SILVANER IST NICHT SO SCHWER
»Hey, meine Maus. Was guckst du denn so traurig?«, fragte Heidi, als sie auf den Balkon trat.
Marie saß auf einem Stuhl, die Knie an die Brust gezogen, und umklammerte ihre Beine. Auf dem kleinen Tisch neben ihr eine halbleere Tasse grüner Tee und ein zerknülltes Taschentuch.
Marie sah Heidi kurz an, lenkte ihren Blick jedoch gleich wieder zur gegenüberliegenden Fassade, obwohl sie außer ein paar liebevoll bepflanzten Balkonkästen kein weiteres optisches Highlight bot.
»Hast du geweint?«, bohrte Heidi nach. »Ist euch das Löschwasser ausgegangen und eine Schuhfabrik ist deswegen abgefackelt?«
Für den Bruchteil einer Sekunde huschte eine heitere Regung über Maries Gesicht, bevor es wieder ernst wurde. Mit ihren lockeren Sprüchen konnte Heidi punkten, wenn die Nudeln verkocht waren oder sich der Festplattenrekorder nicht eingeschaltet hatte. Aber bei Liebeskummer half das nicht.
Heidi lehnte ihre Tasche an das Balkongeländer, setzte sich zu Marie und strich ihr sanft über die Wange.
»Was ist denn passiert?«
Marie schniefte.
»Dieser Goethe?«
Marie sah Heidi an. »Der heißt Schiller.«
»Mein ich doch.«
»Nein, der nicht.«
»Dein Feuerwehrmann?«
Marie konnte darauf nichts sagen, es tat einfach zu weh.
Heidi nickte. »Ich weiß, was du jetzt brauchst«, sagte sie. »Ich ziehe mir nur schnell etwas anderes an und bin gleich wieder da. Lauf nicht weg!«
Heidi verschwand in der gemütlichen Wohnung und kramte in Schränken und Schubladen herum.
»Cookies & Cream oder Schoki?«, rief sie aus der Küche auf den Balkon hinaus.
»Cookies«, sagte Marie schwach.
Mit zwei großen Portionen Eiscreme kam Heidi zurück auf den Balkon.
»Hier. Das hilft immer. Willst du mir erzählen, was passiert ist, oder soll ich raten?«
Fragend sah sie Marie an.
Die schüttelte den Kopf. Bloß nicht raten. Wie sie ihre Freundin kannte, würden die Fragen Marie letztendlich dazu bewegen zu lachen. Und das wollte sie in diesem Augenblick keinesfalls.
Während Marie zögerlich die ersten Löffel Eis aus der Schüssel kratzte, begann sie, von dem Vorfall mit Bernhard Schuster zu erzählen. Heidi verkniff sich Zwischenkommentare und ließ sie erst mal sich den Kummer von der Seele reden.
Als Marie am Ende angelangt war, wartete Heidi noch ein paar Sekunden, stellte ihre leere Eisschüssel auf dem Tisch ab und legte dann los.
»Hat der einen Knall? Der tut ja gerade so, als ob er mit seiner Arbeit verheiratet wäre? Na, den knöpfe ich mir aber vor. Ich gehe gleich morgen nach der Arbeit zu dir auf die Wache und …«
»Untersteh dich! Dann kann ich gleich meine Sachen packen!«, ging Marie dazwischen.
»Ist doch aber wahr! Erst verbringt er mit dir eine heiße Nacht …« Heidi unterbrach sich. »Sie war doch heiß, oder?«
Marie nickte.
»Also, eine heiße Nacht, und dann steht der Typ in der Öffentlichkeit nicht zu dir.«
»Na, in der Öffentlichkeit ist vielleicht etwas zu hoch gegriffen. Es ging ihm ja nur um unseren Kollegen.«
»Verteidigst du den Mistkerl auch noch?«, fragte Heidi und kniff die Augen zusammen.
»Nein. Ich mein ja bloß.«
»Nur um euren Kollegen? Ich glaube vielmehr, der Typ weiß nicht, was er will. Dafür bist du dir eindeutig zu schade.«
Heidi erhob sich und brachte die leeren Schüsseln in die Küche.
»Kommst du wieder?«, rief ihr Marie nach.
»Klar! Wir brauchen jetzt was Stärkeres. Merlot, Riesling oder Chardonnay?«, rief die erboste Freundin aus der Küche.
»Heidi, es ist noch nicht einmal sechs Uhr abends!«
»Du hast recht!«, bestätigte Heidi. »Ich bringe einen Silvaner, der ist nicht so schwer!«
Heidi kam mit einer bereits geöffneten Flasche und zwei Gläsern zurück auf den Balkon.
