Kapitel 3
Dita isst ihre Rübensuppe ganz langsam, weil sie dann angeblich besser sättigt, aber auch das Schlürfen kann den Hunger nicht vertreiben und lenkt sie kaum ab. In den verschiedenen Gruppen löffeln die Lehrer ihre Suppe und erörtern dabei das unkluge Verhalten des leichtfertigen Professors Morgenstern.
»Ein seltsamer Mann, manchmal redet er viel, und dann wieder mit niemandem.«
»Besser wär’s, er würde den Mund halten. Er redet ja doch nur Unsinn. Er ist vollkommen übergeschnappt.«
»Ein trauriger Anblick, wie er vor dem Priester gebuckelt hat.«
»Man kann ihn wohl kaum als Widerstandskämpfer bezeichnen.«
»Ich weiß nicht, wie Hirsch es verantworten kann, dass ein Mann die Kinder unterrichtet, der nicht alle Tassen im Schrank hat.«
Dita hört aus einiger Entfernung zu und verspürt Mitleid mit dem älteren Mann, der sie ein wenig an ihren Großvater erinnert. Er sitzt hinten in der Baracke auf einem Schemel, ganz allein, und redet mit sich selbst, während er den Löffel feierlich zum Mund führt und dabei den kleinen Finger abspreizt mit einer Geziertheit, die in diesem Viehstall völlig deplatziert ist, so, als würde er mit lauter Adligen speisen.
Der Nachmittag vergeht wie üblich mit Spielen und Sport für die Kinder, aber Dita wünscht sich, der Tag wäre schon vorbei und es wäre Zeit für den täglichen Appell, damit sie zu ihren Eltern zurücklaufen kann. Im Familienlager verbreiten sich die Nachrichten schnell von einer Baracke zur nächsten, aber wie bei der stillen Post wird die Botschaft dabei verzerrt.
Sobald es möglich ist, eilt sie davon, um ihre Mutter zu beruhigen, die womöglich schon von der Inspektion in 31 gehört hat; wer weiß, was man ihr erzählt hat. Als sie über die Lagerstraße läuft, kommt ihr ihre Freundin Margit entgegen. »Ditinka, ich habe gehört, dass ihr in
der 31 eine Inspektion hattet!«
»Der ekelhafte Priester!«
»Musst du immer so viele Schimpfwörter benutzen?«, fragt ihre Freundin, wobei sie ein Lächeln nicht unterdrücken kann.
»Ekelhaft ist kein Schimpfwort, es ist die Wahrheit. Er ist nun einmal widerlich! Wie kann etwas ein Schimpfwort sein, wenn es doch wahr ist?«
»Haben sie etwas gefunden? Ist jemand verhaftet worden?«
»Weder noch, es gibt dort nichts zu finden.« Sie zwinkert ihrer Freundin zu. »Mengele war auch da.«
»Dr. Mengele? Du lieber Gott! Da habt ihr aber Glück gehabt. Über den erzählt man sich schlimme Dinge. Er ist vollkommen verrückt. Er hat sechsunddreißig Kindern blaue Tinte in die Pupillen gespritzt, um Menschen mit blauen Augen zu bekommen. Es ist furchtbar, Ditinka. Einige sind an der Infektion gestorben, und andere sind blind geworden.«
Beide schweigen. Margit ist Ditas beste Freundin und weiß über ihre Arbeit in der geheimen Bibliothek Bescheid, doch Dita hat sie gebeten, ihrer Mutter nichts zu erzählen. Die würde es ihr mit Sicherheit verbieten wollen, sie würde sagen, es sei zu gefährlich, womöglich würde sie anfangen zu weinen, und sie würde damit drohen, alles ihrem Vater zu erzählen. Nein, es ist besser, wenn es niemand erfährt. Auch ihr Vater nicht, der sehr stark abgebaut hat. Um das Thema zu wechseln, erzählt sie Margit unter Gelächter von dem Vorfall mit Professor Morgenstern.
