LASS MICH NICHT LOS
»21/10-1 an Münchner Löschzug – Wir haben einen Brand in einer Galerie «, hörte Marie aus dem Funk, als sie mit dem ersten Hilfeleistungslöschfahrzeug den Hof verließen. »Es befinden sich eventuell Personen in Gefahr
»Erik? Wo ist Bärli?«
»Schau mal hinter dich«, meinte der und zeigte mit seinem Daumen auf die Bank eine Reihe hinter Marie.
Marie drehte sich um. Dort saß Bärli neben Silas.
»Was hat er denn?«, fragte Marie Erik etwas leiser.
»Ich glaube, er hat sich heute beim Löschen in dem Restaurant was gezerrt«, schmunzelte Erik.
»Tja, wir werden alle nicht jünger«, meinte Marie.
»Ja, wem sagst du das. Also, pass gut auf mich auf.«
»Ich werde mir Mühe geben«, versicherte Marie und zog sich ihre Flammschutzhaube übers Gesicht.
»Red’s ihr von mia?«, kam es von Bernhard über Maries Rücken.
»Nein, Bärli«, rief Erik. »Wir reden übers Wetter.« Er zwinkerte Marie zu.
Günther, der auf dem Beifahrersitz neben Simon saß, drehte sich um. »Heute bringen sie uns ganz schön auf Trab, was?«
Erik, der die Maske aufsetzte, nickte nur. Marie hingegen sah keine Veranlassung, auf Günthers Spruch zu reagieren. Immerhin war er es gewesen, der sie bei Schiller angeschwärzt hatte. Sie schloss den Brustgurt, der das Atemschutzgerät an ihrem Körper fixierte. Der vorangegangene Einsatz hatte seine Spuren hinterlassen. Ein zweiter Einsatz mit Atemschutz an einem Tag stellte selbst für einen gestandenen Mann eine Herausforderung dar. Doch Marie biss die Zähne zusammen. Entgegen Schillers Meinung gab es bei der Feuerwehr keinen Unterschied, ob man Mann oder Frau war.
Simon steuerte den der Galerie gegenüberliegenden Gehweg an und hielt an.
»Los geht’s«, trieb Günther als Staffelführer die Besatzung des HLF 1 an und sprang aus dem Wagen.
Die gesamte Wache 21 sammelte sich um Jonah vor dem Einsatzleitwagen, um Anweisungen entgegenzunehmen.
»Angriffstrupp zum Löschangriff ins Gebäude vor. Es befinden sich eventuell Personen darin. Marie und Erik, seid vorsichtig und passt auf, dass euch das Gebälk nicht auf die Birne fliegt. Und haltet Funkkontakt«, wies Jonah an.
Marie nickte, während sie zu dem brennenden Gebäude hinübersah.
»Erdgeschoß und erster Stock sind Galerieräume, im zweiten ist wohl noch ein Büro. Bernhard und Silas, ihr bildet den Sicherungstrupp und rüstet euch aus«, instruierte Jonah die anderen, die ebenfalls zustimmend nickten.
Die Polizei war bereits vor Ort und kümmerte sich um die Schaulustigen, die mit ihren Smartphones gefährlich nah ans Geschehen drängten, um einen Schnappschuss zu ergattern, der ihnen möglichst viele Likes einbringen sollte. Verrückte Welt.
Marie war nervös und angespannt. Doch das wollte sie sich auf keinen Fall anmerken lassen. Irgendetwas war anders in diesem Moment. Ein Gefühl, das sie das letzte Mal heimgesucht hatte, als sie mit siebzehn Jahren mit ihrem Snowboard an einem Abhang fernab der Piste stand und nach unten blickte. »Du musst deine Grenzen überwinden«, hatte ihr damaliger Freund gemeint. Dann zog er seine Skibrille über die Augen und fuhr voraus. Mit sieben Stichen hatte der Arzt in der Notaufnahme damals ihre Platzwunde am Hinterkopf genäht. Hätte sie bloß auf ihr Bauchgefühl gehört.
Marie koppelte den Lungenautomat mit ihrer Atemschutzmaske. »Alles klar mit dir?«, erkundigte sie sich kurz bei Bernhard.
»Ja, passt schon. In der Hüfte zwickt’s ein bisserl.«
»Komm! Los geht’s!« Erik klopfte ihr zweimal auf den Helm und marschierte mit einer Lässigkeit voraus, als würde er zu einer Wandertour aufbrechen.
