DIE DREIUNDVIERZIG SÜSS-SAUER IST FERTIG
Am nächsten Tag hielten sich Maries Kollegen bei der morgendlichen Besprechung bedeckt. Alle taten, als wäre nichts passiert, was es zu erwähnen lohnte.
Marie kam das Verhalten ihrer Kollegen sehr entgegen. Bestimmt hatten sie gemerkt, dass sie ein bisschen übers Ziel hinausgeschossen waren.
Nachdem die Besatzungen auf die jeweiligen Fahrzeuge eingeteilt waren, stand noch die größte Diskussion für diesen Morgen an: Was gab es zum Mittagessen?
Lorenz machte den Vorschlag, etwas Schnelles wie etwa Schinkennudeln zu zaubern, was bei den meisten Kollegen nicht sonderlich gut ankam. Silas forderte Pfannengyros, Bernhard Fleischpflanzerl und Erik Chili con Carne. Als jedoch Vincent den Vorschlag machte, dass Boeuf Stroganoff eine gute Wahl wäre, platzte Schiller der Kragen. Mit der flachen Hand haute er auf den Tisch.
»Wir sind doch hier nicht beim Wunschkonzert! Der nächste Vorschlag gilt!«, fauchte er und sah im nächsten Moment süffisant zu Marie. »Fragen wir doch jemanden, der naturgemäß was von Kochen versteht.«
Nach und nach drehten sich alle um und nahmen Marie ins Visier. Sie sah erst zu Schiller, dann zu ihren Kollegen, die beinahe ängstlich auf ihren Vorschlag warteten.
»Tofu mit gedämpftem Gemüse würde ich vorschlagen«, hörte sich Marie selbst etwas zögerlich sagen, wofür sie umgehend verachtende Blicke erntete.
»Also, dann wäre das geklärt. Gottlob, dass ich meine Brotzeit dabei habe. Wenn sonst nichts mehr ist, wünsche ich uns allen einen ruhigen Arbeitstag und mir einen guten Appetit.« Mit diesen Worten entließ der Wachleiter die Truppe aus dem Besprechungsraum.
Marie triumphierte innerlich. Ja, auch sie konnte lustig sein und Späße machen. Mit erhobenem Haupt verließ sie den Raum und tippelte die Treppe hinunter in die Fahrzeughalle. Als sie ihren Spind erreichte, traute sie ihren Augen nicht. Vor ihr hing ein Artikel aus der Lokalzeitung mit einem großen Bild, auf dem sie mit Black Beauty abgebildet war.
»FEUERWEHRFRAU SETZT PRIORITÄTEN!«, las sie leise die fett gedruckte Überschrift. Dann blickte sie erneut auf das Foto und überflog danach den Text des Artikels.
»… wagemutig stellte sich die junge Feuerwehrfrau bei dem gestrigen simulierten Brand im Standesamt der Herausforderung und rettete nicht nur Personen, die für diese Übung in die verschiedensten Opferrollen schlüpften, sondern auch …«
Sie sah zum unteren Rand des Berichtes, wer für diese Zeilen verantwortlich war.
»Natürlich. Die Hirschlein!«, murmelte Marie mit einem etwas verächtlichen Tonfall vor sich hin. Sie war schließlich dafür bekannt, einen Riecher für schräge Geschichten zu haben.
Marie bemerkte, dass sie nicht mehr allein war. Langsam drehte sie den Kopf und sah sich vielen Augenpaaren gegenüber, die sie beim Studieren des Artikels beobachteten.
»Ihr seid solche Vollidioten!«, erlöste Marie die Truppe mit einem Lächeln und zog den Artikel mit einem Ruck von ihrem Spind.
Erleichtert über ihre Reaktion umringten die Jungs ihr einziges weibliches Mitglied und streckten ihr ein halbes Dutzend Zettel und Stifte entgegen mit der Bitte, ihnen ein Autogramm zu geben, jetzt, da sie so berühmt war.
Dieser Bitte kam Marie jedoch nicht nach.
»Übertreibt es nicht. Sonst gibt es ab heute nur noch Tofu!«, lachte sie.
Diese Drohung weckte kollektive Empörung, was Marie umso mehr freute. Einzig Lorenz stellte sich die Frage, ob er nun als passionierter Hobbykoch aus Leidenschaft abgemeldet war.
Simon hatte bei dieser Aktion nicht mitgemacht, was ihm Marie auf sein mageres Punktekonto anrechnete. Er stand beim HLF 1 und prüfte den Ölstand, als sie ihren Blick durch die Fahrzeughalle schweifen ließ.
