JETZT REDE ICH
»Marie! Warte mal!«
Simon lief Marie, die aus der Umkleide kam und somit den Duschbereich für ihre Kollegen freigegeben hatte, hinterher. Marie blieb stehen.
»Hallo, Simon.«
»Gute Arbeit heute. Bärli hat nach der Nachbesprechung richtig von dir geschwärmt.«
Das freute Marie. Sie blieb jedoch nach außen hin cool. »Hat er das?«
Simon nickte. »Mhm. ›Ein Pfundsmadl‹ hat er gesagt.«
»Das ist nett von ihm. Sonst noch was?« Marie machte Anstalten, weiterzugehen.
»Ja …« Simon druckste herum. »Du, die ganze Sache …«
»Was für eine Sache?« Marie wollte es ihm nicht leicht machen. Er sollte ihr schon zeigen, ob es sich lohnen würde, um ihre Liebe zu kämpfen.
»Mir tut das alles schrecklich leid und ich komme mir unwahrscheinlich blöd vor.«
Marie wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen und hätte ihm freudig verkündet:
Alles vergessen! Lass uns noch einmal ganz von vorne anfangen!
Doch sie blieb standhaft. Wenn auch mühsam.
»Und was genau?«
»Die Sache mit uns, mit Black Beauty, Bärli und … wie ich mich aufgeführt habe …«
»Ach, darüber bin ich hinweg«, rutschte ihr heraus.
Am liebsten hätte sie sich dafür selbst auf die Zunge gebissen. Hatte sie ihm soeben beiläufig zu verstehen gegeben, dass sie damit auch über ihn hinweg war? »Also ich meine, über die Sache …«, schob sie schnell hinterher.
Simon wirkte verunsichert, und Marie hoffte, dass sie seinen Versuch eines Neustarts nicht zunichte gemacht hatte.
Er streckte seine Hand aus und berührte ihren Arm. Ohne sich vorher abzusichern, dass sie auch wirklich allein waren. Marie genoss die Berührung und schloss ihre Augen. Obwohl ihr Verstand sagte, dass sie stark bleiben sollte, saugte sie den sanften Druck auf ihrem Oberarm wie ein Schwamm auf und ließ den Reiz bis in die kleinste Zelle ihres Körpers wandern. Eine wohlige Wärme durchströmte sie. Als Simon versuchte, Marie etwas näher an sich heranzuziehen, holte die Realität sie ein.
»Nicht«, hauchte Marie, öffnete langsam ihre Augen und blickte ihn an.
»Warum?«
Sie drehte langsam ihren Körper zur Seite, um sich von Simons Arm zu befreien. »Wo soll das hinführen?«, flüsterte sie. Sie musste aufpassen, dass ihre Gefühle sie nicht überwältigten. »Deine ständigen Entschuldigungen bringen uns auch nicht weiter.«
Er senkte den Kopf und hielt für eine Weile inne, als wollte er nach den passenden Worten suchen, um keinen weiteren Fehler zu begehen.
»Ich …«, er hob den Blick und sah ihr in die Augen, »ich glaube, dass wir beide …«
»Marie Bach!«, schallte es zornig durch die Wache.
Es war Schiller, der Simon jäh unterbrach und Marie mit einem Schlag aus einer anderen Welt in die Wirklichkeit zurückholte. Schnellen Schrittes kam Schiller die Treppe herunter und blieb, als er Marie und Simon erblickte, auf der Hälfte stehen.
»In mein Büro!«, keifte er, drehte sich um und ging voran.
Marie stand wie erstarrt im Flur. Im nächsten Augenblick wurde ihr bewusst, was der Grund für Schillers Laune war.
Sie wartete noch einen Moment, um dem Wachleiter einen Vorsprung zu lassen. Schließlich war sie kein Schulmädchen, das ins Direktorat gerufen wurde und sich vor lauter Pein fast überschlug, um dem Befehl nachzukommen.
Simon wirkte, als wäre er am liebsten mit ihr gegangen. Marie lächelte ihn an, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass Schiller ihr etwas anhaben könnte.
Dann drehte sie sich um und folgte dem Ruf ins Büro ihres Vorgesetzten. Als sie sich nach ein paar Schritten nochmals umdrehte, stand Simon immer noch regungslos da und schaute ihr nach.
Im ersten Stock angekommen, sah sie, dass die Tür zu Schillers Büro offen stand. Ein Lichtkeil aus seinem Zimmer fiel in den Flur und dort auf einen kleinen Ficus, der in der Ecke stand.
»Machen Sie die Tür hinter sich zu«, wies Schiller sie unsanft an.
Mit verschränkten Armen lehnte er an der vorderen Seite seines Schreibtisches, was darauf hindeutete, dass es gleich eine Standpauke hageln sollte.
»Sie wollen mich sprechen?«, eröffnete Marie selbstbewusst das Gespräch, obwohl sie innerlich zitterte.
Mit breitem Schritt stellte sie sich vor ihn, um einen festen Stand zu haben. In ihren Sicherheitsschuhen krallte sie abwechselnd die Zehen zusammen, um eine aktive Verbindung mit dem Boden einzugehen. Ihre Hände nahm sie hinter den
Rücken. Sie sah Schiller mit starrem Blick an und merkte, dass ihre gespielte Sicherheit ihn verunsicherte. Länger als üblich blickte er zurück und wirkte dabei, als müsse er seine Strategie neu überdenken.
Dann kam er endlich mit seinem Anliegen heraus.