Marie warf einen prüfenden Blick auf das Manometer ihrer Sauerstoffflasche, schnappte sich die Axt und folgte ihm.
Die weiße Außenfassade des Gebäudes war mittlerweile dort dunkel von Ruß, wo sich der Rauch den Weg in die Freiheit bahnte.
Weiterer Qualm drückte sich ihnen aus dem Haupteingang entgegen. Durch die großen Scheiben im Erdgeschoss sah man, wie die Flammen um die letzten Gemälde, die bis zu diesem Zeitpunkt noch verschont worden waren, züngelten. Der gesamte große Ausstellungsraum stand in Flammen. Eine der Scheiben neben dem Eingang zersprang durch die Hitze in tausend Teile und gab den Flammen, die sofort aus dem Gebäude stoben, freie Bahn, sich an der Außenfassade den Weg nach oben zu suchen.
»Scheiße!«, rief Simon, der ein paar Meter entfernt bereits den Verteiler verlegt hatte, an den Erik jetzt den Schlauchkorb koppelte. »Passt auf da drin!«, hörte Marie ihn noch rufen. Doch sie war zu sehr auf Erik fokussiert, um Simons Warnung zu bestätigen, und folgte ihm ins Haus. Zwischenzeitlich rollte Leo einen weiteren Schlauch aus, um das Feuer gemeinsam mit Vincent von der Straße aus zu bekämpfen.
Es war dunkel im Gebäude. Eine Walze, gemischt aus Rauch und Hitze, drückte sich durch die Räume. Marie atmete schwer, als sie ihre Lampe einschaltete. Ruhig Marie , sagte sie sich innerlich, nicht zu viel Sauerstoff verbrauchen . Der Lärm auf der Straße wurde leiser mit jedem Schritt, den sie in das Gebäude machten.
»Wir gehen hoch in den Ersten!«, rief Erik und deutete auf die Wendeltreppe, die zum oberen Stockwerk führte.
Ein Wasserstrahl schoss von außen in den großen Ausstellungsraum und schlängelte sich dem Feuer entgegen, das sich vehement dagegen wehrte.
Im ersten Stockwerk hatte sich im hinteren Teil des Gebäudes ein weiteres Feuer ausgebreitet. Skulpturen aus Gips und Porzellan, die inmitten des Raumes standen, hielten den hohen Temperaturen ebenso wenig stand wie die Glasscheiben und zersprangen wie diese.
»Verdammt!«, rief Erik. »Das breitet sich schneller aus als erwartet!«
Er sah zur Decke, wo alte Holzbalken lichterloh brannten und drohten, jeden Moment auf sie herabzufallen.
»Da drüben ist eine Tür! Die führt wahrscheinlich ins Treppenhaus in den Zweiten!« Marie zeigte mit der Axt in den hinteren Teil des Raumes.
Erik nickte zustimmend.
»Hallo?«
Auf das Rufen folgte starkes Husten und dann ein weiterer schwacher Hilferuf.
»Hallo? Wo sind Sie?«, rief Marie in die Wand aus Rauch und tat zwei Schritte in die Richtung, aus der sie die Rufe vermutete. Eine Skulptur aus Pappmaschee hatte durch die Hitze bereits eine ganz neue Form angenommen, bevor sie gänzlich in Flammen aufging.
»Hier bin ich, hier!«
» Angriffstrupp für 21/40-1, wir haben eine Person im ersten Stock. Kommen «, gab Erik über Funk an Jonah durch.
» 21/40-1, Person im ersten Stock. Verstanden, Ende
»Ich hab sie!«, rief Marie, als sie hinter einem Paravent, der an einer Seite zu brennen begann, eine Frau auf dem Boden liegen sah.
» Wir kommen mit einer Person raus! «, gab Erik nach draußen und eilte Marie zu Hilfe.
Die Frau, etwa Ende vierzig, hatte eine Platzwunde an der linken Schläfe. Ihr weißes Kostüm war voller Ruß und am Rocksaum eingerissen. Ihr fehlte ein Schuh und ihre Hochsteckfrisur hatte bestimmt an diesem Morgen, als sie ihre Wohnung verließ, besser ausgesehen.
»Hallo? Hören Sie mich?« Die Frau nickte. »Fordere eine Trage an!«, sagte Marie.