»Für mich bitte nur halb. Meine Schicht beginnt morgen früh wieder.«
Heidi zeigte sich wenig beeindruckt von der Bitte ihrer Mitbewohnerin. »Gerade deshalb ist es wichtig, dass wir dich gut vorbereiten, meine Liebe.« Energisch goss sie Maries Glas randvoll.
Als sich geraume Zeit später die Sonne hinter die Dächer der Stadt verabschiedete und den Balkon in ein schummriges Licht tauchte, öffnete Heidi eine weitere Flasche. Ihre Devise
war stets: Wenn es mit drei Gläsern wieder gut ist, war es kein richtiger Kummer.
»Geht es dir denn jetzt etwas besser?«
Marie lachte. »Frag mich das morgen früh, wenn ich nüchtern bin. Nein, frag mich dann lieber nicht. Da hab ich bestimmt einen riesigen Schädel.«
Heidi setzte an, ihnen beiden nachzuschenken. Doch Marie zog ihr Glas beiseite. »Nicht. Ich muss morgen fit sein.«
»Ich auch«, sagte Heidi und goss sich den ganzen Rest ins eigene Glas. Aufmunternd prostete sie ihrer Mitbewohnerin zu.
»Auf uns!«
»Auf uns!«
Heidi lehnte sich in ihren Stuhl zurück und legte die Beine auf die Balkonbrüstung. »So viele wunderbar gestörte Typen da draußen, die dir aus der Hand fressen würden, und du schnappst dir ausgerechnet diesen Simon. Hast du denn überhaupt nichts von mir gelernt?« Sie lehnte sich näher zu Marie. »Hat er wenigstens einen guten …« Heidi zwinkerte.
»Ja!«
»Und kann er auch damit umgehen?«
»Mit seinem Body?«
»Body?«, fragte Heidi nach. »Warum denn Body?«
»Wieso? Was meintest du denn?«
Heidi zuckte mit den Augenbrauen. »Ich meinte seinen …«
»STOPP!«, ging Marie schnell dazwischen. »Ich will es gar nicht wissen.«
»Ach was! Es ist doch schon dunkel, meine schüchterne Marie. Die Engel schlafen bereits. Außerdem hört uns doch eh keiner.«
Über ihnen schloss sich eine Balkontür. Marie biss die Zähne zusammen. Dann kicherten die beiden, als ob sie zwölf Jahre alt wären.
»Ich geh ins Bett. Ich muss morgen früh raus«, sagte Marie.
»Was willst du denn jetzt machen, wenn du ihn morgen triffst?«
Marie zuckte mit den Schultern. »Am besten … nichts! Ich tu einfach so, als wäre nie etwas zwischen uns gewesen.«
»Richtig so. Zeig ihm bloß nicht, dass du verletzbar bist. Sonst hat er dich in der Hand!«
»Heidi, das ist Simon und nicht das Oberhaupt der Mafia. Ich denke, er kann ruhig wissen, dass mich das verletzt hat.«
»Auch wenn es Balu der Bär wäre! Dann meint er doch nur, was er für ein toller Herzensbrecher ist. Bleib ruhig ein wenig kühler ihm gegenüber. Vielleicht flirtest du ja mit diesem anderen Typen, du weißt schon …«
»Leo?«
»Ja, genau. Vielleicht lockt das deinen Simon aus der Reserve.«
»Gott bewahre. Dann habe ich den nächsten Stress am Hals. Außerdem möchte ich auf der Wache nicht als die Tussi dastehen, bei der jeder mal ran darf.«
»Auch wieder wahr.« Heidi nickte zustimmend. »Nicht, dass eines Nachts auch noch dieser Goethe an deine Tür klopft. Nur mit einem Handtuch bekleidet und …«
»Blumenwiese! Blumenwiese!«, rief Marie, erhob sich und hielt sich dabei die Ohren zu. »Bist du wahnsinnig? Ich bin kurz vor dem Schlafengehen. Pflanze mir bitte nicht solche Bilder ins Hirn. Ich bekomme noch Alpträume wegen dir!«
Heidi lachte und formte einen Kussmund. Marie bückte sich und hielt Heidi ihre Wange hin.
»Gute Nacht«, wünschte Heidi. »Schlaf gut.«
»Nach deinem Silvaner sicher. Von wegen: Der ist nicht so schwer!«
»Ist er auch nicht. Der hat nur …« Heidi bückte sich nach einer der leeren Flaschen und las das Etikett. »Ui! Vierzehn Prozent!«
Marie verdrehte die Augen und verschwand ins Badezimmer. Dort stützte sie sich auf dem Waschbecken ab, starrte in den Spiegel und fragte sich, ob es das alles wirklich wert war. In Steingaden würde man sie im Langwieser Hof mit offenen Armen empfangen. Nein! Weglaufen galt nicht. Nicht vor Simon, und erst recht nicht vor Schiller. Das war sie nicht nur sich schuldig, sondern der gesamten Frauenwelt.