»Sagen Ihnen Brandschutz und Vorsorge etwas?«
Marie nickte. »Selbstverständlich.«
Schiller setzte sein schmierigstes Grinsen auf und wippte mit dem Kopf auf und ab. »Wie ich aus sicherer Quelle erfahren habe, wussten Sie schon seit Längerem von dem unzureichenden Brandschutz in diesem Hop Sin.«
Klar. Günther, das Waschweib, hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als Schiller brühwarm davon zu berichten. Toller Kollege
, dachte Marie, gab sich jedoch weiterhin unbeeindruckt.
»Ja, ich habe Baihu, den Besitzer des Hop Sin, schon ein paarmal darauf aufmerksam gemacht, wegen der Sache bei seinem Vermieter vorstellig zu werden. Dass die Sicherung immer wieder herausgeflogen ist, hatte meiner Meinung nach mit der zu hohen Spannung in der Küche zu tun.«
»Mhm!« Schiller tat, als wäre er ein Oberkommissar und Marie mit ihm in einem Verhörraum. »Und Sie als Angehörige der Feuerwehr hielten es nicht für nötig, dies zu melden, damit sich ein Brandschutzbeauftragter um die Sache kümmert?«
Marie atmete durch. »Ich war überzeugt davon, dass der Besitzer sich um die alten Leitungen kümmern würde, und sah daher keine Veranlassung dazu.«
»Mhm!« Schiller tat nun überrascht. »Fräulein Bach, wie lange sind Sie nun schon bei der Feuerwehr?«
Marie sah zur Decke, als würde sie scharf überlegen. »Im August werden es …«
»Lassen Sie das!«, fuhr Schiller ihr energisch dazwischen. »Ich weiß selbst, wie lange Sie schon dabei sind.« Er wurde lauter, seine Gesichtsfarbe veränderte sich. »Vielmehr geht es
darum, was Sie geritten hat, selbst zu entscheiden, ob in diesem Lokal eine Dringlichkeit besteht!« Er löste sich von der Tischplatte, ging um seinen Schreibtisch herum und stützte sich mit beiden Händen darauf ab.
Marie blieb standhaft.
Doch je ruhiger sie blieb, desto wütender wurde Schiller. Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Wissen Sie, was durch Ihre Fahrlässigkeit alles hätte passieren können? Die Gäste im Restaurant, das Gebäude, die angrenzenden Häuser …« Er kam wieder vor seinen Tisch und zeigte mit seinem Finger auf Marie. »Das zieht ein Disziplinarverfahren nach sich und kann Sie den Kopf kosten!«
»Bitte , wenn Sie das so möchten«, hörte Marie sich selbst in ruhigem Ton sagen.
»Wie bitte?«
»Machen Sie nur! Zeigen Sie mich an! Rufen Sie es heraus!« Auch sie schlug nun eine andere Tonart an. »Marie Bach ist schuld, dass ein Lokal ausgebrannt ist. Darauf haben Sie doch die ganze Zeit gewartet.«
»Moment! Nicht in diesem Ton!«
»Ach, in welchem Ton wäre es denn angemessen?« Sie ging einen Schritt auf ihn zu und sah ihm tief in die Augen. »Fühlen Sie sich von ein paar Frauen in diesem Beruf so bedroht, dass Sie verzweifelt nach einem Grund suchen, um sie wieder loszuwerden? Damit alles wieder so ist wie früher? In der guten alten Zeit? Falls Sie es noch nicht gemerkt haben – die hat sich geändert!«
Schiller kochte. »Wie reden Sie denn mit mir?!«
»Ich denke, das ist hier auf dieser Wache der übliche Ton. Den geben Sie doch vor!«
Es klopfte an der Tür. Jonah streckte seinen Kopf in Schillers Büro.
»Jetzt nicht!«, schrie Schiller ihn an.
»Mein liebes Fräulein Bach …«
»Frau Bach«, verbesserte Marie. »Fräulein gibt es schon lange nicht mehr.«
»Ruhe! Jetzt – rede – ich!«, brüllte Schiller mit hochrotem Kopf.
Marie tat, was er verlangte. Sie wollte nicht daran schuld sein, wenn sein Blutdruck ihn womöglich auf die Bretter schickte. Auch sie war ziemlich aufgewühlt und zitterte am ganzen Körper. Gott sei Dank blieb das durch ihre Dienstkleidung verborgen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
»Was maßen Sie sich eigentlich an? Wenn ich spreche …«
Der Alarmgong ertönte.
»
Münchner Löschzug – Brand in Gebäude, eventuell Personen in Gefahr.
«
»Tja.« Marie gab sich geschäftig. »Da wird wohl mein Typ verlangt.«
»Wir sind noch nicht fertig!«, rief er ihr nach.
Mit einem Ruck öffnete Marie Schillers Bürotür und lief mit weichen Knien um die Ecke. Erst vor der Rutschstange bremste sie abrupt ab, umklammerte diese und ließ sich in die Fahrzeughalle hinabgleiten.
Wie dieser Tag enden würde, wusste sie in diesem Augenblick nicht. Nun war nur eines wichtig: ihre Pflicht als Feuerwehrfrau auszuführen. Stolz überkam Marie, als sie in ihre Stiefel sprang und die Einsatzhose zu den Hüften zog. Stolz, dass sie vor Schiller nicht eingeknickt war. Wahrscheinlich hatte sie in diesem Moment mehr Courage bewiesen als jeder Einzelne ihrer Kollegen. Auch wenn dies vielleicht bedeutete, dass ihre Tage auf der Wache gezählt waren.