Erik gab es weiter.
Marie zog eine Brandfluchthaube aus dem Case an ihrem Gürtel. »Ich ziehe Ihnen nun eine Haube über Ihren Kopf. Bitte atmen Sie einmal aus. Sobald die Maske über Ihrem Gesicht ist, atmen Sie tief ein, okay?«
Die Frau zitterte, doch sie verstand.
Gerade, als die beiden sie anheben wollten, kam ein brennender Querbalken von der Decke und knallte vor der Treppe auf den Boden.
»So ein Mist!«, rief Erik. »Komm! Hilf mir!«
Er zog den restlichen Schlauch aus dem Tragekorb.
»Wasser marsch!«, rief er über Funk und richtete das Rohr auf den Balken, der ihnen den Weg versperrte. Marie kniete hinter ihm und führte den Schlauch, als im hinteren Teil des Raumes ein weiteres Fenster zersprang.
»Das sollte reichen!«, rief Erik, als der Balken nach ein paar Sekunden erloschen war und nur noch qualmte. »Lass uns zusehen, dass wir hier rauskommen!«
Sie packten die Frau und brachten sie zur Treppe. Erik ging voraus.
»Ich hasse Wendeltreppen!«, schrie er und tastete sich vorsichtig Stufe um Stufe ins Erdgeschoss. Mit jedem Schritt schlugen die Flaschen auf ihren Rücken gegen das Geländer.
Plötzlich blieb Marie stehen. Erik sah sie auffordernd an.
»Was ist los? Träumst du? Jetzt mach!«
»Da ist noch jemand!«
»Quatsch! Das ist das Holz, das du hörst und uns bald auf den Schädel fliegt, wenn wir hier nicht schleunigst rauskommen! Du siehst doch, wie alt die Hütte ist!«
»Und ich sage dir, da ist noch jemand!«
Marie hörte erneut eine dumpfe Stimme, die nur mit Mühe durch die Flammschutzhaube an ihre Ohren gelangte.
»Weiter!«, schrie Erik mit weit aufgerissenen Augen.
Sie folgte seiner Anweisung. Zwei Personen auf einmal konnten sie nicht retten. Nun musste alles schnell gehen. Maries Knie brannten vor Anstrengung.
»Komm, noch ein paar Stufen, dann nix wie raus hier!«, rief Erik, während er nach unten starrte, um keinen Fehltritt zu riskieren.
Durch den Rauch waren schemenhaft die Blaulichter der Einsatzfahrzeuge zu sehen, die ihnen in diesem Irrgarten den Weg wiesen. Simon kam ihnen mit Christian und Jan auf den letzten Metern entgegen. Sie warteten schon mit einer Trage vor dem Eingang.
»Ist die Frau allein?!«, wollte Simon wissen.
»Ich hab nichts mehr gehört! Das Feuer im ersten Stock ist bereits zu weit fortgeschritten! Da können wir nur noch von außen ran!«, klärte Erik auf, während er mit Marie die Frau an die Sanitäter übergab.
»Doch!«, rief Marie. »Da ist noch jemand!«
»Was denn nun?« Simon blickte die beiden abwechselnd an.
»Marie meint, sie hätte eine Stimme gehört!«
»Ganz bestimmt! Ich bin mir sicher!«
»Da kannst du nicht rein, verdammt noch mal! Die Decke kommt runter! Wir müssen von außen ran!«, schrie Erik sie an. »Am besten von der Rückseite!«
»Das kannst du vergessen!«, klärte Simon auf. »Das ist nur ein kleiner Innenhof. Wenn überhaupt, dann kommen wir von hinten nur mit einer zweiten Drehleiter von der Straße ran.«
Marie hielt inne. Während hier diskutiert wurde, kämpfte vielleicht zwei Stockwerke über ihnen jemand um sein Leben. Bauchgefühl. Bitte Bauch, sag was. Ihr Puls schlug bis zum Hals. Neben ihr schoss ein Wasserstrahl ins Gebäude.
Sie blickte auf ihr Manometer. Noch ausreichend Sauerstoff vorhanden. Auf der anderen Straßenseite schoben Christian und Jan die Trage mit der verletzten Frau in den Rettungswagen, um sie dort weiter zu versorgen. Alles bewegte sich plötzlich wie in Zeitlupe.
