierbeiner an die Leine.
»Ihr habt übrigens unwahrscheinlich viel Zeug im Badezimmer stehen. Ich dachte schon, ich wäre in einer Drogerie gelandet!«
»Das bringt ein Leben mit Heidi so mit sich. Etwa fünfundneunzig Prozent davon gehören ihr.«
»Und wem gehört die kleine Ecke im Schränkchen über dem Waschbecken?«
Marie sah ihn fragend an.
»Na, Männerdeo, Nassrasierer, Duschgel …«
»Ach so!«, lachte Marie. »Das ist auch von Heidi. Sie nennt es das Männer-Notfallset. Falls mal jemand bei ihr … Na, ich brauche das wohl nicht weiter zu erläutern.«
Simon nickte. »Sag mal, brennen deine Oberschenkel auch so? War ziemlich steil gestern.«
»Nö«, sagte Marie schlicht.
Simon hatte den Verdacht, dass sie flunkerte.
»Also auf dem Bike macht dir so schnell keiner was vor!«
»Sag das mal Schiller. Vielleicht bekäme ich seinen Segen, wenn wir künftig alle auf Rädern zum Brandherd strampeln würden!« Sie lachte.
»Mach dir nicht zu viele Gedanken um Schiller. Der ist, wie er eben ist. Auch ich hatte schon so meine Momente mit ihm. Lass ihn nicht so nah an dich heran.«
»Das sagst du so leicht. Ihm würde ich bestimmt nicht fehlen, wenn ich nicht mehr zum Dienst erscheinen würde.«
»Dafür mir umso mehr.« Simon blieb stehen, zog Marie an sich und küsste sie. Auf offener Straße, mitten in München. Noch vor ein paar Tagen wäre Simon so etwas unmöglich erschienen. Und Marie sicherlich auch.
Sie überquerten den Kurfürstenplatz und schlenderten weiter die Hohenzollernstraße vor bis zur Leopoldstraße. Marie kam es vor, als wäre sie schon oft gemeinsam mit Simon durch Münchens Straßen geschlendert. Ihn an ihrer Seite zu haben fühlte sich sehr vertraut an. Gleichzeitig hatte sie jedoch das Gefühl, dass sie dieser Vertrautheit nicht zu viel an Bedeutung schenken durfte. Zumindest nicht sofort. Viel zu sehr hatte sie bei all der Verliebtheit Angst, enttäuscht zu werden. Was wusste sie schon von Simon – außer, dass er gut aussah, seinen Job bei der Feuerwehr sehr ernst nahm und: dass er gut im Bett war. Und wie! Sie sah ihn von der Seite an. Er wirkte zufrieden. Fast stolz, wie er so neben ihr ging und ihre Hand in seiner hielt.
Marie verwarf fürs Erste alle Zweifel. Würde ein Mann, der nur auf einen flüchtigen Schwelbrand aus war, am nächsten Morgen mit seiner Eroberung quer durch München zum Frühstücken schlendern? Wohl kaum.
Marie hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, als sie plötzlich ruckartig von Simon in einen offenen Hausflur gezogen wurde.
»Was ist los?«
Simon reagierte nicht auf Maries Frage, suchte die Dunkelheit, die ihm der unbeleuchtete Flur bot, und drückte sich und Marie gegen die Wand. Dann starrte er zurück zum Gehweg, wo Passanten, ohne ins Haus zu blicken, vorbeiliefen.
»Was ist mit dir?«, fragte Marie verwirrt.
Simon rührte sich nicht. Er wirkte aufgeregt, und Marie fühlte sich, als wäre sie in einem Agententhriller gelandet und auf der Flucht vor irgendwelchen Bösewichten. Sie war kurz davor, sich einfach von Simon zu lösen und zurück auf den Gehweg zu laufen. Was war es, das ihn so aus der Fassung brachte? Tausend vage Möglichkeiten schossen ihr durch den Kopf. Ein Gedanke nahm plötzlich klare Form an: Steckte Simon vielleicht in einer festen Beziehung? Hatte er seine Freundin gesehen und war deshalb mit ihr in dieses Versteck geflüchtet? Was, wenn sie doch nur eine kleine Affäre in seinem Leben war? Maries Herz schlug nun schneller.
»Ich will jetzt sofort wissen, was …«
»Psst!«, zischte Simon. »Gleich.« Dann starrte er wieder zum Gehweg.
