Kapitel 4
Eine Kindheit …
Es war eine dieser schlaflosen Nächte, als Dita sich ein Spiel ausdachte, um ihre Erinnerungen in Fotos zu verwandeln und ihren Kopf zu dem einzigen Album zu machen, das niemand ihr je nehmen konnte. Nachdem die Nazis in Prag einmarschiert waren, musste die Familie ihre Wohnung im »elektrischen Haus«, wie ihr Mietshaus wegen seiner besonders modernen Ausstattung genannt wurde, aufgeben. Dita liebte die Wohnung, die die modernste der Stadt war, mit einer Waschmaschine im Keller und mit einer Sprechanlage, um die sie von ihren Klassenkameraden glühend beneidet wurde. Als sie eines Tages aus der Schule kam, stand ihr Vater im Wohnzimmer, elegant wie immer in seinem grauen Anzug, doch ungewöhnlich ernst. Er eröffnete Dita, dass sie ihr wunderbares Apartment gegen eine Wohnung in der Nähe des Schlosses eintauschen würden, im Hradschin. »Die Wohnung ist heller als diese hier«, sagte er, ohne sie anzusehen. Er scherzte noch nicht einmal, so, wie er es sonst immer tat, um den Dingen die Spitze zu nehmen. Ditas Mutter blätterte in einer Zeitschrift und schwieg.
»Ich will aber nicht weg von hier!«, rief Dita.
Ihr Vater senkte betrübt den Kopf, und es war ihre Mutter, die von ihrem Stuhl aufstand, auf Dita zukam und ihr eine Ohrfeige versetzte, die einen deutlichen Abdruck auf ihrer Wange hinterließ.
»Aber Mama«, sagte Dita, eher verblüfft als verletzt, denn normalerweise erhob ihre Mutter kaum je die Stimme, »du hast doch immer gesagt, mit diesem Apartment sei ein Traum für dich wahr geworden …«
Liesl umarmte sie. »Es ist der Krieg, Edita. Es ist der Krieg.«
Ein Jahr später stand ihr Vater wieder im Wohnzimmer, im gleichen grauen Anzug. Inzwischen gab es bei der Sozialversicherung, wo er als
Anwalt arbeitete, immer weniger für ihn zu tun, und er verbrachte die Nachmittage oft zu Hause, wo er Landkarten studierte und seinen Globus kreisen ließ. Er erzählte Dita, dass sie in die Josephstadt umziehen würden. Der Reichsprotektor, der das Land jetzt regierte, hatte angeordnet, dass alle Juden dort wohnen sollten. Die dreiköpfige Familie musste zusammen mit den Großeltern in eine winzige, baufällige Wohnung in der Elišky-Krásnohorské-Straße umziehen, nahe der extravaganten Synagoge, die Dita gut kannte, weil ihr Vater ihr immer erzählte, es handle sich um spanische Architektur, wenn sie dort vorbeikamen. Inzwischen stellte Dita keine Fragen mehr und rebellierte auch nicht.
Es ist der Krieg, Edita, es ist der Krieg.
Und in dieser Abwärtsspirale, in die ihr altes Leben sich unwiderruflich verwandelte, kam schließlich an einem Nachmittag die Vorladung des Judenrats von Prag, in der man sie erneut zum Umzug aufforderte. Diesmal jedoch mussten sie Prag verlassen und nach Theresienstadt ziehen, ein Dorf, das früher einmal eine befestigte Militäranlage gewesen war und aus dem gerade ein jüdisches Getto wurde. Ein Getto, das Dita bei der Ankunft schrecklich fand, nach dem sie jetzt Heimweh hat und von dem es erneut weiter abwärts ging, bis sie im Schmutz und der Asche von Auschwitz angekommen waren, wo es nicht mehr weiter bergab ging … oder doch?
Nach jenem Winter 1939, mit dem alles begann, dem Jahr, das die stumme Parade der Nazis brachte wie ein Grippevirus, das die Wirklichkeit infizierte, begann die Welt um Dita herum zu bröckeln, erst langsam, dann immer schneller. Die Lebensmittelmarken, die Verbote – sie durften nicht mehr ins Café, sie durften nicht mehr zu den gleichen Zeiten einkaufen wie die anderen Bürger der Stadt, sie durften keine Radios mehr besitzen, durften nicht mehr ins Kino oder ins Theater, keine Äpfel mehr kaufen … Schließlich durften die jüdischen Kinder nicht mehr zur Schule. Auch das Spielen im Park war jetzt verboten. Es war, als wollten die Nazis den Kindern die Kindheit verbieten.