Marie blendete die Stimmen um sich herum aus. Vielleicht hatte das Feuer die Treppe in den Zweiten noch nicht erreicht? Sie war sich sicher, jemanden gehört zu haben. Simon gab Zeichen, sie solle das Haus verlassen. Auch Erik nahm nun seine Maske ab und winkte Marie zu sich. So sehr die Vernunft sie auch zu ihren Kollegen zog, sie stand wie versteinert in der großen Eingangstür der brennenden Galerie. Sie musste auf ihren Bauch hören. Simon lief auf Marie zu, als sie ganz deutlich einen weiteren Hilferuf von oben hörte. Plötzlich war sie klar im Kopf, sah zur Axt in ihrer Hand und umschloss den Griff ganz fest.
»Und ich sage dir, da ist jemand!«, rief sie Simon zu, drehte sich um und lief zur Wendeltreppe.
»Marie!«
Vielleicht rief Erik, vielleicht Simon, vielleicht aber auch beide.
Ihr Funkgerät meldete sich, noch bevor sie die letzte Stufe vor dem ersten Stockwerk erreicht hatte.
»Marie! Melde dich und komm sofort zurück«, befahl Jonah in strengem Ton. »Marie! Nur zu zweit! Hast du das vergessen?«
Nein. Sie hatte nichts vergessen. Keine Zeit, um zu antworten. Die letzten Wochen liefen wie ein Film in ihrem Kopf ab. Dann: Standbild.
Als Marie im ersten Stock ankam, tauchte Schiller in ihrem Kopf auf. Wie er sie piesackte und ihr Steine in den Weg legte. Eine brennende Lampe, die von der Decke auf den Boden knallte, beendete schlagartig die Vorstellung.
Auf Jonahs Funkrufe hörte sie nicht mehr.
»Hallo?! Ist da jemand?!«
Nichts. Vielleicht wurde sie durch die Maske nicht gehört, auch wenn sie noch so laut rief.
Was, wenn Erik Recht hatte und Marie sich diese Rufe nur einbildete?
»Hier!«
Also doch! Marie versuchte, die Richtung der Stimme zu lokalisieren.
»Hallo! Wo sind Sie?« Ihre Beine zitterten. Sie sah auf das Manometer. Ruhig, Marie , versuchte sie sich selbst zu beruhigen.
»Hier oben!«
Sie hatte sich nicht geirrt. Schnell lief sie zu der Spindeltreppe, die ein paar Meter neben der Wendeltreppe in den Zweiten führte. Marie blickte nach oben, doch außer Rauch war nichts weiter zu sehen.
»Hallo! Hilfe!«
»Keine Angst! Ich hole Sie hier raus!« Marie versuchte, mit entschlossener Stimme Sicherheit zu vermitteln, an der sie jedoch mit jeder weiteren Minute, die verstrich, selbst zunehmend zweifelte. Schiller blitzte wieder in ihrem Kopf auf. »Gleich bin ich bei Ihnen! Halten Sie durch!«
Verdammt, die Treppe war noch enger als die andere. Schnell zur Tür, die ins Treppenhaus führen musste, das durch den Innenhof zu erreichen war. »Verdammt!« Sie war verschlossen. Ein Blick zur Axt. Ein paar Schläge und die Tür wäre vielleicht offen.
Aus dem Stockwerk über ihr war starkes Husten zu hören. Okay, keine Zeit mehr. Dann eben die kleine Spindeltreppe. Die Sauerstoffflasche drückte sich immer mehr gegen Maries Wirbelsäule und schlug ständig an das Eisengeländer. Die Stufen waren steiler verbaut als gewöhnlich. Diese Treppe war eindeutig nicht für Rettungszwecke geeignet. Mit jedem Schritt verließen sie ihre Kräfte mehr und mehr.
»Können Sie an den Abgang herankommen?!«, rief Marie mit letzten Kräften, während sie sich weiter nach oben kämpfte.
»Hier ist alles voller Rauch!« Das beantwortete die Frage nicht wirklich.
Ihr wurde schwarz vor Augen, dann knickten ihre Knie ein. Mit aller Kraft zog sich Marie am Geländer wieder in den Stand.
»Hallo?!«
»Gleich – bin – ich …« Wieder versagten ihre Beine und sie brach zusammen.