»Das war vielleicht ein Wirbel! Du hättest sehen sollen, was für ein Gesicht der Priester gemacht hat, als ihm beim Bücken immer alles aus den Taschen gefallen ist.«
»Ich kenne ihn, ein sehr alter Mann im Nadelstreifenanzug, der sich immer verbeugt, wenn er einer Frau begegnet. Und weil es hier davon so viele gibt, wirkt er wie eine von diesen Puppen mit einer Sprungfeder im Kopf. Ich glaube, bei dem ist eine Schraube locker.«
»Ist das hier nicht bei allen so?«
Als Dita ankommt, sieht sie ihre Eltern draußen vor der Längsseite der Baracke sitzen. Es ist kalt, aber innen ist es den beiden zu voll. Sie sind sichtlich müde, vor allem ihr Vater.
Die Tage sind lang. Aufstehen vor dem Morgengrauen, dann folgt ein
überlanger Zählappell im Freien und anschließend Zwangsarbeit in den Werkstätten, den ganzen Tag lang. Ihr Vater stellt Riemen her, mit denen man Gewehre schultern kann, oft hat er schwarze Hände und Blasen an den Fingern wegen der giftigen Harze und Pigmente, die dabei verwendet werden. Ihre Mutter arbeitet in einer Mützenfabrik, die Arbeit dort ist erträglicher. Es sind viele Stunden, und das bei karger Kost, aber wenigstens können sie sitzen und müssen nicht draußen sein. Manche Leute haben weniger Glück: diejenigen, die die Leichen auf die Wagen mit den Toten hieven müssen, diejenigen, die die Latrinen säubern, die Leute, die die Gräben entwässern, oder die Arbeitertrupps, die das Material transportieren.
Ihr Vater zwinkert ihr zu, und ihre Mutter steht rasch auf, als sie sie sieht. »Geht es dir gut, Edita?«
»Ja doch.«
»Lügst du mich auch nicht an?«
»Aber nein! Siehst du mich etwa nicht?«
In diesem Augenblick kommt Herr Tomásek vorbei. »Hans, Liesl! Wie geht es euch? Wie ich sehe, hat eure Tochter immer noch das schönste Lächeln in ganz Europa.«
Dita murmelt mit rotem Kopf, dass sie noch mit Margit mitgeht, und die beiden Mädchen lassen die Erwachsenen allein.
»Herr Tomásek ist wirklich liebenswürdig!«
»Kennst du ihn etwa auch, Margit?«
»Ja, er besucht meine Eltern oft. Hier denken viele ja nur an sich, aber Herrn Tomásek liegen die Leute am Herzen. Er fragt sie, wie es ihnen geht, er interessiert sich für ihre Angelegenheiten.«
»Und er hört ihnen zu …«
»Er ist ein guter Mensch.«
»Zum Glück gibt es auch Menschen, die in dieser Hölle noch nicht innerlich verfault sind.«
Margit verstummt. Obwohl sie zwei Jahre älter ist, stößt sie sich oft an Ditas Direktheit, aber sie weiß, dass diese recht hat. Die Pritschennachbarinnen klauen einem Löffel, Kleidung oder andere Dinge. Kindern wird das Brot gestohlen, sobald ihre Mütter nicht aufpassen, jede Bagatelle wird den Kapos zugetragen, nur für einen Löffel mehr Suppe. Auschwitz tötet nicht nur die Unschuldigen, sondern auch die Unschuld.