Doch das gelang ihnen nicht. Dita muss lächeln, als ihr ein Bild aus ihrem Fotoalbum in den Sinn kommt. Zwei Kinder, die Hand in Hand über den alten jüdischen Friedhof von Prag gehen, zwischen lauter Grabsteinen, auf denen kleine Steine liegen, damit der Wind die
darunterliegenden Zettel nicht davonträgt. Zusammenkünfte auf dem gut erhaltenen Friedhof aus dem 15. Jahrhundert hatten die Nazis nicht verboten. Einer von Hitlers ebenso minutiösen wie idiotischen Plänen bestand darin, die Synagoge und den Friedhof in ein Museum über die jüdische Rasse zu verwandeln, die bis dahin ausgerottet wäre. Ein anthropologisches Museum, in dem die Juden so etwas wie Dinosaurier sein würden, ein Relikt aus einer vergangenen Epoche, ein Museum, das die künftigen Schulkinder – die arischen natürlich – lustlos und neugierig besuchen würden.
Die jüdischen Kinder der Stadt, denen der Zutritt zu den Parks und den Schulen verboten war, hatten den alten Friedhof in einen Spielplatz verwandelt. Zwischen den Grabsteinen, die im Lauf der Jahrhunderte von Moos überwuchert worden waren, tollten Kinder umher.
Unter der Kastanie, verborgen hinter zwei schiefen, fast umgestürzten Grabsteinen zeigte Dita ihrem Schulfreund den Namen eines besonders großen Grabmals, auf dem »Jehuda Löw Ben Becalel« stand. Erik hatte keine Ahnung, wer das war, also gab sie ihm die Geschichte weiter, die ihr Vater ihr viele Male erzählt hatte, wenn er seine Kippa aufsetzte und sie über den Friedhof gingen. Judah war Rabbiner in der Prager Josefstadt, wo damals alle Juden leben mussten, genau wie jetzt gerade. Dort studierte er die Kabbala und versuchte einem Menschen aus Ton Leben einzuhauchen.
»Aber das ist doch unmöglich!«, unterbrach Erik sie lachend.
Dita lächelt bei der Erinnerung daran, wie sie auf den Trick ihres Vaters zurückgriff: Sie senkte die Stimme, brachte ihr Gesicht näher an seines und flüsterte röchelnd: »Der Golem.«
Erik erbleichte. Jeder in Prag hatte schon von dem riesigen Golem gehört, dem Ungeheuer aus Lehm. Dita erzählte, was sie von ihrem Vater wusste: Dem Rabbiner war es gelungen, das heilige Wort zu entschlüsseln, mit dem Jahwe seiner Schöpfung Leben einhauchte. Er formte eine kleine Lehmfigur und steckte ihr einen Zettel mit dem geheimen Wort in den Mund. Und die Skulptur wuchs und wuchs, bis sie zu einem Koloss mit Eigenleben wurde. Doch Rabbi Löw konnte sie nicht kontrollieren, und der Lehm-Mensch ohne Gehirn begann das Viertel zu verwüsten und Panik zu verbreiten. Er war ein unzerstörbarer Gigant, und es sah so aus, als wäre es unmöglich, ihn
zu vernichten. Es gab nur eine Möglichkeit: Man musste warten, bis er schlief, ihm unter Aufbietung allen Mutes die Hand in den Mund stecken, wenn er gerade schnarchte, und das Papier herausziehen, damit er sich wieder in eine leblose Statue verwandelte. Der Rabbi zerriss den Zettel mit dem magischen Wort in tausend Fetzen und begrub den Golem.
»Wo?«, fragte Erik gespannt.
»Das weiß niemand, es ist ein geheimer Ort. Und es heißt, wenn das jüdische Volk sich in Not befindet, wird ein von Gott erleuchteter Rabbi kommen, das magische Wort erneut entschlüsseln, und der Golem wird zurückkehren und uns retten.«
Erik sah Dita bewundernd an, weil sie so geheimnisvolle Geschichten wie die über den Golem kannte. Er strich ihr sanft mit den Fingern über das Gesicht und gab ihr im Schutz der dicken Friedhofsmauern heimlich einen unschuldigen Kuss auf die Wange.