So sehr Marie auch versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, es gelang ihr nicht. Erst jetzt bemerkte sie das Pfeifsignal der Sauerstoffflasche, das schwach an ihre Ohren drang. Wie lange dieses Signal bereits andauerte, konnte sie nur erahnen, als sie das Manometer vor ihre Sichtscheibe zog. Die Anzeige stand kurz vor null. Dann wurde es dunkel.
fleuron
»Marie!«
Wer rief nach ihr?
»Marie!«
Sie spürte eine Hand an ihrer linken Schulter. Es fiel ihr schwer, die Augen zu öffnen.
»Marie!«
Die Stimme kam ihr bekannt vor.
»Erik! Nach oben!«
Marie kam zu sich. Sie erinnerte sich langsam, wo sie war. Da war diese Frau. Sie musste nach oben. Marie spürte, wie ihr Arm um eine Schulter gelegt wurde. Dann ein fester Druck an ihrer Hüfte.
»Komm! Wir müssen hier raus!«
War das Simon? Schemenhaft sah sie, wie jemand an ihr vorbei die kleine Treppe hinauflief. Husten vom Stockwerk darüber. Marie wollte nach oben, doch sie war zu schwach, sich gegen die Person zu wehren, die sie zur Treppe ins Erdgeschoss schleppte.
»Ein paar Stufen. Das schaffst du!«
Ihre Knie waren schwammig. Sie zitterte am ganzen Körper. Der Mann, der Marie im Schlepptau hatte, korrigierte den festen Griff um ihre Hüfte und zog ihren Arm fester um seine Schultern.
»Noch zwei Stufen, Marie! Dann hast du es geschafft.«
Sie sah blaues, blinkendes Licht und wollte sich mit dem Handrücken über die Augen reiben. Verdammt. Die Maske.
Zwei Männer, die am Eingang warteten. War einer von ihnen Christian? Der Nebel lichtete sich, als sie das Gebäude verließen. Jan trat neben Marie und legte ihren anderen Arm um seine Schultern. Ihre Beine liefen wie von selbst. Die Maske!
Nehmt mir dieses Scheißding ab , wollte sie sagen. Brachte es jedoch nicht über ihre Lippen.
Ihre Beine versagten neben Jonahs Einsatzleitwagen erneut und gaben der Schwerkraft nach. Sie ging zu Boden, die beiden Männer stützten sie. Einer der beiden streifte ihr die Flasche vom Rücken und nahm vorsichtig ihren Helm ab. Der andere kniete hinter Marie, zog sie zu sich und legte ihren Kopf auf seinen Schenkeln ab. Voller Panik begann sie, an ihrer Maske zu ziehen.
»Warte, ich helfe dir«, hörte sie eine Stimme sagen.
Endlich. Jemand zog die Flammschutzhaube von ihrem Kopf und nahm ihr dann die Maske ab. Sie japste nach Luft, als ob sie ohne Sauerstoff einen Tauchgang absolviert und in letzter Sekunde die Wasseroberfläche erreicht hatte. Ihr Retter nahm ebenfalls seine Maske ab, legte sie neben sich auf den Asphalt und sah Marie sorgenvoll aus seinen braunen Augen an.
»Simon, du?«
»Was machst du denn für Sachen?« Er zog seine Handschuhe aus, strich ihr ein paar Haare aus der Stirn und legte seine Hand an ihre Wange. Sein Daumen massierte sanft ihre Schläfe.
»Ich … da war noch …ich hatte doch recht, oder?«
Simon nahm ihr Gesicht in beide Hände und drehte ihren Kopf vorsichtig nach links. Marie sah, wie Erik eine Frau zum Rettungswagen brachte.
»Wie geht es …« Marie versuchte ihren Kopf zu heben, was Simon nicht zuließ.
»Ihr geht es gut. Bestimmt nur eine Rauchvergiftung. Sie wird gut versorgt.«
»Sag mal, spinnst du?«, schrie plötzlich eine Stimme.
Marie wendete ihren Blick von Simon ab.
»Was glaubst du denn, wer du bist?« Günther hatte sich vor den beiden aufgebaut und wetterte mit hochrotem Kopf auf Marie herab. »Hier werden keine Alleingänge gemacht, Fräulein! Warte nur, bis Schiller davon erfährt! Wolltest dir wohl beweisen, dass du …«
»Jetzt halt aber mal die Schnauze!«, schrie Simon energisch. »Wer gängelt sie denn tagein, tagaus und gibt ihr das Gefühl, nicht richtig dazuzugehören? Pack dich doch an der eigenen Nase! Von Schiller ganz zu schweigen! Ihr habt sie doch so weit getrieben! Seid lieber froh, dass nicht mehr passiert ist!«
Günther zeigte sich von Simons Versuch, ihn einzubremsen, ziemlich unbeeindruckt. Er war mit seiner Ansprache noch nicht am Ende und kam jetzt erst so richtig in Fahrt.