»Dass deine Eltern bei dieser Kälte hier draußen sind, Dita. Werden sie sich da nicht eine Lungenentzündung holen?«
»Meine Mutter will den Kontakt mit der Frau vermeiden, mit der sie sich den Strohsack teilt. Die hat viele schlimme Flöhe … wenn auch nicht schlimmer als meine!«
»Aber ihr habt Glück, ihr schlaft auf den oberen Pritschen. Wir sind alle auf den unteren.«
»Da wird es vom Boden her sicher oft feucht.«
»Ach, Ditinka. Schlimm ist nicht die Feuchtigkeit von unten, sondern die, die ab und zu von oben kommt. Manchmal wird es einer von deinen Nachbarinnen da oben schlecht, und sie übergeben sich, ohne vorher hinzusehen. Und manche haben Ruhr und verrichten ihr Geschäft von oben. Im Strahl, Ditinka. Ich habe es bei einigen gesehen.«
Dita bleibt einen Augenblick stehen und dreht sich ernst zu ihr um. »Margit?«
»Was ist?«
»Du könntest dir zum Geburtstag doch einen Regenschirm wünschen!«
Ihre Freundin, die zwei Jahre älter und größer ist, aber dennoch ein kindliches Gesicht hat, schüttelt den Kopf. Ihre Mutter hat recht, Dita ist schrecklich – sie macht einfach über alles Witze!
»Wie seid ihr eigentlich an die Plätze dort oben gekommen?«, fragt sie.
»Du weißt doch, was für ein Chaos im Lager herrschte, als unser Transport im Dezember ankam.«
Die beiden schweigen einen Moment. Die älteren Insassen, die seit September da sind, waren nicht nur Tschechen, sondern auch Bekannte, Freunde, sogar Verwandte von denen, die wie sie aus dem Getto Theresienstadt deportiert wurden. Aber niemand hatte sich über die Neuankömmlinge gefreut. Fünftausend neue Lagerinsassen bedeutete, sich das Rinnsal aus den Wasserhähnen teilen zu müssen, es bedeutete, dass die Zählappelle im Freien kein Ende mehr nehmen und dass die Baracken weiterhin überfüllt sein würden.
»Als meine Mutter und ich in die Baracke kamen, der wir zugeteilt wurden, und das Bett mit einer von den Älteren teilen wollten, war das vielleicht ein Chaos.«
Margit nickt erneut. Auch sie erinnert sich an die Streitereien in ihrer Baracke, an das Geschrei und die Zankereien der Frauen um eine Decke oder ein schmutziges Kissen. »In meiner Baracke«, erklärt Margit, »war eine sehr kranke Frau, die unaufhörlich hustete, und als sie sich auf einen Strohsack setzen wollte, hat die Besitzerin sie hinuntergeschubst. Die Frau hat dann noch mehr gehustet und versucht, sich aufzurappeln. ›Ihr nutzlosen Dinger!‹, hat die Kapo sie angeschrien. ›Glaubt ihr etwa, ihr wärt gesund? Meint ihr wirklich, es spielt eine Rolle, ob ihr euch mit einer Kranken das Bett teilt?‹«
»In dem Fall war das eine vernünftige Kapo.«
»Ach wo! Danach hat sie einen Stock genommen und Schläge verteilt. Sie hat auch nach der Frau geschlagen, die hingefallen war und für die sie vorgeblich Partei ergriffen hatte.«
Dita, die sich noch gut an das Durcheinander aus schreienden, rennenden und weinenden Menschen erinnert, spricht weiter: »Meine Mutter wollte erst mal raus, bis in der Baracke etwas Ruhe eingekehrt sein würde. Draußen war es kalt. Eine Frau sagte, es gäbe nicht genug Pritschen, auch nicht, wenn wir sie uns alle teilten, und manche Frauen würden auf dem Erdboden schlafen müssen.«
»Was habt ihr da gemacht?«
»Na ja, du weißt ja, wie meine Mutter ist, sie macht nicht gern Aufhebens von sich. Sie würde nicht mal schreien, wenn die Straßenbahn sie überfährt, nur damit die Leute nicht reden. Aber ich war mit meinen Nerven am Ende, also habe ich sie nicht um Erlaubnis gefragt. Sie hätte mich nicht gelassen. Ich habe mich losgerissen und bin hineingerannt, bevor sie etwas sagen konnte. Und da ist mir dann etwas aufgefallen …«
»Was denn?«