Als Marie ihren Blick ebenfalls zum Eingang lenkte, wurde ihr klar, welcher Gangster vermeintlich hinter ihnen her war: Bernhard Schuster alias Bärli schlenderte mit zwei Einkaufstüten bewaffnet am Hauseingang vorbei und pfiff vor sich hin. Marie überlegte, ob ihr in diesem Augenblick eine Frau aus Simons Leben lieber gewesen wäre, verwarf den Gedanken jedoch schnell wieder.
»Puh! Das war knapp«, stieß Simon erleichtert hervor und lächelte Marie dabei gequält an.
Marie stellte sich vor ihn. »Sag mal … spinnst du?«
»Hast du nicht erkannt, wer das war?«
Marie verstand seine Frage nicht. »Also, ich für meinen Teil habe einen Kollegen gesehen, der an einem Vormittag seine Erledigungen tätigt. Was hast du denn gesehen? Mafia? GSG 9? Wird nach dir gefahndet?«
Simons Ausdruck wechselte von Erleichterung zu Besorgnis. »Du musst doch zugeben, dass es komisch ausgesehen hätte, wenn wir beide …«
»Hörst du mich kichern?« Marie ging um Simon herum zurück auf die Straße. Simon folgte ihr.
»Marie! Warte! Du weißt doch, wie schwer es mir …«
»Zugegeben«, unterbrach ihn Marie, »Bärli hätte bestimmt große Augen gemacht. Und vielleicht hätte er auch ein paar Fragen gestellt. Erklär mir aber bitte einmal, wie das mit uns weitergehen soll, wenn du in Panik gerätst, nur weil jemand uns zusammen sehen könnte? Oder besser gesagt: Was ist das, was hier gerade zwischen uns startet?«
Simon sah über Maries Schulter in die Ferne, als überlegte er. Hinter der Sonnenbrille konnte sie seine Augen nicht erkennen. Wie wenn er ihre Gedanken gelesen hätte, nahm er seine Sonnenbrille ab und sah sie an. »Ich habe mich in dich verliebt«, bekundete er mit ernster Miene.
Seine Worte milderten ihre Wut und sie spürte, wie erleichtert sie war, dass er nicht nur mit ihr spielte. Jedoch schien damit nicht einherzugehen, dass er auch öffentlich zu ihr stand, was sein Verhalten eben deutlich gezeigt hatte.
»Schön, dass du das sagst.« Marie blickte auf ihre Schuhe. »Doch was nützt die schönste Liebe, wenn sie nur im Verborgenen gelebt werden darf? Ich habe keine Lust, mit dir ausschließlich nachts durch München zu schleichen.«
Simon machte einen Schritt auf Marie zu. »Na komm, lass uns die Sache vergessen und frühstücken gehen.«
Marie sah zu ihm auf. »Ich glaube, das lassen wir lieber. Nicht, dass Andi oder sonst wer im Café auftaucht und wir uns unter die Tische werfen müssen.«
Simon presste sich ein gequältes Lachen ab. »Na komm, jetzt übertreibst du aber.« Er streckte Marie seine Hand entgegen.
Doch Marie dachte nicht daran, nach ihr zu greifen.
»Wir sehen uns auf der Wache. Danke für den schönen Tag gestern.« Sie drehte sich um und machte sich auf den Weg zurück in ihre Wohnung.
»Marie!«, hörte sie Simon noch rufen.
Tränen sammelten sich in ihren Augen und glitten sanft über ihre Wangen. Sie presste ihre Lippen aufeinander und musste sich beherrschen, sich nicht umzudrehen.
»Marie!«, rief ihr Simon erneut hinterher.
Sie rechnete es ihm in diesem Augenblick hoch an, dass er ihr nicht folgte. Das hätte weitere Entscheidungen von ihr gefordert, die zu fällen sie zu diesem Zeitpunkt nicht imstande gewesen wäre.
Sie beschleunigte ihre Schritte. Dann bog sie in eine Seitenstraße ein und nutzte die Gelegenheit, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Ihr Handy brummte in der Handtasche. Das konnte in diesem Moment nur Simon sein. Doch Maries Enttäuschung siegte über die Neugier. Sie hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, mit ihren Gedanken allein zu sein und sich dem Flair Schwabings hinzugeben, der sich immer wie Balsam über ihren Kummer gelegt hatte, egal, wie schlimm er auch war.