»Was mischst du dich denn da ein? Bist du jetzt unter die Frauenrechtlerinnen gegangen? Sie hat Mist gebaut, das ist Fakt!«
»Sie hat einer Frau das Leben gerettet. Wenn Marie nicht gewesen wäre, würden wir diese Frau dort hinten in der Waagerechten aus dem Haus tragen. In einem Sarg!« Simon deutete zum Rettungswagen.
Günther wollte gerade erneut ansetzen, als Jonah dazwischenging.
»Komm, Günther. Lass gut sein. Hilf lieber Erik mit seinem Anzug. Ich glaube, er hat nach dir gerufen«, flunkerte er, drehte Günther in Richtung Galerie und schob ihn ein wenig an.
Jonah sah Marie mit nach oben gezogenen Augenbrauen an und kam ihr einen Schritt näher. Er ging in die Hocke.
»Alles okay?«
»Ja, ich glaube schon. Tut mir …«
Jonah unterbrach sie. »Ich glaube, wir ersparen uns beide weitere Erläuterungen.« Er kam wieder in den Stand. »Mir ist nur schleierhaft, was ich in den Bericht schreiben soll.«
Simon klinkte sich ein. »Am besten das, was in Wirklichkeit vorgefallen ist. Marie kam mit Erik raus und ging mit mir zusammen nochmals rein. Konnte ja niemand ahnen, dass ihr Manometer defekt ist und ihr vorzeitig der Sauerstoff ausgeht. Gott sei Dank waren wir vorschriftsmäßig zu zweit.«
Wieder zog Jonah die Augenbrauen nach oben und fixierte Simon, bevor er sich an Marie wandte.
»War es so, wie Simon es geschildert hat, Marie?«
Sie blickte zu Simon, der seine Lippen aufeinanderpresste. Dann wanderten ihre Augen langsam zu Jonah. Sie nickte.
»Na gut, ihr zwei. Dann sind wir froh, dass alles noch einmal gut gegangen ist. Da sieht man wieder einmal, wie wichtig unsere Übungen sind. Damit auch im Ernstfall jeder weiß, was zu tun ist. Nicht wahr?« Er machte Anstalten zu gehen, blieb aber erneut stehen. »Der Brand ist übrigens unter Kontrolle. Wir werden jedoch noch ein paar Stunden bleiben.«
»Okay«, sagte Simon.
Jonah ging nochmals in die Hocke und legte eine Hand auf Maries Schulter.
»Ach, übrigens … Marie …«
»Ja?«
»Gut gemacht.«
Dann verließ er sie endgültig, um den Einsatz weiter zu koordinieren.
Marie fiel ein Stein vom Herzen. Zwar war sie sich nicht sicher, ob ihr Kopf aus der Schlinge war, doch fürs Erste reichten ihr weitere Vorwürfe.
»Aufstehen?«, schlug Simon vor.
»Okay. Ich bin aber bestimmt noch ein wenig wacklig auf den Beinen.«
»Dafür bin ich ja da«, versicherte er, stand auf und zog Marie in seine Arme. »Geht’s?«
»Ja. Aber du lässt mich besser los. Unsere Kollegen gucken schon.«
Simon sah sich um, bevor er Marie tief in die Augen sah. Maries Herz beschleunigte den Takt. Er zog sie näher an sich heran und nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. Sie hatte das Gefühl, dass ihr die Knie erneut versagten. Doch je mehr Zeit verstrich, desto sicherer fühlte sie sich in seiner Nähe. Ihm schien es ebenfalls so zu gehen. Dann brach er das Schweigen, ohne seinen Blick von Marie zu nehmen.
»Vielleicht sollten wir unseren Kollegen etwas mehr bieten. Verdient hätten sie eine kleine Abwechslung nach diesem Einsatz.« Seine Mundwinkel gingen nach oben.
»Was meinst du?«, fragte sie verunsichert und erwartungsvoll zugleich. Er beugte sich zu ihr.