Bei der Erinnerung daran muss Dita erneut lächeln.
Den ersten Kuss, so harmlos er auch sein mag, vergisst man nie, weil er die erste Zeile der Liebe auf eine noch leere Seite schreibt. Mit einem Schauer erinnert sie sich an die Freude, die sie an jenem Nachmittag empfunden hatte, und staunt darüber, wie die Fähigkeit zur Freude mitten in der Wüste des Krieges blühen kann. Erwachsene jagen oft vergeblich einem Glück nach, das sie niemals finden und das bei Kindern überall gedeiht.
Aber jetzt ist sie kein Kind mehr, und sie wird sich nicht wie ein Kind behandeln lassen. Sie wird die Bibliothek nicht aufgeben. Sie wird weitermachen, weil sie es muss. Genau das hat Hirsch gesagt: Man beißt die Zähne zusammen und schluckt seine Angst hinunter. Und macht weiter. Sie wird sich nicht beirren lassen … Diesen Gefallen wird sie ihnen nicht tun, weder den alten Giftspritzen noch dem satanischen Dr. Mengele. Soll er sie doch holen, wenn er sie aufschneiden will.
Dita macht die Augen auf, und in der Dunkelheit der Baracke verwandelt sich die Flamme ihres Stolzes in eine schwache Ölfunzel. Sie hört Husten, Schnarchen, das Stöhnen einer Frau, die wahrscheinlich Schmerzen hat. Vielleicht will sie ja nur nicht wahrhaben, dass es ihr gar nicht darum geht, was die anderen Insassen über sie sagen, ob das nun Frau Turnovská ist oder
irgendjemand anders. Nein, in Wahrheit geht es ihr darum, was Fredy Hirsch von ihr denken würde.
Vor ein paar Tagen hat sie zugehört, als er mit den älteren Kindern von der Leichtathletikmannschaft redete, die nachmittags um die Baracke laufen, bei Regen und Schnee, bei Kälte und Frost. Hirsch läuft mit ihnen, immer ganz vorn an der Spitze.
»Der stärkste Athlet ist nicht der, der als Erster im Ziel ist. Das ist nur der schnellste. Der stärkste ist derjenige, der aufsteht, wenn er hinfällt. Der nicht stehen bleibt, wenn er Seitenstechen hat. Der nicht aufgibt, wenn das Ziel noch weit weg ist. Wenn so ein Läufer ins Ziel kommt, hat er gewonnen, auch wenn er der Letzte ist. Manchmal kann man einfach nicht so schnell sein, weil die Beine zu kurz sind oder die Lunge nicht genug Sauerstoff fasst. Aber man kann sich immer dafür entscheiden, der Stärkste zu sein. Es hängt einzig und allein von einem selbst ab, vom eigenen Willen und davon, wie sehr man sich anstrengt. Ihr müsst für mich nicht die Schnellsten sein, aber ich verlange von euch, dass ihr die Stärksten seid.«
Dita weiß genau: Wenn sie ihm sagen würde, dass sie die Bibliothek aufgeben muss, würde er freundliche Worte finden, er würde höflich sein, sie sogar trösten … aber sie weiß nicht, ob sie seinen enttäuschten Blick ertragen könnte. In ihren Augen ist er unzerstörbar, genau wie der unbesiegbare Golem aus der jüdischen Sage, der sie eines Tages alle retten wird.
»Fredy Hirsch …« Sie sagt seinen Namen laut vor sich hin, um sich in dieser dunklen Nacht Mut zu machen.
Zwischen den Bildern in ihrem Kopf entdeckt sie eines, das vor ein paar Jahren in den hügeligen Feldern von Strašnice außerhalb von Prag entstanden ist. Dort, abseits der strengen Restriktionen der Stadt, konnten die Juden ein wenig freier atmen. Hier befand sich der Sportplatz von Hagibor.