Nachdem sich auch die anderen Kollegen beruhigt und sich Silas nachträglich für seine Tat entschuldigt hatte, ging es auf der Wache wieder ordnungsgemäß zu und jeder kümmerte sich um Ausrüstung, Fahrzeuge oder was sonst noch auf dem Dienstplan stand.
»Sieht aus wie Styropor«, maulte Silas, als er auf seinen Teller blickte.
»Mach doch Maggi drüber«, schlug Marie vor.
Erik, Silas und Vincent blickten ebenso skeptisch auf ihre Teller wie die anderen Kollegen.
Nur Simon sah sich nicht in der Lage, Kritik an etwas, das Marie zubereitet hatte, zu üben. Artig schnitt er sich ein Stück von der Scheibe, die auf seinem Teller lag, ab, und steckte es sich in den Mund. Gespannt sah ihm Günther dabei zu.
Simon war es unangenehm, dass er am Tisch in diesem Augenblick zum Hauptdarsteller avanciert war. Er war der Vorkoster des Unbekannten, das auf ihren Tellern darauf wartete, probiert zu werden. Marie hatte das Gefühl, als würden alle nur darauf warten, dass Simon nach ein paar Bissen tot zur Seite kippte. In dem Augenblick, in dem sich auch Bärli traute und gerade die Gabel zum Mund führte, ertönte der Alarmgong.
» Erstes HLF – Küchenbrand in Gastronomie in der Arnulfstraße. «
»Ui«, rief Bärli und wirkte dabei erlöst. »Des war jetzt ganz schee knapp!«
Nacheinander sprintete die Besatzung des ersten Löschfahrzeugs zu den Rutschstangen, über die sie vom ersten Stock direkt in die Fahrzeughalle gelangten. Eine Minute später saßen sie im Fahrzeug und verließen die Wache.
»Okay. Wir haben einen Küchenbrand in einem Restaurant namens Hop Sin«, las Günther vor.
Marie zuckte bei dem Namen zusammen.
»Wie es aussieht, gibt es einen Brand in der Küche. Ich tippe auf Fettbrand. Lasst uns aber sicherheitshalber vor Ort die Gasleitung abdrehen. Das restliche Prozedere wie Strom abschalten und so weiter sollte jedem klar sein.«
Marie haderte mit sich, rückte dann aber doch mit ihrer Vermutung heraus: »Ich glaube, dass wir es mit einem Kurzschluss der Stromversorgung zu tun haben.«
Günther drehte sich zu Marie, die sich gerade ihre Atemschutzmaske über das Gesicht zog, um.
»Und verrätst du uns auch, woher du dieses hellseherische Wissen hast?«
Marie zögerte erneut, bevor sie sagte: »Ich kenne den Besitzer Baihu und habe ihn schon öfter darauf aufmerksam gemacht, dass er sich um die stark veraltete Stromversorgung kümmern muss. In dem Lokal bricht ständig die Spannung zusammen.«
Nicht nur Günther war über dieses Insiderwissen erstaunt.
»Das ist ja interessant. Dann wollen wir mal sehen, ob du recht hast«, sagte er und blickte verwundert zu Simon, der das Fahrzeug zum Einsatzort lenkte.
Der jedoch ließ die Äußerungen seiner Kollegin unkommentiert.
Als Marie sich ihre Flammschutzhaube überzog, war ihr klar, dass Günther ihre Vermutung nicht einfach so hinnahm.
»Ironie des Schicksals!«, lachte Bärli, der neben Marie den Pressluftatmer anlegte.
»Was meinst du?«, hakte Marie nach.
»Ich mein, dass es in dem Augenblick in einem Asia-Restaurant brennt, kurz bevor wir uns des Tofu-Zeug in den Mund schieben. Verstehst?«
Marie nickte nur und sah wieder nach vorne zu Günther, dessen Blick nichts anderes zu sagen schien als: Die Neue steckt in Schwierigkeiten .
» Leitstelle an 21/40-1, hier Leitstelle, bitte kommen! «
»21/40-1 hört!«
» Erhöhen auf zweiten Alarm. Im Obergeschoss sollen sich noch Leute befinden. Schicken Drehleiter und RTW, kommen! «
»Erhöhung auf zweiten Alarm, Personen im Obergeschoss«, wiederholte Günther Wolfgangs Funkspruch aus der Leitstelle.
» Ganz genau! «
Günther drehte sich wieder um. »Also, ihr habt es gehört.«
»Wie ist die Hausnummer?«, fragte Simon, erkannte jedoch eine Sekunde später selbst, dass das Ziel nur noch hundert Meter entfernt war.