»Ich hatte Angst um dich.«
Kaum hatte Simon diesen Satz ausgesprochen, wurde Marie bewusst, in welche Gefahr sie sich gebracht hatte. Tränen stiegen ihr in die Augen und liefen kurz darauf ihre Wangen hinunter. Sie zitterte.
»Lass mich nicht los«, hauchte sie.
»Wenn du willst, nie mehr.« Dann berührten sich sanft ihre Lippen.
»Aber …«
»Ist okay«, versicherte Simon und küsste sie erneut. Mit jeder Sekunde, die sich ihre Lippen berührten, blendeten sie mehr und mehr ihr Umfeld aus. Seine Hand strich sanft über ihren Nacken und ein prickelnder Schauer lief ihr über den Rücken, der ihrem geschwächten Körper neues Leben einhauchte.
»Oh, là, là!«, kam es, untermalt von einigen Pfiffen, von den Kollegen.
Simon wollte sich gerade von Marie lösen, als sie ihn wieder fest an sich heranzog. Zu sehr hatte sie sich diesen Augenblick herbeiersehnt. In ihrer Fantasie waren sie zwar alleine in den Bergen oder an einem einsamen Strand gewesen, doch nun musste sie sich wohl mit dieser Situation zufriedengeben. Inmitten ihrer Kollegen auf einer abgesperrten Straße in München neben einer ausgebrannten Galerie.
»Äh, ihr zwei Turteltauben … ich unterbreche euch ja nur ungern …«, Jonah stand plötzlich neben den beiden und klopfte Simon auf die Schulter, »aber unsere liebe Hirschlein von der Presse springt seit einiger Zeit hier herum.«
»Was?« Simon war erstaunt. »Was will die denn schon wieder?«
»Keine Ahnung«, meinte Jonah. »Wir hatten noch nicht einmal den dritten Schlauch ausgerollt, da war sie schon da.«
Sie sahen in die Richtung, in die auch Jonah blickte. Caroline Hirschlein sprang mit Kamera und Diktiergerät umher und kämpfte sich in gebückter Haltung unter der Absperrung hindurch.
»Marie, ich bezweifle, dass du scharf auf eine weitere Schlagzeile bist, oder?«, schmunzelte Jonah.
»Bloß nicht!« Sie schüttelte energisch den Kopf und wischte sich mit dem Daumen ihre feuchte Unterlippe trocken.
»Ich zieh mal Leo ab, damit der sich um sie kümmert. Wofür haben wir schließlich einen Pressesprecher?« Jonah machte sich daran, ihr entgegenzugehen. Nach wenigen Schritten drehte er sich nochmals um.
»Ach … Simon?«
»Ja?«
»Im RTW haben wir Sauerstoff und Masken. Du kannst also eine Pause bei der Beatmung machen!« Dann grinste er hämisch und machte sich auf den Weg zu Leo, um ihn auf die Journalistin anzusetzen.
Simon zog die Augenbrauen nach oben und wischte sich vorsichtshalber mit dem Handrücken über den Mund. Als ob Marie mit geschminkten Lippen zu einem Einsatz fahren würde.
»Ich wüsste eine Schlagzeile für die Hirschlein «, meinte Simon, ohne den Blick von der Pressetante zu nehmen.
»Die wäre?«
»Feuerwehrfrau stürzt Feuerwehrmann in die Flammen der Leidenschaft!«
Sie boxte ihn am Oberarm. Er lachte.
»Du bist ein Spinner. Wäre aber ein guter Titel für einen Liebesroman.«
»Ja«, meinte er, »ich habe so meine Momente.«
»Darf ich fragen, was auf einmal anders ist? Ich meine, noch vor ein paar Tagen hattest du schon Panik, wenn wir auf der Wache nur zwei Sekunden nebeneinandergestanden sind, und nun …«
Er zog Marie hinter den Rettungswagen. Dort strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht, ließ seine Hände sanft über ihre Schultern gleiten und sah ihr tief in die Augen.
»Vielleicht habe ich heute so richtig erkannt, was du mir bedeutest. Nicht auszudenken, wenn dir etwas passiert wäre«, tadelte er mitfühlend. »Mach so etwas nie wieder, hörst du?«
Marie legte den Kopf zur Seite und musterte sein Gesicht.
»Tja, was machen Frauen nicht alles, um von ihrem Traummann gerettet zu werden«, sagte sie und lachte.