»Die oberen Betten waren fast alle belegt. Dadurch wurde mir klar, dass es oben besser sein musste. Ich wusste zwar nicht genau, wieso, aber an einem Ort wie diesem muss man darauf achten, was die tun, die sich auskennen.«
»Ich habe eine von den Älteren gesehen, die sich den Platz auf der Pritsche bezahlen ließ. Eine Frau hat sich ihren Platz auf der Pritsche mit einem Apfel erkauft.«
»Ein Apfel ist ein Vermögen«, erwidert Dita. »Die kannte sich wohl mit den Preisen nicht aus. Du kannst schon gegen einen halben Apfel
alle möglichen Gefälligkeiten eintauschen.«
»Hattest du denn etwas zum Tauschen?«
»Nein. Ich habe geschaut, welche Insassin noch keine Bettnachbarin hatte. Auf den Betten, in denen schon zwei schliefen, saßen die Frauen und ließen die Beine herunterbaumeln, um ihr Revier zu markieren. Ein paar Frauen von unserem Transport liefen herum und hielten nach den weniger Abgestumpften Ausschau, um einen Platz auf deren Strohsack zu ergattern. Aber die Freundlichen von den Älteren hatten schon Bettnachbarinnen akzeptiert.«
»Uns erging es genauso«, erzählt Margit. »Zum Glück trafen wir am Ende eine Nachbarin aus Theresienstadt, die uns geholfen hat, meiner Mutter, meiner Schwester und mir.«
»Ich kannte niemanden. Und ich brauchte nicht nur einen Platz, sondern zwei.«
»Hast du irgendwann eine mitleidige Insassin gefunden?«
»Es war zu spät. Es waren nur noch die Egoisten und die Rabiaten übrig. Weißt du, was ich gemacht habe?«
»Keine Ahnung.«
»Ich habe mir die Schlimmste von allen gesucht.«
»Warum?«
»Weil ich verzweifelt war. Irgendwann stieß ich auf eine Insassin mittleren Alters. Sie hatte so kurze Haare, dass es aussah, als hätte man sie ihr abgebissen, und saß auf ihrer Pritsche in der obersten Reihe, mit trotziger Miene. Mitten im Gesicht eine schwarze Narbe. An der blauen Tätowierung auf dem Handrücken sah man, dass sie im Gefängnis gewesen war. Eine Frau kam auf sie zu, und sie schlug sie mit Geschrei in die Flucht. Sie versuchte sogar, mit ihren schmutzigen Füßen nach ihr zu treten. Die waren vielleicht riesig und krumm!«
»Und was hast du gemacht?«
»Ich habe mich frech vor sie hingestellt und gesagt: ›He, Sie!‹«
»Ach, hör doch auf, das nehme ich dir nicht ab. Das hast du dir doch ausgedacht. Du siehst eine Insassin, die wie eine Kriminelle aussieht, und obwohl du sie überhaupt nicht kennst, sagst du einfach ›He, Sie!‹ zu ihr?«
»Wer hat gesagt, dass es einfach war? Ich habe mir vor Angst fast in die Hosen gemacht! Aber zu so einer Frau kannst du nicht hingehen und sagen: ›Guten Abend, Gnädigste, meinen Sie, dass die Aprikosen
dieses Jahr rechtzeitig reif werden?‹ Da würdest du dir nur einen Tritt einfangen! Um sie zum Zuhören zu bringen, musste ich ihre Sprache sprechen.«
»Und sie hat dir zugehört?«
»Zuerst hat sie mich angesehen, als wollte sie mich umbringen. Ich muss kreideweiß im Gesicht gewesen sein, aber ich habe versucht, mir nichts anmerken zu lassen. Ich habe ihr erzählt, die Kapo würde die Frauen, die noch keinen Schlafplatz hatten, gerade auf die Betten verteilen: Draußen sind noch zwanzig oder dreißig Frauen, und mit Pech können Sie jede kriegen. Zum Beispiel eine sehr dicke, die Sie zerquetschen würde. Und eine, deren Atem schlimmer riecht als ihre Füße. Und dann gibt’s da noch diese alten Frauen, die Verdauungsprobleme haben und stinken.«
»Dita, du bist schrecklich! Und, was hat sie gesagt?«
»Sie sah mich böse an. Obwohl diese Frau nicht mal freundlich dreinschauen könnte, wenn sie es wollte. Jedenfalls ließ sie mich weiterreden: ›Ich wiege weniger als fünfundvierzig Kilo. Sie werden im ganzen Transport niemanden finden, der so dünn ist. Ich schnarche nicht, ich wasche mich jeden Tag, und ich weiß, wann ich den Mund halten muss. Sie werden in ganz Birkenau keine so gute Bettnachbarin finden wie mich, nicht mal, wenn Sie mit der Lupe suchen.‹«