»Bleib gegenüber stehen«, wies Günther ihn an und verließ kurz darauf als Erster das Fahrzeug.
»Okay. Angriffstrupp rein, Innenangriff im Erdgeschoss. Strom und Gas abdrehen. Leo, das Treppenhaus auf der Gebäuderückseite kontrollieren. Eventuell Personen im Obergeschoß. Simon, du legst den Verteiler direkt vor das Gebäude. Los!«
Marie sah zu den Menschen, die sich auf der anderen Straßenseite in Sicherheit gebracht hatten. Von Baihu keine Spur.
Simon hatte den Verteiler vor dem Gebäude positioniert und Bernhard den Schlauchkorb daran gekoppelt.
»Treppenhaus voller Rauch«, rief Leo.
Günther zeigte nach oben und Marie erkannte einen älteren Herrn, der vor dem geschlossenen Fenster stand und das Treiben auf der Straße vor dem Gebäude beobachtete. Er wirkte verwirrt, und Marie vermutete, dass er nicht ahnte, was um ihn herum in diesem Augenblick passierte.
Leo ging ein paar Schritte rückwärts auf die Straße, damit ihn der Mann sehen konnte.
»Bleiben Sie genau dort stehen!«, rief er nach oben. Der Mann öffnete das Fenster, um Leo besser zu verstehen. Leo wiederholte seine Anweisung.
Die Drehleiter und der RTW waren bereits zu hören.
»21/40-1 an 21/30-1 – Drehleiter vor Gebäude in Stellung bringen. Person im Obergeschoss!«, gab Günther den Kollegen per Funk durch, die bestätigten und Sekunden später Günthers Anweisungen in die Tat umsetzten.
Simon hielt Marie kurz am Arm fest. »Pass auf dich auf«, sagte er und verstärkte seinen Griff, was für Marie beinahe einer Umarmung gleichkam.
»Mia gehen jetzt nei. Schau zu, dass Wasser auf dem Verteiler is, hörst?«, meinte Bernhard zu Simon und öffnete die Eingangstür.
Das Restaurant war von Rauch erfüllt, die Sicht ging gegen null. Das Feuer, das allem Anschein nach aus der Küche kam, hatte sich bereits auf den Restaurantbereich ausgebreitet. Die Holzdecke im hinteren Bereich des Gastraums brannte zum Teil und hatte die Vorhänge zweier Fenster entzündet.
Bernhard stellte den Schlauchkorb ab und öffnete ihn. Mit festem Griff umklammerte er das Hohlstrahlrohr.
»Wasser marsch!«, gab er per Funk nach draußen an Simon weiter. Da der bereits die Pumpe in Gang gesetzt hatte, war umgehend Druck auf dem Schlauch und das Wasser schoss in Richtung Flammen.
»Mehr Druck!«
» Mehr Druck, verstanden! «
Da sich das Feuer ausgebreitet hatte, herrschte große Hitze, und der Qualm, der unaufhörlich aus der ein paar Meter weiter liegenden Küche kam, versperrte Bernhard und Marie die Sicht, sodass sie sich nur noch weitertasten konnten.
Das Feuer im Restaurant war schnell eingedämmt.
Marie stellte über den Schlauch Kontakt zu Bernhard her, um mit ihm zusammenzubleiben.
»Ois klar?«, fragte er in ihre Richtung.
»Ja. Ich sehe die Küche.«
Sie rückten weiter zur Küche vor, aus deren Tür vereinzelte Flammen traten.
Als Marie nach ein paar Schritten den Kücheneingang erreichte, sah sie eine Hand, die am Boden aus der Türöffnung ragte.
»Baihu!«, rief Marie und überholte ihren Kollegen.
»Bewusstlose Person im Erdgeschoss. Schickt’s uns eine Trage.«
Günther bestätigte, während Bernhard versuchte, mit dem Sprühstrahl den Gastraum herunterzukühlen. Dann legte er das Rohr auf dem Boden ab, um gemeinsam mit Marie den Restaurantbetreiber Richtung Eingang zu schaffen, wo Christian und Jan mit der Trage bereitstanden.
» Gas ist aus! «, meldete Silas, der über das Treppenhaus von hinten an die Lagerräume des Restaurants vorgedrungen war.
»Gas aus, verstand’n!«, sagte Bärli und rückte mit Marie erneut zur Küche vor.
» Lüfter in Stellung gebracht «, hörten sie Simon, der sich darum kümmerte, den Gastraum vom Rauch zu befreien.