Auf dem Bild ist es Sommer, es ist ein heißer Tag, etliche Jungen haben ihr Hemd ausgezogen. Sie sieht sich selbst in einem Kreis aus Kindern und Jugendlichen, in der Mitte drei Personen. Die eine ist ein stämmiger Junge von zwölf oder dreizehn Jahren, der eine Brille und ansonsten nur eine kurze weiße Hose trägt. In der Mitte verbeugt sich gerade ein Magier, der sich zuvor theatralisch als Borghini vorgestellt hat. Er ist elegant gekleidet, mit seinem Hemd, dem Jackett und der
gestreiften Krawatte. Auf der anderen Seite steht ein junger Mann, der Sandalen und bloß eine kurze Hose trägt, die seinen schlanken, muskulösen Körper zur Geltung bringt. Dita erfuhr damals, dass er Fredy Hirsch hieß und in Strašnice Freizeitaktivitäten für die Jugendlichen organisierte. Der Junge mit der Brille hält das Ende einer Kordel, der Magier fasst sie in der Mitte und Hirsch am anderen Ende. Dita erinnert sich noch an seine Haltung: die eine Hand an der Taille, mit einer gewissen Koketterie, während die andere ein Ende der Kordel hielt. Hirsch sah den Zauberkünstler an, sein Lächeln war ein wenig spöttisch.
Auch wenn sie ihn damals als sehr gut aussehend empfand, war es doch etwas anderes, das sie an ihm fesselte. Es waren nicht die markanten Gesichtszüge oder der durchtrainierte Körper, es waren seine eleganten Bewegungen, seine Art, sich zu artikulieren, der durchdringende Blick, mit dem er seine Zuhörer ansah, einen nach dem anderen, ohne jemanden auszulassen. Seine knappen Gesten hatten etwas Martialisches, waren aber zugleich harmonisch wie im klassischen Ballett. Er redete so enthusiastisch und malte ihnen so verlockend aus, wie sie auf den Golanhöhen spazieren gehen würden, er machte sie so stolz darauf, Juden zu sein, dass es schwer war, nicht zu seiner Gruppe gehören zu wollen. Er redete nicht wie ein Rabbiner, er war sehr viel leidenschaftlicher und viel weniger orthodox. Vielleicht war es sein Äußeres, das ihn weniger wie einen Mann der Kirche wirken ließ, sondern eher wie einen Oberst, der seine jugendlichen Truppen um sich scharte, ein Heer, das sich von seinen Worten einlullen ließ.
Die Vorführung begann, und der tapfere Borghini begegnete der zerstörerischen Gewalt des Krieges mit seinen kleinen Zaubertricks: die bunten Tücher aus seinem Ärmel gegen Kanonen, Pik-Asse gegen Jagdbomber. Die Magie siegte wundersamerweise, nach ein paar Augenblicken, in denen sich auf den Gesichtern Staunen und Erheiterung malte.
Ein resolutes Mädchen kam auf Dita zu, ein Bündel Flugblätter in der Hand, und reichte ihr eines davon. »Willst du nicht bei uns mitmachen? Wir organisieren Sommer-Camps am Fluss Orlice bei Bezprávi. Dort treiben wir Sport und stärken den jüdischen Geist. Auf dem Flugblatt steht mehr darüber.«
Ihr Vater war nicht begeistert. Dita hatte ihn zu ihrem Onkel sagen hören, wie wenig er davon hielt, dass sie Sport trieb und sich mit Politik beschäftigte. Man munkelte, dass dieser Hirsch mit den Kindern Guerilla spielte, dass sie Schützengräben aushoben und so taten, als würden sie von dort aus schießen, und dass er sie im Nahkampf unterrichtete, als wären sie ein kleines Heer.
Unter Hirsch als Befehlshaber würde Dita ganz bestimmt in den Schützengraben steigen. Sie steckt sowieso schon viel zu tief in dieser Sache drin. Sie alle sind Juden, für andere schwer zu knacken. Das gilt für sie genauso wie für Hirsch. Sie wird die Bibliothek nicht aufgeben … aber sie wird in Zukunft höllisch aufpassen, sie wird vier Ohren und acht Augen haben, auf die Schatten achten, in denen Mengele sich bewegt, damit sie nicht geschnappt wird. Sie ist nur ein vierzehnjähriges Mädchen, das der mächtigsten Vernichtungsmaschinerie der Menschheitsgeschichte gegenübersteht, aber sie wird sich nicht fügen. Diesmal nicht. Sie wird ihnen die Stirn bieten. Ganz gleich, was passiert.
Dita ist nicht die einzige Person im Lager, die nicht in den Schlaf findet. Als Blockältester von Block 31 genießt Fredy Hirsch das Privileg eines eigenen Raums, noch dazu in einer Baracke, in der er der einzige Bewohner ist. Nachdem er eine Weile über seinen Berichten gesessen hat, verlässt er seine Kammer und bleibt in der Stille stehen. Das Stimmengewirr des Tages ist verstummt, wie auch die Lieder. Sobald die Kinder davonstürmen, wird die Schule wieder zu einer primitiven Holzbaracke.