»Und dann?«
»Sie beugte sich zu mir vor und musterte mich, wie man eine Fliege mustert, von der man nicht weiß, ob man sie zerquetschen oder am Leben lassen will. Wenn mir die Beine nicht so sehr gezittert hätten, wäre ich weggerannt.«
»Gut, aber was hat sie gemacht?«
»Sie sagte: ›Klar schläfst du bei mir.‹«
»Dann bist du also damit durchgekommen!«
»Nein, nicht so schnell. Ich sagte: ›Sie sehen ja, dass ich als Schlafgenossin eine gute Partie bin, aber Sie kriegen mich nur, wenn Sie mir dabei helfen, dass meine Mutter auch eine von den oberen Pritschen bekommt.‹ Du kannst dir nicht vorstellen, wie wütend sie wurde! Dass eine kleine Göre ihr sagte, was sie tun sollte, gefiel ihr überhaupt nicht, so viel war klar. Aber ich sah, wie angewidert sie die Frauen betrachtete, die in die Baracke kamen. Weißt du, was sie mich allen Ernstes gefragt hat?«
»Was denn?«
»›Machst du ins Bett?‹ ›Nein, niemals‹, entgegnete ich. ›Umso besser‹, sagte sie mit ihrer rauen Wodkastimme. Dann drehte sie sich zu der Frau von der Nachbarspritsche um, die allein war.
›He, Koskovic‹, sagte sie, ›hast du nicht gehört, dass wir unsere Strohsäcke teilen sollen?‹ Die andere wollte sich drücken.«
»Und was hat deine Insassin gemacht?«
»Sie hatte noch mehr Argumente. Sie wühlte im Stroh ihrer Matratze herum und zog einen krummen Draht heraus, etwa eine Handbreit lang, mit sehr scharfer Spitze. Mit der einen Hand stützte sie sich auf die Pritsche ihrer Nachbarin, und mit der anderen stieß sie ihr den Draht in den Hals. Ich glaube, dieses Argument fand die andere schon überzeugender. Sie nickte heftig und riss die Augen vor Panik so weit auf, dass es so aussah, als würden sie ihr aus dem Gesicht fallen!« Dita lacht in sich hinein.
»Ich finde das überhaupt nicht lustig. Was für eine furchtbare Frau! Gott wird sie bestrafen.«
»Nun, der christliche Tapezierer aus dem Geschäft unter uns hat einmal gesagt, Gottes Wege wären manchmal krumm. Vielleicht zählt Draht ja auch. Ich bedankte mich und sagte: ›Ich heiße Dita Adlerova. Vielleicht können wir ja Freundinnen werden.‹«
»Und was hat sie gesagt?«
»Nichts. Wahrscheinlich fand sie, dass sie schon genug Zeit mit mir verschwendet hatte. Sie drehte sich mit dem Gesicht zur Wand und ließ mir kaum vier Fingerbreit Platz, um mich mit dem Kopf an ihr Fußende zu legen.«
Es ist die Zeit der abendlichen Essensausgabe, und sie verabschieden sich, um in ihre Baracken zurückzukehren. Die Nacht ist hereingebrochen, und nur die orangeroten Lichter erhellen das Lager. Dita sieht zwei Kapos, die sich vor der Tür von einer der Baracken unterhalten. Sie erkennt sie an der besseren Kleidung, an den braunen Armbinden für die besonderen Häftlinge und an dem Dreieck, an dem man sieht, dass sie keine Juden sind. An dem roten Dreieck erkennt man die politischen Häftlinge, von denen viele Kommunisten oder Sozialdemokraten sind. Das braune ist für die Zigeuner, das grüne für die gewöhnlichen Verbrecher und Straftäter. Das schwarze ist für die
Asozialen, die Zurückgebliebenen oder die Lesben. Die Homosexuellen tragen das rosa Dreieck. Kapos mit schwarzen oder rosa Dreiecken sieht man in Auschwitz nur selten, sie sind Häftlinge der untersten Kategorie, fast wie Juden. In BII
b ist die Ausnahme die Regel. Die beiden Kapos, die sich dort unterhalten, ein Mann und eine Frau, tragen ein schwarzes und ein rosa Dreieck. Vermutlich will hier sonst niemand mit ihnen reden. Sie berührt ihren gelben Stern und geht auf ihre Baracke zu, in Gedanken bei dem Stück Brot, das man ihr geben wird. Für sie ist es eine Delikatesse, die einzige feste Nahrung des Tages, denn die Suppe ist eine dünne Plörre, die höchstens taugt, um für eine Weile den Durst zu stillen.