Marie lief im Gastraum hinter die Theke, öffnete den Sicherungskasten und kappte den Strom. Zigmal hatte sie Baihu dabei beobachtet. Dadurch wusste sie, wo sich der Kasten befand, was ihr in diesem Augenblick zugutekam.
»Strom ist aus!«, rief sie.
Bärli gab die Information umgehend per Funk nach draußen.
Marie schnappte sich den Pulverlöscher, der neben dem Kücheneingang an der Wand hing und den Baihu anscheinend vor Aufregung nicht bedacht hatte.
Beherzt zog sie die Sicherung ab. »Ich gehe vor«, informierte sie Bärli und schob sich an ihm vorbei.
»Okay! Bin dicht hinter dir.«
Marie setzte ein paar Sprühstöße gegen die Wandsteckdose neben dem Eingang ab, von welcher der Brand auszugehen schien.
»Da hinten brennt ein Wok. Ich gehe mit dem Pulver ran!«, rief sie Bärli zu. Er gab ihr grünes Licht.
Da heißes Fett und Wasser eine denkbar schlechte Kombination waren, stellte der Pulverlöscher in der Situation die wohl beste Alternative dar. Um das Feuer einfach zu ersticken, dafür war es längst zu spät.
» Person aus Obergeschoß in Sicherheit! «, hörten die beiden über Funk, was den Druck, dass Personen zu Schaden kommen konnten, schon einmal von ihren Schultern nahm.
»Geh amoi da auf den Grill«, wies Bernhard sie an und wandte sich wieder zum Gastraum, um die Holzdecke erneut großräumig abzusprühen.
»Feuer aus!«, rief Marie.
»Feuer aus!«, gab Bernhard nach draußen weiter und nickte Marie wohlwollend zu. »Guad g’macht, Frau Kollegin.«
Sie streckte Bernhard ihre Hand entgegen, damit er sie abklatschen konnte. »Ebenfalls, Herr Kollege!«
»Hast du dei Halligentool dabei?«
»Ja«, bestätigte Marie und reichte es ihm.
»Dann lass uns moi die Oberschränke hier von der Wand reiß’n. Ned, dass die Scheiße nach oana Stund’ wieda brennt!«
Mit aller Kraft riss Bernhard an den Schränken, damit Marie mit dem Schlauch auch dahinter die Wand abkühlen konnte. Das Wasser verwandelte sich sofort in Dampf, was zeigte, dass Bernhard mit seiner Vermutung richtig lag.
»Wie steht’s mit deinem Sauerstoff?«
Marie sah auf die Anzeige ihrer Sauerstoffflasche. »Ich hab noch hundert!«
»Okay. Lass uns hier noch ein paar Minuten weitermacha, und dann raus hier!«
Als Marie und Bärli aus dem Haus kamen, war der Rettungswagen bereits abgefahren.
»Was ist mit Baihu?«, rief Marie aufgeregt und lief auf Silas zu, der ihr am nächsten stand.
»Dem Restaurantbesitzer?«
»Ja. Er war bewusstlos.«
»Mach dir keine Sorgen. Dem geht es gut. Hat eine kleine Rauchvergiftung. Sie haben ihn zur Beobachtung ins Klinikum Schwabing gebracht.«
Marie war erleichtert. Erst jetzt, als die Anspannung von ihr abfiel, wurde ihr bewusst, dass sie sich Vorwürfe machte. Hätte sie mehr auf Baihu einwirken sollen? Immer wieder hatte sie versucht, ihm begreiflich zu machen, dass er seine marode Stromversorgung nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte.
»Dein Spezi hat noch einmal Glück gehabt«, sagte Günther, als er neben Marie auftauchte. »Der Vogel hat versucht, das Feuer mit einem Handtuch selbst unter Kontrolle zu bringen.«
»Und wie geht es jetzt für ihn weiter?« Marie machte sich Sorgen, dass der Brand weitreichende Folgen für Baihu haben könnte.
»Das muss ein Gutachter entscheiden. Da bin ich raus. Der Vermieter wird bestimmt auch sein Fett wegkriegen. Das schützt jedoch deinen Sternekoch nicht. Immerhin hat er diese abenteuerliche Stromversorgung in Betrieb genommen.«
Bärli legte seine Sauerstoffflasche ab. »Auf jeden Fall ist die Dreiundvierzig süß-sauer jetzt gar und fertig zum Servieren«, witzelte er. »Also ich hätt’ einen saumäßigen Hunger.«
»Auf der Wache gibt es noch Tofu«, erinnerte ihn Leo im Vorbeigehen.
Bärli kratzte sich am Hinterkopf. »Wenn ich’s mir so recht überleg: Ich glaub, ich bin doch scho satt!«