»Sie sind das Beste, was wir haben«, sagt er zu sich selbst. Ein weiterer Tag, der überstanden ist, eine weitere Inspektion. Jeder vergangene Tag ist eine gewonnene Schlacht. Seine breite Sportlerbrust sinkt in sich zusammen, und er steht mit hängenden Schultern da, als hätte ihm jemand die Luft abgelassen. Ermattet lässt er sich auf einen Schemel sinken und schließt die Augen. Plötzlich merkt er, wie müde er ist. Er ist erschöpft, aber das darf niemand erfahren. Er ist ein Anführer. Er hat nicht das Recht, mutlos zu sein. Sie vertrauen ihm, er darf sie nicht enttäuschen. Wenn sie wüssten …
Er lügt ihnen allen etwas vor. Wenn seine Bewunderer herausfinden, wer er wirklich ist, würden sie ihn hassen.
Um seine Erschöpfung zu überwinden, steht er auf, lässt sich auf alle
viere herab und macht ein paar Liegestützen. In seinen Sportgruppen erzählt er den Kindern immer, dass Anstrengung die Müdigkeit vertreibt. Auf und ab, auf und ab.
Die Pfeife, die er immer um den Hals trägt, schlägt rhythmisch auf den gestampften Erdboden. Sein Geheimnis zu wahren fühlt sich an wie eine Eisenkugel, die er an einer Kette an seinem Fußknöchel mit sich herumschleppt, aber er weiß, dass es nötig ist, genauso wie er die Zähne zusammenbeißen muss, wenn seine Arme bei den Liegestützen schmerzen. Er muss sich weiter auf und ab bewegen. Das metallische Klappern der Pfeife auf dem Fußboden darf nicht aufhören. Zähne zusammenbeißen. Auf und ab.
»Schwäche ist Sünde«, flüstert er, schon ziemlich außer Atem. Die Wahrheit macht die Menschen frei, denkt er. Die Wahrheit zu sagen verschafft einem Respekt, so verhalten sich die Mutigen. Aber genauso trifft es zu, dass die Wahrheit manchmal alles zerstört, was sie berührt. Also beißt er weiter die Zähne zusammen und beginnt eine weitere Serie Liegestützen, und während ihm der Schweiß den Rücken hinabrinnt, denkt er, dass es vielleicht auch ein Akt des Großmuts ist, die schmutzige Wahrheit für sich zu behalten und dieses Brennen allein zu ertragen, damit nicht andere sich verbrennen. Großmut oder Feigheit? Vielleicht fürchtet er ja, die Bewunderung zu verspielen, die er sich so hart verdient hat? Er beschließt, nicht länger darüber nachzudenken. Lieber zählt er weiter Liegestützen und beißt die Zähne zusammen.
Für Fredy ist aus diesem Grund der Sport niemals Aufopferung, sondern stets Befreiung gewesen. In Aachen, wo er 1916 zur Welt kam und nahe der deutschen Grenze zu Belgien und Holland aufwuchs, gingen alle Kinder zu Fuß zur Schule. Er war der Einzige, der immer rannte, die Fibel und das Schreibheft als Bündel an einem Riemen über seiner Schulter. Die Händler in der Straße wollten manchmal wissen, wieso er es denn so eilig habe, und er grüßte dann höflich, ohne sein Tempo zu verlangsamen. Es ging ihm nicht um Pünktlichkeit, und er hatte es auch nicht eilig, er rannte einfach gerne. Wenn ihn ein Erwachsener fragte, warum er immer im Trab unterwegs war, antwortete er, Gehen mache ihn müde, Rennen dagegen nie.
Wenn er dann im Laufschritt auf dem Vorplatz vor dem Haupteingang der Schule ankam, nutzte er seinen Schwung, um wie bei
einem Hindernislauf über die Bank zu springen, auf der sich zu dieser Stunde keine alten Leute sonnten. Er träumte von einer Laufbahn im Profisport und erzählte seinen Schulfreunden bei jeder Gelegenheit davon.