Ein schwarzer Schatten, schwärzer als alle anderen, geht ebenfalls die Lagerstraße entlang, in die entgegengesetzte Richtung. Die Leute machen ihm Platz und treten beiseite, damit er vorbeigeht und nicht stehen bleibt. Man könnte glauben, es sei der Tod, und genauso ist es auch. In der Dunkelheit erklingt die Melodie des Walkürenritts
von Wagner. Dr. Mengele.
Als er bei Dita angelangt ist, will diese den Kopf senken und beiseitetreten, so wie die anderen. Aber der Offizier bleibt stehen und sieht sie an. »Dich suche ich.«
»Mich?«
Mengele betrachtet sie genau. »Ich vergesse niemals ein Gesicht.« Tödliche Ruhe liegt in seinen Worten. Wenn der Tod sprechen würde, er täte es in genau diesem eisigen Tonfall. Dita muss an den nachmittäglichen Vorfall in Block 31 denken. Wegen des Wortwechsels mit dem verrückten Professor ist der Priester am Ende nicht auf sie aufmerksam geworden, und sie hat geglaubt, sie wäre davongekommen. Aber sie hat die Rechnung nicht mit Dr. Mengele gemacht. Er stand zwar weiter weg, aber offenbar hat er sie gesehen. Seinem forensischen Blick kann unmöglich entgangen sein, dass sie an der falschen Stelle stand, dass ihr Arm über ihrer Brust lag, dass sie etwas festhielt. Sie kann es in seinen kalten Augen lesen, die, ungewöhnlich für einen Nazi, braun sind.
»Ich werde dich im Auge behalten. Auch wenn du mich nicht siehst, ich beobachte dich. Auch wenn du glaubst, ich könnte dich nicht hören, ich belausche dich. Mir entgeht nichts. Wenn du auch nur einen Millimeter von den Lagerregeln abweichst, werde ich davon erfahren,
und du wirst bei mir auf dem Autopsietisch landen. Autopsien am lebenden Objekt sind höchst aufschlussreich.« Er nickt, als würde er mit sich selbst reden. »Man sieht dann, wie das Herz die letzten Blutstöße in den Magen pumpt. Es ist ein außergewöhnliches Schauspiel.«
Mengele wirkt versonnen, er denkt an das perfekte Medizinlabor, das er sich im Krematorium II
eingerichtet hat, und wo er über die modernste medizinische Ausrüstung verfügt. Er liebt den roten Zementboden, genau wie den Seziertisch aus poliertem Marmor mit den Spülbecken in der Mitte und den Nickelarmaturen. Das ist sein Altar, geweiht der Wissenschaft. Er ist stolz darauf. Plötzlich fällt ihm ein, dass ein paar Zigeunerkinder darauf warten, dass er ein Experiment an ihren Schädeln zu Ende führt, und er entfernt sich mit langen Schritten, denn es wäre unhöflich von ihm, sie warten zu lassen.