Simon kniff die Augen zusammen.
»Und was hättest du gemacht, wenn Leo dich gerettet hätte?«
»Lieber Simon, in dem Fall wären wir beide einfach gute Freunde geblieben. Schau ihn dir doch an. Er ist ja schon ein Schnuckelchen, wie er sich um die Hirschlein kümmert. Total verschwitzt und sieht immer noch gut aus. Wie macht er das bloß?«, frotzelte Marie und gab sich alle Mühe, ernst zu bleiben.
Simon warf ihr einen strengen Blick zu. Marie biss sich auf die Unterlippe, konnte jedoch bei diesem Anblick nicht länger innehalten und prustete los.
»Untersteh dich«, lachte er und zog sie näher zu sich heran.
Marie flüsterte. »Noch mal von vorne?«
»Noch mal von vorne«, bestätigte er ihren Vorschlag.
Dann endlich fanden ihre Lippen erneut zueinander. Er packte Marie an den Hüften und hielt sie so fest wie noch nie zuvor. Und sie wünschte sich, er würde sie nie wieder loslassen.
»Sorry, wenn ich störe …«
Schlagartig gingen ihre Köpfe auseinander. Günther stand neben ihnen.
»Ich weiß selbst, dass ich einen Fehler gemacht habe. Die Frau lebt und ich stehe auch noch hier. Was also gibt es denn noch?« Marie ging direkt zum Angriff über, bevor Günther auch nur einen weiteren Ton sagen konnte.
Simon hielt sich zurück. Wahrscheinlich bemerkte er gerade, dass sie sich auch gut alleine wehren konnte.
»Was ich eigentlich sagen wollte«, meinte Günther in ruhigem Ton, »es tut mir leid, wenn ich da vorhin ein wenig in Rage geraten bin. Auch wenn es wirklich sehr unvernünftig von dir war, wollte ich dir noch sagen, dass du das gut gemacht hast. Ja … das wollte ich eigentlich sagen.«
Marie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Günther sah zu Simon und nickte einmal.
Simon erwiderte das Nicken. So einfach ging das unter Männern.
Günther machte sich daran, wieder zu gehen.
»Günther?«
Er blieb stehen und sah über die Schulter zu ihr zurück.
»Ja?«
Marie lächelte ihn an. »Danke.«
Er lächelte zurück und stiefelte dann zu den anderen.
»Ich glaube, wir sollten auch wieder ran. Geht es bei dir?«, fragte Simon besorgt.
»Klar«, lachte Marie. »Seit dem letzten Kuss bin ich wie auf Droge. Wo hast du das denn gelernt?«
»Aus der ›Bravo‹«, meinte Simon mit ernster Miene. »Damals, mit vierzehn. Und die Uschi aus meiner Klasse, ich sage dir, die konnte …«
Sie boxte ihn. »Untersteh dich und rede weiter.«
Dann machten sie sich auf den Weg zu Bernhard, Erik und den anderen.
Als sie an der Hirschlein vorbeikamen, hörten sie, wie die Journalistin Leo in die Mangel nahm.
»Können Sie bestätigen, dass der Feuerdämon ein weiteres Mal zugeschlagen hat?«
»Tut mir leid, aber zum jetzigen Zeitpunkt kann ich Ihnen dazu leider keine Auskunft geben. Uns liegen nur Informationen vor, wonach die Brandursache im Erdgeschoss zu suchen ist. Alles Weitere wird erst die Brandermittlung ergeben«, erklärte Leo möglichst sachlich, um die wissbegierige Reporterin zufriedenzustellen.
»Du wirst heute auch noch ein paar Interviewfragen beantworten müssen«, sagte Simon etwas ernster zu Marie.
»Was meinst du?«
»Ich sage nur ein Wort: Schiller.«
Marie ging kurz in sich und ließ die letzten Wochen Revue passieren. Schiller, der ihr von Anfang an Steine in den Weg gelegt hatte. Doch sie stand immer noch. Vielleicht war sie ein paarmal ins Straucheln gekommen … aber jedes Mal hatte sie sich wieder gefangen. Und: sie hatte ihren Traummann gefunden, der nun endlich zu ihr stand. Was also konnte ihr jetzt noch passieren?
Marie setzte ihren Helm auf und sah Simon an. »Weißt du was?«
»Was denn?«
»Dieser Schiller … der kann mich mal!«