Als er zehn war, zerbrach seine Kindheit mit ihren wilden Läufen und dem Fußballspielen im Viertel durch den Tod seines Vaters in tausend Scherben. Auf seinem Schemel in der Baracke versucht Fredy, sich seinen Vater vorzustellen, aber der Zement seiner Erinnerung war damals noch zu weich. Am deutlichsten erinnert er sich an die Lücke, die sein Vater hinterließ, die so schrecklich schmerzte und die nie wieder gefüllt wurde. Noch heute spürt er oft diese Einsamkeit, selbst wenn er inmitten von Menschen ist.
Nach dem Tod seines Vaters hatte er immer weniger Kraft zum Laufen. Er fand keinen Spaß mehr daran und verlor allen Lebensmut. Seine Mutter musste jetzt den ganzen Tag arbeiten, und damit er nicht immer allein zu Hause war und mit seinem älteren Bruder stritt, meldete sie ihn im Jüdischen Pfadfinderbund Deutschland an, mit einer Sportabteilung, die den Namen Makkabi Hatzair trug.
Es roch nach Lauge, als er zum ersten Mal das weitläufige und ein wenig verwahrloste Gelände betrat, an dessen Tür eine Hausordnung angebracht war. Daran erinnert er sich noch deutlich, und er hat auch nicht vergessen, dass er mit den Tränen kämpfte. Aber im JPD
fand der kleine Fredy Hirsch nach und nach die Wärme, die ihm in der leeren Wohnung mit der fast immer abwesenden Mutter und ohne seinen Vater fehlte. Hier fand er seinen Platz in der Welt. In der Kameradschaft, den Brettspielen an Regentagen und den Ausflügen, bei denen immer eine Gitarre dabei war und stets Geschichten über die israelischen Märtyrer erzählt wurden. Das Fußballspielen, der Basketball, das Sackhüpfen und die Leichtathletik wurden sein Rettungsanker. Samstags, wenn alle zu Hause bei ihren Familien blieben, ging er allein auf den Sportplatz, um ein paar Bälle in die rostigen Basketballkörbe zu werfen, oder er machte endlose Sit-ups, bis sein Hemd tropfnass war. Das harte Training vertrieb seine Sorgen und ließ seine Unsicherheit verschwinden. Wenn er sich auf diese Aufgaben konzentrierte, dachte er an gar nichts, war beinahe glücklich und vergaß, dass er seinen Vater verloren hatte, als er ihn am meisten gebraucht hätte.
Seine Mutter heiratete ein weiteres Mal, und als Fredy heranwuchs, fühlte er sich im JPD
-Heim mehr zu Hause als in seinem Elternhaus. Nach der Schule ging er stets direkt dorthin, und es gab immer eine Ausrede, um spätabends nach Hause zu kommen: Sitzungen des Vorstands – dem er angehörte –, Ausflüge, die organisiert werden mussten, Wettkämpfe, Reparaturen auf dem Gelände … Aber je älter er wurde, desto schlechter kam er mit den Gleichaltrigen zurecht, von denen die wenigsten etwas mit seinem mystischen Zionismus anfangen konnten, durch den die Heimkehr nach Palästina zu seiner Mission wurde, genauso wenig wie sie seine Leidenschaft teilten, zu jeder Tag- und Nachtzeit Sport zu treiben. Einige Male lud man ihn auf Feste ein, wo sich die ersten Paare fanden, aber Fredy fühlte sich dort nicht wohl und fand immer eine Ausrede, bis man ihn nicht mehr einlud.
Er entdeckte, dass er am meisten Freude daran hatte, die jüngsten Kinder zu trainieren und Wettkämpfe für sie zu veranstalten. Er machte seine Sache gut, und sein Enthusiasmus beim Volleyball- und Basketballtraining steckte seine Schüler an. Seine Mannschaften kämpften immer bis zum bitteren Ende.
»Los, los! Schneller, schneller!«, feuerte er die Kinder von der Seitenlinie aus an. »Wenn du dich nicht anstrengst, dann heul nachher auch nicht, wenn du verloren hast!«
Fredy Hirsch weint nicht. Niemals.
Auf und ab. Auf und ab. Auf und ab.
Nur seine harten Muskeln weinen Tränen aus Schweiß, während sie sich immer wieder anspannen und locker lassen, bis er mit seinen Liegestützen fertig ist. Dann steht Fredy zufrieden auf. So zufrieden, wie ein Mann sein kann, der die Wahrheit verschweigt.