Wie vom Donner gerührt bleibt Dita mitten im Lager stehen. Ihre dünnen Beine zittern. Eben noch war die Lagerstraße voller Menschen, aber jetzt ist sie allein. Alle sind in den Gassen des Lagers verschwunden. Niemand kommt zu ihr, um sie zu fragen, ob es ihr gut geht oder ob sie etwas braucht. Dr. Mengele hat sie gebrandmarkt. Ein paar Insassen, die geblieben sind und die Szene aus gebührender Entfernung beobachtet haben, haben Mitleid, weil sie so verängstigt und verwirrt ist. Eine der Frauen kennt sie sogar noch vom Sehen aus dem Getto Theresienstadt. Trotzdem gehen alle schneller und machen sich aus dem Staub. Überleben hat Priorität. Das ist eines der Gebote Gottes.
Dita kommt wieder zu sich und macht sich auf den Weg zu ihrer Gasse. Ob er sie wohl wirklich im Auge behalten wird? Aber die Antwort liegt in jenem eiskalten Blick. Während sie geht, wirbeln die Gedanken in ihrem Kopf durcheinander. Was soll sie jetzt nur tun? Am vernünftigsten wäre es, auf den Posten als Bibliothekarin zu verzichten. Wie soll sie auch die Bücher transportieren, wenn Dr. Tod ihr auf den Fersen ist? Er hat etwas Furchteinflößendes an sich, etwas ganz und gar nicht Normales. In den letzten Jahren hat sie viele Nazis kennengelernt, aber dieser hier ist anders. Sie spürt, dass er ein besonderes Talent für das Böse hat.
Sie sagt ihrer Mutter Gute Nacht, flüsternd, damit ihre Verstörung
nicht offensichtlich wird, und legt sich vorsichtig auf ihre Pritsche, den Kopf neben die stinkenden Füße der älteren Insassin. Ihr gewispertes »Gute Nacht« versickert in den Dachritzen. Sie kann nicht schlafen, aber sie kann sich auch nicht bewegen. Sie liegt ganz still, während die Gedanken in ihrem Kopf sich überschlagen. Mengele hat sie gewarnt. Und vielleicht ist das ein Privileg, denn weitere Warnungen wird es mit Sicherheit nicht geben. Beim nächsten Mal wird er ihr eine subkutane Nadel ins Herz bohren. Sie kann nicht weiter auf die Bücher von Block 31 aufpassen. Aber wie kann sie die Bibliothek aufgeben?
Wenn sie es tut, werden alle denken, dass sie Angst hat. Sie wird ihre Erklärungen vorbringen, die alle vernünftig und plausibel klingen. Jeder, der halbwegs bei Verstand ist, würde an ihrer Stelle das Gleiche tun. Aber sie weiß auch, dass sich Neuigkeiten in Auschwitz schneller verbreiten, als Flöhe von einer Pritsche zur nächsten springen. Wenn in der ersten Reihe jemand erzählt, dass ein Mann ein Glas Wein getrunken hat, dann ist bis zur letzten Reihe ein ganzes Fass daraus geworden. Das geschieht nicht aus Boshaftigkeit. Es sind alles anständige Frauen. Auch Frau Turnovská, eine nette Frau, die ihre Mutter gut behandelt, ist so. Nicht einmal sie kann ihre Zunge im Zaum halten.
Sie kann es jetzt schon hören: »Natürlich hat das Mädchen Angst bekommen …« Und sie werden es in diesem gönnerhaften Tonfall sagen, der Dita so sehr aufbringt, mit gespieltem Verständnis. Und das Schlimmste ist, dass irgendjemand immer gutmütig genug sein wird, um zu sagen: »Die Ärmste, es ist nur verständlich. Sie hat Angst bekommen. Sie ist doch noch ein Kind.«
Ein Kind?,
denkt Dita. Von wegen! Dafür müsste man erst mal eine Kindheit haben.